| # taz.de -- GEW-Landeschef zum Schulstart: „Das können wir uns nicht leisten… | |
| > In Niedersachsen fehlen zum Schulstart hunderte Lehrer:innen. Stefan | |
| > Störmer von der GEW warnt vor einer weiteren Überlastung der Lehrkräfte. | |
| Bild: Ist in Niedersachsen Mangelfach: Musik | |
| taz: Herr Störmer, nach Angaben des Bildungsministeriums sind zum | |
| Schulstart in Niedersachsen am Donnerstag mehrere hundert Stellen | |
| unbesetzt. Sie schätzen die Zahl der fehlenden Lehrkräfte sogar auf 8.000. | |
| Rechnet sich die Landesregierung den Personalmangel schön – oder wie kommen | |
| Sie auf so unterschiedliche Zahlen? | |
| Stefan Störmer: Der Personalmangel wird seit Jahrzehnten schöngerechnet. | |
| Vor ein paar Jahren haben wir zusammen mit der Universität Göttingen eine | |
| Arbeitszeitstudie durchgeführt und festgestellt, dass die Lehrkräfte in | |
| Niedersachsen deutlich zu viel arbeiten. Eine Arbeitskommission im | |
| Kultusministerium hat das übrigens bestätigt und eine Reform der | |
| Arbeitszeitverordnung vorgeschlagen. Legt man diese Daten zugrunde, kommt | |
| man auf die fehlenden 8.000 Lehrkräfte. Dazu fehlen noch 3.000 Fachkräfte | |
| aus dem pädagogischen und therapeutischen Bereich sowie der | |
| Schulsozialarbeit. | |
| Bildungsministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) musste im vergangenen | |
| Schuljahr die schlechteste Unterrichtsversorgung seit Beginn der | |
| Aufzeichnungen vor 20 Jahren hinnehmen. Wie wirkt sich der Personalmangel | |
| auf die Unterrichtsqualität aus? | |
| Wenn Personal fehlt, verteilt sich die Arbeit auf weniger Schultern. Das | |
| führt – wenn man keine Abstriche bei den Aufgaben machen möchte – zu einer | |
| enormen Zusatzbelastung. Wir beobachten schon seit Jahren, dass diese | |
| Belastung sehr hoch ist. Wenn sie noch weiter ansteigt, werden sich | |
| potenzielle Lehrkräfte zunehmend die Frage stellen, ob sie diesen Beruf | |
| noch ergreifen möchten. Wir beobachten, dass die Zahlen der | |
| Lehramtsanwärter:innen aktuell bereits zurückgehen. | |
| Am heutigen Mittwoch verkündet die Bildungsministerin, wie sie gegen den | |
| Personalmangel vorgehen möchte. Bekannt ist, dass sie unter anderem [1][die | |
| Hürden beim Quereinstieg abbauen und Einfachlehrkräfte] leichter anerkennen | |
| möchte. Was halten Sie davon? | |
| Die Maßnahmen sind in der jetzigen Situation sicher alle angezeigt, wir | |
| haben aber Zweifel an der Wirksamkeit. Nehmen Sie den Quereinstieg. Das | |
| sind Personen, die auch auf dem freien Arbeitsmarkt Jobs finden und nicht | |
| darauf angewiesen sind, an die Schulen zu gehen. Zum Teil werden sie | |
| woanders auch besser bezahlt. Dieser Pool ist nach meiner Auffassung | |
| ziemlich abgegrast. Der Anteil der Quereinsteiger:innen bei den | |
| Neueinstellungen betrug zuletzt auch nur 7 Prozent, also nicht gerade viel. | |
| Was bleibt also? Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat Anfang der Woche | |
| noch den freiwilligen Einsatz pensionierter Lehrkräfte ins Spiel gebracht. | |
| Wie realistisch finden Sie den Vorschlag? | |
| Wir wissen, dass drei Viertel der Lehrkräfte schon vor Eintritt ins | |
| Pensionsalter ausscheiden. Oft aus gesundheitlichen Gründen. Insofern kann | |
| ich mir schwer vorstellen, dass die Zahl der pensionierten Lehrkräfte, die | |
| wieder freiwillig an die Schulen zurückkommen, sehr groß sein kann. Man | |
| muss aber auch festhalten, dass die jetzige Landesregierung nicht allein | |
| die Schuld am dramatischen Personalmangel trägt. Das haben mehrere | |
| Landesregierungen vorher mit verschuldet. Es ist eine Fehlerkette über 15, | |
| 20 Jahre. | |
| Die Ständige Wissenschaftliche Kommission hat den Ministerien Anfang des | |
| Jahres empfohlen, in der akuten Personalkrise [2][die hohe Teilzeitquote] | |
| bei Lehrkräften zu senken. | |
| Die Teilzeitquote senkt man nicht durch Anordnung. Sondern indem man die | |
| Kolleg:innen in die Lage versetzt, das Arbeitspensum bewältigen zu | |
| können. Bei der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission klang es so, als ob | |
| das per Dekret verordnet werden könnte. Das wird kontraproduktiv sein. Die | |
| meisten Lehrkräfte gehen ja nicht in Teilzeit, weil sie Teilzeit arbeiten | |
| wollen, sondern weil sie sonst ihren Job nicht schaffen. Kolleg:innen, die | |
| reduzieren, sagen uns: Wenn ich Vollzeit arbeite, kann ich meinem Anspruch | |
| nicht gerecht werden. Statt über weitere Belastungen nachzudenken, muss die | |
| Politik den Beruf wieder attraktiver machen. | |
| Die sinkende Attraktivität des Berufs sieht man auch an der Statistik. In | |
| Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Referendar:innen zwischen 2012 | |
| und 2022 von 3.151 auf 2.373 zusammengeschmolzen. Was ist Ihre Erklärung | |
| dafür? | |
| Die jungen Kolleg:innen erleben die Arbeitsbelastung hautnah. Von | |
| Referendar:innen oder Studierenden, die zum ersten Mal ein | |
| Schulpraktikum machen, hören wir immer häufiger: Was ich hier erlebe, ist | |
| nicht mein Traumjob, bis zur Pension werde ich das nicht machen. Die hohe | |
| Abbrecherquote im Studium spricht eine deutliche Sprache. Offensichtlich | |
| hat sich herumgesprochen, dass der Job im schlimmsten Fall krank macht. | |
| Die GEW Niedersachsen hat im Sommer rund 600 Referendar:innen und | |
| frische Lehrkräfte zur Ausbildung befragt. Was sind die Ergebnisse? | |
| Bei den Referendar:innen berichtet mehr als die Hälfte von | |
| Angstzuständen und wünscht sich mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. | |
| Gleichzeitig meldet ein Großteil zurück, dass sie die Arbeit eigentlich | |
| gerne machen. Auch ein anderes Ergebnis hat uns ehrlicherweise sehr | |
| erschreckt: Eigentlich alle Kolleg:innen fühlen sich nach dem | |
| Referendariat schlecht auf den Lehrerjob vorbereitet. Offenbar bereitet das | |
| Referendariat vor allem auf die Abschlussprüfung vor – nicht auf den | |
| Berufsalltag. | |
| Referendar:innen kritisieren vor allem den ständigen Druck und [3][die | |
| vielen Lehr- und Unterrichtsproben]. Das Niedersächsische | |
| Bildungsministerium selbst spricht von vielen „stressbelasteten | |
| Prüfungssituationen“ im Referendariat, sieht aber keinen Handlungsbedarf. | |
| Diese Haltung kann ich absolut nicht nachvollziehen. Wir haben in unserer | |
| Rechtsberatung jede Woche mindestens zwei Fälle, in denen sich | |
| Referendar:innen an uns wenden, weil sie mit dem Druck nicht umgehen | |
| können. Diese Zahlen haben sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Das | |
| können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen dringend eine Reform der | |
| Ausbildung, um diese Leute zu halten. | |
| Wie sähe diese Reform konkret aus? | |
| Bisher haben wir ja drei Phasen der Ausbildung: Studium, Referendariat und | |
| dann eine dreijährige Probezeit. Wie das Unterrichten funktioniert, | |
| erlernen die Lehrkräfte erst so richtig in der Probezeit. Deshalb fordern | |
| wir, die Praxisanteile im Studium deutlich zu erhöhen, um den Praxisschock | |
| abzumildern. Gleichzeitig würden wir Referendariat und die Probezeit | |
| zusammenzulegen zu einer Einführungsphase. An deren Ende stünde dann aber | |
| nicht die Staatsprüfung, sondern eine Bewährungsfeststellung. | |
| Was wäre der Vorteil? | |
| Der Vorteil wäre, dass die angehenden Lehrkräfte bereits am Ende des | |
| Studiums auf eine Planstelle gehen können. In der Einführungsphase müsste | |
| es aber auch auch ein besseres Coaching für die Referendar:innen | |
| geben. | |
| Viele Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen-Anhalt | |
| testen mittlerweile das duale Studium, um angehende Lehrkräfte besser auf | |
| den Beruf vorzubereiten. Niedersachsen bisher nicht. Wären Sie dafür? | |
| Nicht unbedingt. Denn wenn die duale Ausbildung funktionieren soll, dann | |
| braucht es auch eine gute Betreuung vonseiten der Hochschulen. Dazu | |
| benötigen sie entsprechend viel Personal. | |
| Im Frühling hat die Landesregierung einen Schulgipfel einberufen. Wie gut | |
| stehen denn die Chancen für eine Reform des Lehramtes? | |
| Auf dem Schulgipfel haben wir Ideen ausgetauscht. Auch im Landtag wurde | |
| über eine Reform des Lehramts diskutiert. Laut Koalitionsvertrag soll sich | |
| die Ausbildung künftig nicht mehr nach Schulformen richten – sondern nach | |
| den verschiedenen Jahrgangsstufen. Wir begrüßen diese Idee, auch wenn die | |
| genaue Ausgestaltung offen ist. Wichtig ist, dass wir zügig in die | |
| Umsetzung kommen. Es ist offensichtlich, dass das Lehramt in der jetzigen | |
| Form seine Ziele verfehlt. | |
| 16 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Massnahmen-gegen-Lehrkraeftemangel/!5918498 | |
| [2] /Fehlende-Lehrkraefte-an-Schulen/!5915242 | |
| [3] /Lehrermangel/!5943187 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
| ## TAGS | |
| Personalmangel | |
| Schule | |
| Bildung | |
| Arbeitsbedingungen | |
| Gewalt in der Schule | |
| Bildung | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Wochenkommentar | |
| Schule | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Verbeamtung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Umgang mit Schulvermeidern: Willie will’s nicht wissen | |
| Niedersachsen pflegt die Wegsperrkultur: Schulvermeider bekommen häufiger | |
| Arrest als anderswo. Die Kultusministerin könnte das ändern. Wenn sie | |
| wollte. | |
| Bundesweiter Bildungsprotest: Die Bildungskrise des Kanzlers | |
| Am Samstag demonstrieren in 29 Städten Menschen für ein besseres | |
| Bildungssystem. Sie fordern 100 Milliarden – und einen aktiveren Kanzler. | |
| Staatliche Förderung für Studierende: Armutsfalle Studienkredit | |
| Die Förderbank KfW verlangt fast 8 Prozent Zinsen für Studienkredite. Für | |
| Zehntausende Studierende ist das ein Problem. Die Regierung handelt nicht. | |
| Schulstart in Berlin: Entlastung hier, mehr Aufgaben da | |
| An Berlins Schulen fehlen wieder Lehrer*innen. Die Bildungssenatorin will | |
| den Beruf attraktiver machen, doch ihre Maßnahmen bringen neue Belastungen. | |
| Lehrermangel: Die Schulabbrecher | |
| Zu viel Druck im Referendariat, starre Hierarchien, Kampf mit der | |
| Bürokratie. Warum jedes Jahr Hunderte angehende Lehrer ihre Ausbildung | |
| aufgeben. | |
| Anwerbung von Lehrkräften: Frau Mujčić soll es richten | |
| Schulen auf dem Land trifft der Personalmangel besonders hart. Das | |
| Gymnasium in Zerbst in Sachsen-Anhalt ist nun fündig geworden – per | |
| Headhunter. | |
| Maßnahmen gegen Lehrkräftemangel: Her mit den Lehrkräften! Aber wie? | |
| Zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels gehen die Länder teils | |
| unterschiedliche Wege. Doch welche Ideen gibt es, außer immer mehr | |
| Quereinsteiger:innen? |