| # taz.de -- Ein Quereinsteiger als Lehrer berichtet: Das Pochen am Hals | |
| > Schulen in Deutschland haben ein massives Problem: Immer mehr | |
| > Lehrer:innen geben auf. Können Quereinsteiger:innen die Lücken | |
| > füllen? | |
| Berlin taz | Ahmed versteht nicht, was er falsch gemacht hat. Er sagt, dass | |
| es ihm leidtut, aber ich glaube ihm nicht. Sein gesenkter Blick, die | |
| hochgezogenen Schultern: Alles Show, wie so oft. „Sorry, Herr Hain, | |
| wirklich.“ Ahmed wippt mit dem Fuß. Er will zurück zur Weihnachtsfeier, wo | |
| die Unterstufe zu Nina-Chuba-Songs herumsteht. | |
| Doch so einfach lasse ich ihn nicht davonkommen, nachdem er einen | |
| Fünftklässler vom Stuhl getreten hat. „Da musste ich doch Respekt | |
| bekommen“, sagt Ahmed. „Was hat das mit Respekt zu tun?“, frage ich. „W… | |
| ich der Ältere bin“, sagt Ahmed. Und dann darf ich mir von einem | |
| Sechstklässler anhören, was es heißt, ein Mann zu sein. | |
| Seit dem vergangenen Schuljahr bin ich [1][Vertretungslehrer an einer | |
| Gesamtschule in einer deutschen Großstadt]. Die Schule liegt in einem | |
| Viertel mit Hochhäusern, am Elternsprechtag fragen manche Eltern, ob sie | |
| die 20 Euro für die Klassenkasse erst im nächsten Monat bezahlen können. | |
| Den Namen der Schule werde ich nicht nennen. Mein Name, Ahmeds und alle | |
| weiteren Namen sind erfunden. | |
| Ich erzähle die Geschichte nicht, weil ich jemanden vorführen möchte – ich | |
| habe Respekt vor der Arbeit meiner Kolleg:innen und Sympathie für meine | |
| Schüler:innen. Ich erzähle die Geschichte, weil ich zeigen möchte, dass es | |
| so nicht weitergehen kann. | |
| Ich wollte nie Lehrer werden. Ich fand das langweilig, schon meine Eltern | |
| waren Lehrer. Ich wollte Journalist werden, also studierte ich | |
| Medienwissenschaften und arbeitete danach als Freiberufler. 2014 verliebte | |
| ich mich in eine Amerikanerin und wanderte mit ihr in die Staaten aus. Dort | |
| arbeitete ich als Fußballtrainer, später kam ein Job als Vertretungslehrer | |
| hinzu. | |
| In den Staaten braucht man dafür nur einen Bachelor, Fachrichtung | |
| irrelevant. Ich nahm an einer zweitägigen Schulung teil und konnte | |
| anschließend via Onlineportal Tagesjobs annehmen. Doch irgendwo zwischen | |
| Trump, Corona und Schicksalsschlägen litt meine Ehe und so stand ich nach | |
| fünf Jahren wieder bei Mama vor der Tür. Alles auf null mit Mitte dreißig. | |
| Ich entschied mich, das fortzuführen, was ich in den USA begonnen hatte, | |
| und bewarb mich auf [2][Vertretungsstellen für Quereinsteiger]. | |
| In Deutschland fehlen Lehrer:innen. 14.466 Stellen sollen unbesetzt sein, | |
| Tendenz steigend. Gründe gibt es viele. Da ist die Überalterung des | |
| Berufsstandes, 21 Prozent der Lehrer:innen sind 55 Jahre oder älter. | |
| Gleichzeitig wächst aufgrund von Zuwanderung und Geburtenzahlen die | |
| Schüler:innenschaft. Bis 2035 rechnet man bei der Agentur für Arbeit mit | |
| 900.000 mehr Schüler:innen als derzeit. | |
| Wer Lehrer:in werden will, für den gibt es gerade viele Möglichkeiten. | |
| [3][8,6 Prozent aller Lehrer:innen an deutschen Regelschulen waren 2022 | |
| Quereinsteiger:inne]n. 2011 hatten 40.000 Lehrer:innen an deutschen | |
| Schulen keine Lehramtsprüfung abgelegt, zehn Jahre später waren es schon | |
| 60.000. Dabei variiert die Quote stark: In Sachsen-Anhalt ist fast jede:r | |
| zweite Lehrer:in ein:e Quereinsteiger:in, in Bayern geht die Quote gegen | |
| null. | |
| Auch das Einstellungsprozedere, das jede:r Bewerber:in durchläuft, | |
| unterscheidet sich. Grundsätzlich legt die Kultusministerkonferenz fest, | |
| welche Qualifikationen nötig sind, um als Vertretungslehrer:in zu | |
| arbeiten. Gleichzeitig erlaubt die Kultusministerkonferenz | |
| „landesspezifische Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften“. | |
| Diese sollen sich zwar an die bundesweiten Standards halten, aber nur, wenn | |
| das möglich ist. Sprich: Die Standards werden überall dort herabgesetzt, wo | |
| die Not besonders groß ist. So braucht man üblicherweise einen | |
| Masterabschluss, „aus dem sich mindestens zwei lehramtsbezogene Fächer | |
| ableiten lassen“, um als Quereinsteiger:in zu unterrichten. In | |
| Brandenburg kann man derzeit bereits mit einem Bachelor verbeamtet werden. | |
| Auch mein Quereinstieg ist ein Beispiel dafür, wie stark die Standards | |
| variieren. Nach wenigen Bewerbungsschreiben – ohne einen Zwei-Fächer-Master | |
| – habe ich zwei Einladungen zum Interview. Beim zweiten bringt mich mein | |
| Geschlecht weiter. Bislang wurde die Klasse vornehmlich von Frauen | |
| unterrichtet. Weil sie zu zwei Dritteln aus Jungs besteht, denkt die | |
| Schulleitung, dass ihr ein Lehrer guttäte. | |
| Meine Erfahrungen als Fußballtrainer und Vertretungslehrer in den USA | |
| stechen Bewerber mit klassischem Lehramtsstudium aus, meine journalistische | |
| Ausbildung befähigt mich, Deutsch zu unterrichten, die fünf Jahre | |
| Auslandsaufenthalt reichen für Englisch. Als Quereinsteiger werde ich nach | |
| dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt, etwa 2.100 Euro pro Monat | |
| netto – ungefähr ein Drittel weniger, als ein ausgebildeter Lehrer bekäme. | |
| Nur wenige Tage nach dem Bewerbungsgespräch trete ich meinen Job als | |
| Klassenlehrer der 6b an. | |
| ## Herbst | |
| Die Schule ist ein tristes Gebäude mit flachem Dach und harten Kanten. Der | |
| Pausenhof besteht vor allem aus Matsch und Geröll, weswegen ich die Pausen | |
| gerne auch mal als „Freigang“ bezeichne. Auch drinnen herrscht alles andere | |
| als eine Wohlfühlatmosphäre. An den Wänden finden sich lieblose | |
| Schmierereien über genopptem, abwischbaren Linoleumboden. | |
| Im Lehrerzimmer stehen drei alte Computer, die an einen noch älteren | |
| Drucker angeschlossen sind, für den es keine Treiberaktualisierung mehr | |
| gibt. Einmal schickt uns die Schulleitung eine Mail mit der Bitte, in den | |
| Ferien nichts auf unseren Plätzen zu lassen. Wir haben Mäuse im Haus, die | |
| Kammerjäger seien bestellt. | |
| Mein erster Tag als Klassenlehrer beginnt damit, einen Stuhlkreis zu | |
| bilden. Doch Vincent und Ibrahim vergleichen lieber ihre neuen Frisuren. | |
| Cassandra wurde heute früh von ihrem Freund verlassen und muss getröstet | |
| werden. Mirko sagt, er muss auf die Toilette. Ich sage ihm, dass die letzte | |
| Pause vor 5 Minuten war. Lewis träumt. Isa klagt über Bauchschmerzen, aber | |
| sie will es „weiter aushalten“, und Toni rennt zur Tür, weil es geklopft | |
| haben soll. | |
| Als endlich fast alle sitzen, nennt Mehmet einen anderen Schüler ein | |
| „Hustenbonbon“, was ein Code ist für „Hurensohn“, wenn Lehrer mithöre… | |
| Daraufhin gibt es einen Tumult, und als der sich beruhigt hat, hat Ahmed | |
| damit begonnen, etwas zu essen. Er möge das bitte lassen, sage ich. „Aber | |
| ich habe in der Pause nichts gegessen“, sagt er. „Das ist nicht mein | |
| Problem“, antworte ich. „Wallah, gottlos“, schnaubt er zurück und die | |
| Klasse bricht in Gelächter aus. | |
| Alles am Lehrersein ist Beziehungsarbeit. Jede Klasse, jede Schülerin und | |
| jeder Schüler will wissen, mit wem sie es zu tun hat. Um das | |
| herauszufinden, werden wir Lehrer:innen getestet. Was wird von uns | |
| honoriert – und, besonders in der Klasse 6b: Was wird bestraft? Ich bin es | |
| gewohnt, anders Beziehungen aufzubauen: Wenn der Unterricht mal wieder | |
| nicht möglich ist, halte ich Vorträge zum respektvollen Umgang miteinander | |
| oder versuche dafür zu werben, dass auch die Schüler:innen selbst von | |
| einer weniger aggressiven Arbeitsatmosphäre profitieren würden – vergebens. | |
| Bei meinen Fußballmannschaften war ich mit dieser Strategie erfolgreicher, | |
| da hatten wir aber auch ein gemeinsames Ziel. | |
| Einer, der am stärksten seine Grenzen austestet, ist Vincent. Er ist | |
| intellektuell unterfordert und macht aus allem ein Spiel. Einmal kommt er | |
| erst nach 15 Minuten von der Toilette wieder, was mir nur auffällt, weil | |
| Jorge mich mehrfach fragt, ob er jetzt auch dürfe (Toilettenregel: immer | |
| nur eine Person gleichzeitig). Ich spreche Vincent darauf an, er erfindet | |
| Geschichten von kaputten Toiletten und Aufzügen. | |
| Ein anderes Mal haben Mehmet und Elias während einer Gruppenarbeit Streit. | |
| Als ich dazukomme, drängt mich Mehmet, den Streit für sie zu lösen. „Teil | |
| einer Gruppenarbeit ist es, sich als Gruppe zu organisieren“, antworte ich. | |
| „Ihr müsst das unter euch klären.“ Die Antwort: „Sie sagen also, dass i… | |
| ihn boxen soll?“ Für viele der Jugendlichen ist Gewalt die alleinige und | |
| allgegenwärtige Strategie. | |
| Das sind nur zwei Beispiele von vielen, aber es sind auch nicht so sehr die | |
| einzelnen Konfrontationen, sondern ihre Frequenz, die mich mürbe macht. | |
| „Überflutung“ nennt mein Vater dieses Gefühl. Und obwohl ich diese | |
| Beschreibungen schon von zu Hause kenne, komme ich mir jedes Mal wie eine | |
| Mimose vor, wenn ich von meiner Überforderung berichte. | |
| Schon in der zweiten Woche habe ich an Arbeitstagen [4][Panikattacken], | |
| meistens morgens. Aber ich schaffe es, mich nicht krank zu melden. Nur | |
| einmal, als mir die Bahn vor der Nase wegfährt, kann ich meine | |
| Fight-or-Flight-Impulse nicht mehr bändigen. Es treibt mich zurück nach | |
| Hause, wo ich mir die Augen ausheule, einen Wasserschaden erfinde und | |
| anschließend weiterheule. | |
| Ich komme mir von Tag zu Tag mehr wie ein Taugenichts vor. Und ich frage | |
| mich: Geht das allen so? Oder nur mir? Haben die ausgebildeten Lehrkräfte | |
| den Laden besser im Griff oder sind sie an all das nur mehr gewöhnt? | |
| Meine Co-Tutorin Antonia ist seit der fünften Klasse Lehrerin in der 6b, | |
| ich unterrichte gemeinsam mit ihr Englisch. Sie kommuniziert Lob mit | |
| mütterlicher Ergriffenheit und Kritik mit Enttäuschung. Offiziell sind wir | |
| Kollegen, aber es ist schnell klar, dass sie mich an die Hand nehmen soll. | |
| Bei ihr ist die Klasse verhältnismäßig still und arbeitswillig. Doch auch | |
| an ihr nagt die tagtägliche Überflutung. Sie war zuletzt häufig krank und | |
| fällt regelmäßig aus, auch daher die Doppelbesetzung. | |
| Ihre Kollegin Beate fehlt vollständig und auf unbestimmte Zeit mit Burnout. | |
| Für Beate bin ich eingestellt worden. Mit Antonia läuft der | |
| Englischunterricht ganz gut, auch wenn ich ihn leite. Dann aber geht sie | |
| aus der Klasse, und wenn die Jugendlichen für den Deutschunterricht aus der | |
| Fünfminutenpause zurückkommen, versinkt alles im Chaos. „Sie kennen dich | |
| noch nicht“, sagt Antonia. | |
| Von allen Seiten – Eltern, Kollegen, aber auch von mir selbst – höre ich | |
| immer wieder den gleichen Ratschlag: Nimm’s nicht persönlich. Es bleibt | |
| meist ein Versuch. Stattdessen schlafe ich schlecht bis gar nicht. Meinen | |
| Unterricht erlebe ich als Misserfolg. Selbst wenn es von | |
| Kolleg:innenseite immer wieder heißt, dass Dinge Zeit brauchen, man | |
| auf das meiste eh keinen Einfluss hat und so weiter. Aber um dies | |
| anzunehmen, reiht sich diese Erfahrung zu sehr ein in die Kette beruflicher | |
| und privater Niederlagen. | |
| Ich lese, dass es nicht nur mir so geht. [5][62 Prozent aller | |
| Lehrer:innen sagen laut Robert-Bosch-Umfrage], dass sie häufig oder | |
| sogar täglich körperlich erschöpft und müde sind. Ein Drittel klagt über | |
| Schlafstörungen. Wenn dies die Durchschnittswerte sind, müssen sie an | |
| unserer Schule höher liegen. Wir sind schließlich eine Problemschule, haben | |
| mehr Probleme zu lösen, bei gleichen Ressourcen. Unsere Klassen sind nicht | |
| kleiner, aber unsere Schüler:innen benötigen mehr. Ausgestattet sind wir | |
| dafür nicht. Sonderpädagogen sind in circa jeder fünften meiner 25,5 | |
| Wochenstunden mit mir im Unterricht. Für über 1.000 Schüler:innen haben | |
| wir zwei Sozialarbeiter:innen. | |
| „Wir konnten feststellen, dass die Berufszufriedenheit von Quer- und | |
| Seiteneinsteigern im Mittel niedriger ist als die von regulär ausgebildeten | |
| Lehrkräften“, schreibt Tim Fütterer, der die Pisa-Studie ausgewertet hat. | |
| Dazu passt, dass in den Regionen, in denen der Anteil der | |
| Quereinsteiger:innen am größten ist, auch die Abbruchquote am höchsten | |
| ist. In Sachsen-Anhalt, wo fast jeder zweite Lehrer Quereinsteiger ist, | |
| schmeißt fast jeder zweite hin. | |
| Mit der Zeit werden meine Panikattacken weniger, dafür setzt eine tiefe | |
| Müdigkeit ein. Kreative Unterrichtsvorbereitung habe ich aufgegeben und die | |
| Schulstunde als ewige Lotterie akzeptiert. Kurz vor Weihnachten stehe ich | |
| vor der Klasse und lasse Igor wiederholen, was die Aufgabe für den Rest der | |
| Stunde ist. Ich höre nicht zu, bin in Gedanken. Will die Klasse nur in die | |
| Arbeitsphase verabschieden und mich hinter meinem iPad verkriechen. | |
| Als Igor zu erzählen beginnt, merke ich, wie es in meinem Nacken pulsiert. | |
| Ein Pochen. Stress. Ganz tief eingegraben in meine Haut. „Gibt es dazu noch | |
| Fragen?“, sage ich wie im Autopiloten. Es ist, als ob sich der erste Schock | |
| gelegt hat und mein Körper erst jetzt dazu kommt, mir zu zeigen, dass es | |
| ihm nicht gut geht. Mit diesem Pochen, das von da an bleibt. | |
| ## Winter | |
| Einmal gehe ich durch den Pausenbereich, als Toni zusammen mit Freunden von | |
| der anderen Seite der Halle meinen Namen ruft. „Was gibt’s?“, frage ich, | |
| als Toni bei mir angekommen ist. „Sie haben einen richtigen Bierbauch | |
| bekommen, Herr Hain“, sagt Toni und kann gerade so sein Lachen | |
| unterdrücken. Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. „Sag mal, hast du | |
| sie noch alle?“, spucke ich aus und drehe mich um, ohne eine Antwort | |
| abzuwarten. Diese Szene sticht heraus; es gibt viele dieser alltäglichen | |
| Interaktionen, denen fast immer eine Portion Respekt fehlt. | |
| Woran liegt das? In den USA sitzen Schüler:innen an Einzeltischen, wir | |
| in Deutschland fragen sie nach ihren Wünschen für die Sitzordnung. In den | |
| USA haben Lehrer:innen feste Klassenräume, die sie nach ihren Wünschen | |
| gestalten. Es sind die Schüler:innen, die nach dem Klingeln den Raum | |
| wechseln. Sie sind beim Lehrer zu Gast, nicht umgekehrt. Als ich einer | |
| amerikanischen Freundin von meiner Situation erzähle, fragt sie: „Wie, | |
| Schüler in Deutschland reden im Unterricht?“ Ich brauche einen Moment, um | |
| die Grundsätzlichkeit ihrer Frage zu verstehen. | |
| Lebensraum – so heißt Schule an allen Ecken deutscher pädagogischer | |
| Diskussionen. Persönlichkeitsentwicklung hat Priorität. Auch in unserem | |
| Klassenzimmer hängen jene Klassenregeln, zu Beginn des Schuljahres lustlos | |
| und voller Rechtschreibfehler auf ein Plakat geschmiert. | |
| Ich empfinde sie nicht als Ausdruck eines Miteinanders. Sie sind ein | |
| Wunsch, der aber so weit von der Realität der Jugendlichen entfernt ist, | |
| dass er jede Bedeutung verliert. „Wir gehen respektvoll miteinander um“, | |
| steht da. Ich kann so etwas zwischen hundert Hustenbonbons, Blowjobgesten | |
| und sexualisierter Sprache nicht ernst nehmen. Und meine Schüler:innen | |
| genauso wenig. | |
| Laut einer Unicef-Studie von 2022 mit 16- bis 19-Jährigen sind deutsche | |
| Jugendliche im europäischen Vergleich mit ihrer Lebenssituation allgemein | |
| sehr unzufrieden. Einzig die Teenager:innen aus Bulgarien schätzen ihre | |
| Lage noch schlechter ein. Wobei die Tendenz bei den Bulgar:innen positiv | |
| ist, in Deutschland hat sich die Stimmung seit 2013 stetig verschlechtert. | |
| In dem englischen Klassenraum einer Freundin, die ich besuche, sehe ich | |
| keine Klassenregeln an der Wand, auch kein Klassenfoto und keine Pflanzen. | |
| Es ist ein funktionaler Raum wie in Amerika. Die Schüler haben weniger | |
| Freiheiten in diesen Schulen und sie fühlen sich – glaube ich – wohler | |
| damit. Ihnen werden Dinge abgenommen. | |
| Ich habe viele meiner Freunde aus Frankreich, England und den USA gefragt, | |
| und es scheint mir, als wenn kaum ein Land seinen Nachwuchs mehr nach | |
| seinen Befindlichkeiten fragt als Deutschland. Wer sich gut fühlt, erbringt | |
| bessere Leistungen, sagt das deutsche Schulsystem. Ich halte das für ein | |
| Missverständnis. Denn: Wer leistet, fühlt sich gut. | |
| In einer Arbeitsphase starrt Isa wieder mal ins Nichts. Ich bitte sie | |
| anzufangen, und sie sagt, wie fast immer, dass sie die Aufgabe nicht | |
| verstanden hat. „Hast du die Aufgabenstellung gelesen?“, frage ich. Sie | |
| verneint. „Dann lies sie nochmal und wenn dann noch Fragen sind … “ – | |
| „Lesen ist nicht so meins“, sagt sie. Die Aufgabenstellung ist keine 30 | |
| Wörter lang. Dahinter sitzt Lewis, der mir sein Blatt zeigt, nachdem ich | |
| ihm die Rückmeldung gegeben habe, dass er nach 20 Minuten Arbeitsphase noch | |
| nichts geschafft hat. „Doch!“, erwidert Lewis und tippt auf die Ecke rechts | |
| oben. Das Datum hat er notiert. Er meint das nicht sarkastisch. | |
| Es tut weh, meinen Schüler:innen immer wieder anzumerken, wie wenig sie | |
| von sich halten. Dass sie sich noch nicht mal zutrauen, 30 Wörter zu lesen, | |
| weswegen sie gar nicht erst anfangen. Mit etwas Nachdruck erklärt sich Isa | |
| die Aufgabe schließlich selbst, aber selbst die kleinste Hürde erscheint | |
| ihr erst mal wie ein unüberwindbares Hindernis. Unter all den | |
| Verweigerungen steckt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Hauptsache, | |
| Kontrolle behalten, selbst wenn es Kontrolle über das eigene Scheitern ist. | |
| Wer eine Aufgabe nicht anfängt, kann auch nicht falsch liegen. | |
| ## Frühling | |
| Als die Tage länger werden, machen sich meine Vorsätze des neuen Jahres | |
| bemerkbar. Ich arbeite an meiner Körpersprache und der Satz „Das diskutier | |
| ich nicht mit dir“ wird fester Bestandteil meines Unterrichts. Zudem | |
| bekommt der Unterricht eine gewisse Routine, und die erlaubt es mir, mehr | |
| zu variieren und spontane Lösungen zu entwickeln. So verbringen wir eine | |
| Schulstunde damit zu lernen, wie man eine Uhr mit Zeigern liest. | |
| Beim Thema „Sachlich berichten“ ging es eigentlich um W-Fragen, nur konnten | |
| viele Schüler:innen in dem zu bearbeitenden Cartoon nicht erkennen, wann | |
| sich der Vorfall abgespielt hatte. Die Uhr in einem der Bilder war keine | |
| digitale. Ich spüre eine seltene Konzentration im Raum. Als ob die Klasse | |
| endlich mal etwas mitbekommt, sich selbst dabei spürt, wie sie etwas lernt. | |
| Sie leistet. | |
| Ein anderes Mal lasse ich die ganze Klasse als Kollektivstrafe einen Text | |
| abschreiben. Nach kurzem Rumoren greifen alle zu Stift und Papier. Es ist | |
| still in der Klasse, jede:r ist konzentriert, wird vor dem Klingeln | |
| fertig. Es ist sinnentleertes Arbeiten, aber es ist Arbeiten und somit ein | |
| Erfolgserlebnis. Das Blatt ist voll, Lewis zeigt es mir. Das Datum ist | |
| sogar unterstrichen. | |
| In der 6b ist jede Form von Wissenserweiterung ein Erfolg. Auf der | |
| Klassenfahrt in London wird mich ein Schüler mit Blick auf die Themse | |
| fragen, ob dies der Fluss sei, der auch durch unsere Heimatstadt fließt, | |
| und ein anderes Mal werde ich gefragt, ob Adolf Hitler derjenige gewesen | |
| ist, der zuletzt gestorben ist. „Ach ne, das war die Queen!“, korrigierte | |
| sich die Schülerin schnell selbst. | |
| Ob meine Schüler:innen sämtliche Verben immer noch Tu-Wörter nennen, ist | |
| mir egal, solange sie diese im Text korrekt unterstreichen. Es geht an | |
| unserer Schule um andere Dinge als Lehrpläne. Dabei sind auch die kleinsten | |
| Erfolge eine schöne Erfahrung. Sie wären sogar genug, wenn sie nicht immer | |
| wieder von anderen Dingen überschattet werden würden. | |
| Kurz vor den Osterferien machen wir einen Ausflug. Auf dem Rückweg sitzt | |
| die Klasse aufgekratzt in der Bahn. [6][Eine obdachlose Frau steigt zu uns | |
| ins Abteil und bittet um Spenden]. Sie erzählt von ihrer Situation und dass | |
| sie nachts friert. „Mir ist auch kalt“, ruft es aus dem Pulk unserer | |
| Schüler:innen. Die Gruppe johlt, so wie sie es schon oft in meine Richtung | |
| getan hat. Die obdachlose Frau ist von dieser Reaktion überrascht und | |
| versucht mit den Schülerinnen zu diskutieren, doch die schimpfen jetzt im | |
| Pulk auf sie ein. Die Frau drückt sich gegen die Schiebetür und ringt mit | |
| den Tränen. In diesem Moment schäme ich mich, für diese Jugendlichen | |
| verantwortlich zu sein. | |
| Am nächsten Morgen scheitert mein Versuch, mit der Gruppe die Szene zu | |
| besprechen. „Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr gesehen habt, dass die Frau | |
| weint?“, frage ich in die Runde. Die Antwort besteht aus Verweigerung. | |
| Vincent findet einen Grund, sauer zu sein, und stürmt aus der Klasse. | |
| Toni hält einen Vortrag darüber, dass man Obdachlosen kein Geld geben | |
| dürfe, weil sie sich damit Drogen kaufen. Sein Vater habe ihm das erzählt. | |
| „Das war nicht die Frage“, sage ich, aber Toni redet weiter über Geld. Die | |
| letzten Tage vor den Ferien sind die schlimmsten des Jahres. Ich bin müde, | |
| zähle Tage, Stunden. Warum mache ich den Scheiß hier? Warum machen meine | |
| Kollegen das alles mit? Oder ist ihre Situation eine andere als meine? | |
| Die älteren Kolleg:innen erzählen viel davon, dass es früher besser war | |
| – [7][vor Covid] und vor allem vor Smartphones. Die jüngeren | |
| Kolleg:innen scheinen den Beruf bereits mit weniger Erwartungen | |
| angetreten zu haben. Die Mit-Quereinsteiger, mit denen ich Kontakt habe, | |
| erlebe ich als ähnlich vorsichtig und verunsichert wie mich. Eine | |
| Gemeinschaft, ein Quereinsteiger-Kollektiv sind wir nicht, dafür fehlt uns | |
| das Standing. | |
| Auf einer Lehrerkonferenz geht es um das Thema Unterbesetzung. Wir | |
| Quereinsteiger kriegen Applaus, wie die Krankenpfleger:innen vom | |
| Balkon. Mir ist es unangenehm. Weder erlebe ich meine Arbeit als Leistung, | |
| dafür klappt zu wenig, noch erlebe ich diese Form der Würdigung als | |
| positiv. | |
| Bezahlt mich halt besser, denke ich. Oder reduziert wenigstens die | |
| Klassengrößen, schafft Whiteboards und funktionierende Drucker an, | |
| repariert Heizungen und Vorhänge … Immer wenn ich meine Co Antonia zum | |
| Lachen bringen will, frage ich sie nach den Umzugsplänen der Schule. Die | |
| Pläne dafür lagen schon beim Architekten, bevor sie, Mitte 40, Lehrerin | |
| wurde. „Zur Rente vielleicht“, sagt sie dann. | |
| Das meiste, was mich beschäftigt, betrifft meine voll studierten | |
| Kolleg:innen genauso. Manchmal rollt eine:r mit den Augen aufgrund | |
| meiner fehlenden Ausbildung, einmal werde ich von einer Sonderpädagogin | |
| „Fachidiot“ genannt, nachdem eine von mir geplante Deutschstunde zu | |
| anspruchsvoll geriet. Meistens sind die Kollegen aber dankbar, dass es mich | |
| gibt. Eine Position weniger, die es zu ersetzen gilt. | |
| Wir alle tun, was wir können. Lehrer:in zu sein heißt, Löcher zu stopfen. | |
| Manch ein Kollege streckt einer Schülerin das Geld für die Klassenfahrt vor | |
| und wartet darauf bis heute. Andere machen Hausbesuche, haben Termine am | |
| Freitagabend mit dem Jugendamt oder organisieren bis tief in die Nacht Visa | |
| für die Englandfahrt. Das System [8][„Schule in Deutschland“] scheint immer | |
| gerade so vor dem Kollaps zu stehen. Aber nicht wegen der Lehrerschaft sind | |
| alle am Anschlag, sondern ihretwegen kommt es immer geradeso nicht zum | |
| Erliegen. | |
| Von alldem bekommt die Schüler- und Elternschaft nur wenig mit. | |
| Unausgesprochen haben wir gegenüber unseren Schüler:innen ein Ziel: | |
| Stabilität. Als Gegengewicht zu all den Brocken, all den unterschiedlichen | |
| Bedürfnissen, die die meisten in ihren jungen Jahren bereits mit sich | |
| herumschleppen. Allein in der 6b gibt es Jugendliche mit | |
| Lese-Rechtschreib-Schwäche, emotional-sozialer Schwäche, diagnostiziertem | |
| und nicht diagnostiziertem ADHS, Heimkinder, Kinder von Alkoholiker-Eltern, | |
| Kinder mit Geflüchtetenbiografien, Schüler:innen mit Gymnasialempfehlung | |
| und einige, denen eine Förderschule besser tun würde. Dazu kommt: Covid war | |
| gerade. Und die Pubertät ist im vollen Gange. | |
| Doch erst wenn es existenziell bedrohlich wird, schreiten wir ein. Wie bei | |
| Isa, die zu Hause verwahrlost. Sie kommt ohne Materialien, Essen und im | |
| Winter nur im T-Shirt zur Schule. Wenn sie frei hat, bleibt sie im Gebäude, | |
| und wenn sie erst zur zweiten Stunde da sein muss, steht sie um kurz vor | |
| acht vor der Tür und fragt, ob sie bei mir im Unterricht in der | |
| Parallelklasse sitzen dürfe. Ihre Freunde sind ihr Zuhause. Wir schalten | |
| das Jugendamt ein. | |
| ## Sommer | |
| Nach einem langen Montag schließe ich die Tür hinter mir ab und will gerade | |
| in den Feierabend gehen, als ich Cassandra, Isa und Miriam am Ende des | |
| Ganges sitzen sehe. „Ihr wollt noch nicht nach Hause?“, rufe ich ihnen über | |
| den Flur zu. „Nee“, sagt Cassandra, während sie die Kordel ihres | |
| Kapuzenpullovers zwischen ihren Fingern dreht. „Glauben Sie eigentlich an | |
| uns, Herr Hain?“, fragt sie. | |
| Eine Frage so direkt, wie sie Erwachsene nie stellen würden. Ich überlege, | |
| was ich ihr antworten soll. „Ich glaube, ihr habt noch gar nicht | |
| verstanden, welche Möglichkeiten ihr eigentlich habt“, fange ich an. | |
| Erstaunte Augen, Schweigen. Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. | |
| Ich versuche es anders: „Ich glaube, ihr seid alle ganz toll. Aber viele | |
| von euch wissen das gar nicht.“ „Wie sind wir toll?“, fragt Miriam. „Al… | |
| Lehrer verlassen uns immer. Erst Frau Meierhof, dann Herr Böllmann.“ – „… | |
| du glaubst, das liegt an euch?“, frage ich. Schulterzucken. „Also“, nehme | |
| ich erneut Anlauf, „pass auf, ihr seid ganz tolle Freundinnen, und das ist | |
| viel wert. Meine Frage ist nur, warum es euch so schwer fällt, im | |
| Unterricht auch so zu sein?“ | |
| Ich blicke zurück und erinnere mich an das Feedback meiner | |
| Hospitationsstunde, wenige Wochen nach Dienstantritt. In dieser waren meine | |
| Schüler:innen still gewesen und die Schulleitung legte mir dies als | |
| Haupterfolg aus. „Sie mögen dich, sie wollen, dass du Erfolg hast.“ | |
| Normalerweise ist die Beziehungsarbeit zwischen Lehrer- und Schülerschaft | |
| die Basis für Lernerfolg. Bei uns ist sie der Lernerfolg. Mehr lässt sich | |
| nicht erwarten. | |
| Wie das Ganze besser werden könnte? Geld. So viel und an so vielen Stellen | |
| wie möglich. Wer A (Inklusion) sagt, muss auch B (Finanzierung) sagen. | |
| Sodass meine Rolle als Vertretung und Lückenfüller obsolet werden würde. | |
| Kurz vor den Sommerferien sitzen Antonia und ich ein letztes Mal zusammen | |
| mit der 6b im Stuhlkreis und haben jenes Gespräch, das diese Klasse schon | |
| kennt. Antonia sagt: „Herr Hain und ich sind nächstes Jahr nicht mehr | |
| Tutorinnen dieser Klasse.“ Mit einem Mal ist es still im Raum. „Aber Sie | |
| sagten, Sie bleiben bei uns“, sagt Toni. „Die Schulleitung hat diese | |
| Entscheidung getroffen“, antwortet Antonia. „Aber es ist uns ganz wichtig, | |
| dass ihr wisst: Es liegt nicht an euch.“ Was man so sagt, um Schmerz zu | |
| lindern. In Momenten wie diesen wird deutlich: Alle Schüler:innen der 6b | |
| sind noch Kinder, auch wenn ihr Verhalten häufig anders wirkt. | |
| Zum Abschluss laden wir alle auf ein Eis ein. Als sie versorgt sind, stehen | |
| Antonia und ich etwas abseits und schauen dem Treiben zu. „Wie schnell die | |
| heute den Stuhlkreis aufgestellt haben“, sagt Antonia. „Ich glaube ja, dass | |
| das Einzige, was sich in diesem Jahr verändert hat, meine Ansprüche sind“, | |
| sage ich. „Ne, find ich nicht“, sagt Antonia: „Eigentlich kann diese Klas… | |
| alles außer Unterricht.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich zustimme, aber | |
| wenigstens hat das Pochen am Hals aufgehört. | |
| 17 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Mangel-an-Lehrkraeften/!5884142 | |
| [2] /Lehrerinnenmangel-in-Berlin/!5961221 | |
| [3] https://www.lehrer-news.de/blog-posts/statistisches-bundesamt-anteil-der-qu… | |
| [4] /Leben-mit-einer-Angststoerung/!5325096 | |
| [5] https://www.bosch-stiftung.de/de/presse/2022/06/repraesentative-umfrage-der… | |
| [6] /Obdachlosigkeit-und-Aufbruch/!5931604 | |
| [7] /Lockdownfolgen-von-Schuelerinnen/!5911234 | |
| [8] /Deutsches-Schulbarometer/!5961472 | |
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