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# taz.de -- Ein Quereinsteiger als Lehrer berichtet: Das Pochen am Hals
> Schulen in Deutschland haben ein massives Problem: Immer mehr
> Lehrer:innen geben auf. Können Quereinsteiger:innen die Lücken
> füllen?
Berlin taz | Ahmed versteht nicht, was er falsch gemacht hat. Er sagt, dass
es ihm leidtut, aber ich glaube ihm nicht. Sein gesenkter Blick, die
hochgezogenen Schultern: Alles Show, wie so oft. „Sorry, Herr Hain,
wirklich.“ Ahmed wippt mit dem Fuß. Er will zurück zur Weihnachtsfeier, wo
die Unterstufe zu Nina-Chuba-Songs herumsteht.
Doch so einfach lasse ich ihn nicht davonkommen, nachdem er einen
Fünftklässler vom Stuhl getreten hat. „Da musste ich doch Respekt
bekommen“, sagt Ahmed. „Was hat das mit Respekt zu tun?“, frage ich. „W…
ich der Ältere bin“, sagt Ahmed. Und dann darf ich mir von einem
Sechstklässler anhören, was es heißt, ein Mann zu sein.
Seit dem vergangenen Schuljahr bin ich [1][Vertretungslehrer an einer
Gesamtschule in einer deutschen Großstadt]. Die Schule liegt in einem
Viertel mit Hochhäusern, am Elternsprechtag fragen manche Eltern, ob sie
die 20 Euro für die Klassenkasse erst im nächsten Monat bezahlen können.
Den Namen der Schule werde ich nicht nennen. Mein Name, Ahmeds und alle
weiteren Namen sind erfunden.
Ich erzähle die Geschichte nicht, weil ich jemanden vorführen möchte – ich
habe Respekt vor der Arbeit meiner Kolleg:innen und Sympathie für meine
Schüler:innen. Ich erzähle die Geschichte, weil ich zeigen möchte, dass es
so nicht weitergehen kann.
Ich wollte nie Lehrer werden. Ich fand das langweilig, schon meine Eltern
waren Lehrer. Ich wollte Journalist werden, also studierte ich
Medienwissenschaften und arbeitete danach als Freiberufler. 2014 verliebte
ich mich in eine Amerikanerin und wanderte mit ihr in die Staaten aus. Dort
arbeitete ich als Fußballtrainer, später kam ein Job als Vertretungslehrer
hinzu.
In den Staaten braucht man dafür nur einen Bachelor, Fachrichtung
irrelevant. Ich nahm an einer zweitägigen Schulung teil und konnte
anschließend via Onlineportal Tagesjobs annehmen. Doch irgendwo zwischen
Trump, Corona und Schicksalsschlägen litt meine Ehe und so stand ich nach
fünf Jahren wieder bei Mama vor der Tür. Alles auf null mit Mitte dreißig.
Ich entschied mich, das fortzuführen, was ich in den USA begonnen hatte,
und bewarb mich auf [2][Vertretungsstellen für Quereinsteiger].
In Deutschland fehlen Lehrer:innen. 14.466 Stellen sollen unbesetzt sein,
Tendenz steigend. Gründe gibt es viele. Da ist die Überalterung des
Berufsstandes, 21 Prozent der Lehrer:innen sind 55 Jahre oder älter.
Gleichzeitig wächst aufgrund von Zuwanderung und Geburtenzahlen die
Schüler:innenschaft. Bis 2035 rechnet man bei der Agentur für Arbeit mit
900.000 mehr Schüler:innen als derzeit.
Wer Lehrer:in werden will, für den gibt es gerade viele Möglichkeiten.
[3][8,6 Prozent aller Lehrer:innen an deutschen Regelschulen waren 2022
Quereinsteiger:inne]n. 2011 hatten 40.000 Lehrer:innen an deutschen
Schulen keine Lehramtsprüfung abgelegt, zehn Jahre später waren es schon
60.000. Dabei variiert die Quote stark: In Sachsen-Anhalt ist fast jede:r
zweite Lehrer:in ein:e Quereinsteiger:in, in Bayern geht die Quote gegen
null.
Auch das Einstellungsprozedere, das jede:r Bewerber:in durchläuft,
unterscheidet sich. Grundsätzlich legt die Kultusministerkonferenz fest,
welche Qualifikationen nötig sind, um als Vertretungslehrer:in zu
arbeiten. Gleichzeitig erlaubt die Kultusministerkonferenz
„landesspezifische Sondermaßnahmen für die Gewinnung von Lehrkräften“.
Diese sollen sich zwar an die bundesweiten Standards halten, aber nur, wenn
das möglich ist. Sprich: Die Standards werden überall dort herabgesetzt, wo
die Not besonders groß ist. So braucht man üblicherweise einen
Masterabschluss, „aus dem sich mindestens zwei lehramtsbezogene Fächer
ableiten lassen“, um als Quereinsteiger:in zu unterrichten. In
Brandenburg kann man derzeit bereits mit einem Bachelor verbeamtet werden.
Auch mein Quereinstieg ist ein Beispiel dafür, wie stark die Standards
variieren. Nach wenigen Bewerbungsschreiben – ohne einen Zwei-Fächer-Master
– habe ich zwei Einladungen zum Interview. Beim zweiten bringt mich mein
Geschlecht weiter. Bislang wurde die Klasse vornehmlich von Frauen
unterrichtet. Weil sie zu zwei Dritteln aus Jungs besteht, denkt die
Schulleitung, dass ihr ein Lehrer guttäte.
Meine Erfahrungen als Fußballtrainer und Vertretungslehrer in den USA
stechen Bewerber mit klassischem Lehramtsstudium aus, meine journalistische
Ausbildung befähigt mich, Deutsch zu unterrichten, die fünf Jahre
Auslandsaufenthalt reichen für Englisch. Als Quereinsteiger werde ich nach
dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt, etwa 2.100 Euro pro Monat
netto – ungefähr ein Drittel weniger, als ein ausgebildeter Lehrer bekäme.
Nur wenige Tage nach dem Bewerbungsgespräch trete ich meinen Job als
Klassenlehrer der 6b an.
## Herbst
Die Schule ist ein tristes Gebäude mit flachem Dach und harten Kanten. Der
Pausenhof besteht vor allem aus Matsch und Geröll, weswegen ich die Pausen
gerne auch mal als „Freigang“ bezeichne. Auch drinnen herrscht alles andere
als eine Wohlfühlatmosphäre. An den Wänden finden sich lieblose
Schmierereien über genopptem, abwischbaren Linoleumboden.
Im Lehrerzimmer stehen drei alte Computer, die an einen noch älteren
Drucker angeschlossen sind, für den es keine Treiberaktualisierung mehr
gibt. Einmal schickt uns die Schulleitung eine Mail mit der Bitte, in den
Ferien nichts auf unseren Plätzen zu lassen. Wir haben Mäuse im Haus, die
Kammerjäger seien bestellt.
Mein erster Tag als Klassenlehrer beginnt damit, einen Stuhlkreis zu
bilden. Doch Vincent und Ibrahim vergleichen lieber ihre neuen Frisuren.
Cassandra wurde heute früh von ihrem Freund verlassen und muss getröstet
werden. Mirko sagt, er muss auf die Toilette. Ich sage ihm, dass die letzte
Pause vor 5 Minuten war. Lewis träumt. Isa klagt über Bauchschmerzen, aber
sie will es „weiter aushalten“, und Toni rennt zur Tür, weil es geklopft
haben soll.
Als endlich fast alle sitzen, nennt Mehmet einen anderen Schüler ein
„Hustenbonbon“, was ein Code ist für „Hurensohn“, wenn Lehrer mithöre…
Daraufhin gibt es einen Tumult, und als der sich beruhigt hat, hat Ahmed
damit begonnen, etwas zu essen. Er möge das bitte lassen, sage ich. „Aber
ich habe in der Pause nichts gegessen“, sagt er. „Das ist nicht mein
Problem“, antworte ich. „Wallah, gottlos“, schnaubt er zurück und die
Klasse bricht in Gelächter aus.
Alles am Lehrersein ist Beziehungsarbeit. Jede Klasse, jede Schülerin und
jeder Schüler will wissen, mit wem sie es zu tun hat. Um das
herauszufinden, werden wir Lehrer:innen getestet. Was wird von uns
honoriert – und, besonders in der Klasse 6b: Was wird bestraft? Ich bin es
gewohnt, anders Beziehungen aufzubauen: Wenn der Unterricht mal wieder
nicht möglich ist, halte ich Vorträge zum respektvollen Umgang miteinander
oder versuche dafür zu werben, dass auch die Schüler:innen selbst von
einer weniger aggressiven Arbeitsatmosphäre profitieren würden – vergebens.
Bei meinen Fußballmannschaften war ich mit dieser Strategie erfolgreicher,
da hatten wir aber auch ein gemeinsames Ziel.
Einer, der am stärksten seine Grenzen austestet, ist Vincent. Er ist
intellektuell unterfordert und macht aus allem ein Spiel. Einmal kommt er
erst nach 15 Minuten von der Toilette wieder, was mir nur auffällt, weil
Jorge mich mehrfach fragt, ob er jetzt auch dürfe (Toilettenregel: immer
nur eine Person gleichzeitig). Ich spreche Vincent darauf an, er erfindet
Geschichten von kaputten Toiletten und Aufzügen.
Ein anderes Mal haben Mehmet und Elias während einer Gruppenarbeit Streit.
Als ich dazukomme, drängt mich Mehmet, den Streit für sie zu lösen. „Teil
einer Gruppenarbeit ist es, sich als Gruppe zu organisieren“, antworte ich.
„Ihr müsst das unter euch klären.“ Die Antwort: „Sie sagen also, dass i…
ihn boxen soll?“ Für viele der Jugendlichen ist Gewalt die alleinige und
allgegenwärtige Strategie.
Das sind nur zwei Beispiele von vielen, aber es sind auch nicht so sehr die
einzelnen Konfrontationen, sondern ihre Frequenz, die mich mürbe macht.
„Überflutung“ nennt mein Vater dieses Gefühl. Und obwohl ich diese
Beschreibungen schon von zu Hause kenne, komme ich mir jedes Mal wie eine
Mimose vor, wenn ich von meiner Überforderung berichte.
Schon in der zweiten Woche habe ich an Arbeitstagen [4][Panikattacken],
meistens morgens. Aber ich schaffe es, mich nicht krank zu melden. Nur
einmal, als mir die Bahn vor der Nase wegfährt, kann ich meine
Fight-or-Flight-Impulse nicht mehr bändigen. Es treibt mich zurück nach
Hause, wo ich mir die Augen ausheule, einen Wasserschaden erfinde und
anschließend weiterheule.
Ich komme mir von Tag zu Tag mehr wie ein Taugenichts vor. Und ich frage
mich: Geht das allen so? Oder nur mir? Haben die ausgebildeten Lehrkräfte
den Laden besser im Griff oder sind sie an all das nur mehr gewöhnt?
Meine Co-Tutorin Antonia ist seit der fünften Klasse Lehrerin in der 6b,
ich unterrichte gemeinsam mit ihr Englisch. Sie kommuniziert Lob mit
mütterlicher Ergriffenheit und Kritik mit Enttäuschung. Offiziell sind wir
Kollegen, aber es ist schnell klar, dass sie mich an die Hand nehmen soll.
Bei ihr ist die Klasse verhältnismäßig still und arbeitswillig. Doch auch
an ihr nagt die tagtägliche Überflutung. Sie war zuletzt häufig krank und
fällt regelmäßig aus, auch daher die Doppelbesetzung.
Ihre Kollegin Beate fehlt vollständig und auf unbestimmte Zeit mit Burnout.
Für Beate bin ich eingestellt worden. Mit Antonia läuft der
Englischunterricht ganz gut, auch wenn ich ihn leite. Dann aber geht sie
aus der Klasse, und wenn die Jugendlichen für den Deutschunterricht aus der
Fünfminutenpause zurückkommen, versinkt alles im Chaos. „Sie kennen dich
noch nicht“, sagt Antonia.
Von allen Seiten – Eltern, Kollegen, aber auch von mir selbst – höre ich
immer wieder den gleichen Ratschlag: Nimm’s nicht persönlich. Es bleibt
meist ein Versuch. Stattdessen schlafe ich schlecht bis gar nicht. Meinen
Unterricht erlebe ich als Misserfolg. Selbst wenn es von
Kolleg:innenseite immer wieder heißt, dass Dinge Zeit brauchen, man
auf das meiste eh keinen Einfluss hat und so weiter. Aber um dies
anzunehmen, reiht sich diese Erfahrung zu sehr ein in die Kette beruflicher
und privater Niederlagen.
Ich lese, dass es nicht nur mir so geht. [5][62 Prozent aller
Lehrer:innen sagen laut Robert-Bosch-Umfrage], dass sie häufig oder
sogar täglich körperlich erschöpft und müde sind. Ein Drittel klagt über
Schlafstörungen. Wenn dies die Durchschnittswerte sind, müssen sie an
unserer Schule höher liegen. Wir sind schließlich eine Problemschule, haben
mehr Probleme zu lösen, bei gleichen Ressourcen. Unsere Klassen sind nicht
kleiner, aber unsere Schüler:innen benötigen mehr. Ausgestattet sind wir
dafür nicht. Sonderpädagogen sind in circa jeder fünften meiner 25,5
Wochenstunden mit mir im Unterricht. Für über 1.000 Schüler:innen haben
wir zwei Sozialarbeiter:innen.
„Wir konnten feststellen, dass die Berufszufriedenheit von Quer- und
Seiteneinsteigern im Mittel niedriger ist als die von regulär ausgebildeten
Lehrkräften“, schreibt Tim Fütterer, der die Pisa-Studie ausgewertet hat.
Dazu passt, dass in den Regionen, in denen der Anteil der
Quereinsteiger:innen am größten ist, auch die Abbruchquote am höchsten
ist. In Sachsen-Anhalt, wo fast jeder zweite Lehrer Quereinsteiger ist,
schmeißt fast jeder zweite hin.
Mit der Zeit werden meine Panikattacken weniger, dafür setzt eine tiefe
Müdigkeit ein. Kreative Unterrichtsvorbereitung habe ich aufgegeben und die
Schulstunde als ewige Lotterie akzeptiert. Kurz vor Weihnachten stehe ich
vor der Klasse und lasse Igor wiederholen, was die Aufgabe für den Rest der
Stunde ist. Ich höre nicht zu, bin in Gedanken. Will die Klasse nur in die
Arbeitsphase verabschieden und mich hinter meinem iPad verkriechen.
Als Igor zu erzählen beginnt, merke ich, wie es in meinem Nacken pulsiert.
Ein Pochen. Stress. Ganz tief eingegraben in meine Haut. „Gibt es dazu noch
Fragen?“, sage ich wie im Autopiloten. Es ist, als ob sich der erste Schock
gelegt hat und mein Körper erst jetzt dazu kommt, mir zu zeigen, dass es
ihm nicht gut geht. Mit diesem Pochen, das von da an bleibt.
## Winter
Einmal gehe ich durch den Pausenbereich, als Toni zusammen mit Freunden von
der anderen Seite der Halle meinen Namen ruft. „Was gibt’s?“, frage ich,
als Toni bei mir angekommen ist. „Sie haben einen richtigen Bierbauch
bekommen, Herr Hain“, sagt Toni und kann gerade so sein Lachen
unterdrücken. Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. „Sag mal, hast du
sie noch alle?“, spucke ich aus und drehe mich um, ohne eine Antwort
abzuwarten. Diese Szene sticht heraus; es gibt viele dieser alltäglichen
Interaktionen, denen fast immer eine Portion Respekt fehlt.
Woran liegt das? In den USA sitzen Schüler:innen an Einzeltischen, wir
in Deutschland fragen sie nach ihren Wünschen für die Sitzordnung. In den
USA haben Lehrer:innen feste Klassenräume, die sie nach ihren Wünschen
gestalten. Es sind die Schüler:innen, die nach dem Klingeln den Raum
wechseln. Sie sind beim Lehrer zu Gast, nicht umgekehrt. Als ich einer
amerikanischen Freundin von meiner Situation erzähle, fragt sie: „Wie,
Schüler in Deutschland reden im Unterricht?“ Ich brauche einen Moment, um
die Grundsätzlichkeit ihrer Frage zu verstehen.
Lebensraum – so heißt Schule an allen Ecken deutscher pädagogischer
Diskussionen. Persönlichkeitsentwicklung hat Priorität. Auch in unserem
Klassenzimmer hängen jene Klassenregeln, zu Beginn des Schuljahres lustlos
und voller Rechtschreibfehler auf ein Plakat geschmiert.
Ich empfinde sie nicht als Ausdruck eines Miteinanders. Sie sind ein
Wunsch, der aber so weit von der Realität der Jugendlichen entfernt ist,
dass er jede Bedeutung verliert. „Wir gehen respektvoll miteinander um“,
steht da. Ich kann so etwas zwischen hundert Hustenbonbons, Blowjobgesten
und sexualisierter Sprache nicht ernst nehmen. Und meine Schüler:innen
genauso wenig.
Laut einer Unicef-Studie von 2022 mit 16- bis 19-Jährigen sind deutsche
Jugendliche im europäischen Vergleich mit ihrer Lebenssituation allgemein
sehr unzufrieden. Einzig die Teenager:innen aus Bulgarien schätzen ihre
Lage noch schlechter ein. Wobei die Tendenz bei den Bulgar:innen positiv
ist, in Deutschland hat sich die Stimmung seit 2013 stetig verschlechtert.
In dem englischen Klassenraum einer Freundin, die ich besuche, sehe ich
keine Klassenregeln an der Wand, auch kein Klassenfoto und keine Pflanzen.
Es ist ein funktionaler Raum wie in Amerika. Die Schüler haben weniger
Freiheiten in diesen Schulen und sie fühlen sich – glaube ich – wohler
damit. Ihnen werden Dinge abgenommen.
Ich habe viele meiner Freunde aus Frankreich, England und den USA gefragt,
und es scheint mir, als wenn kaum ein Land seinen Nachwuchs mehr nach
seinen Befindlichkeiten fragt als Deutschland. Wer sich gut fühlt, erbringt
bessere Leistungen, sagt das deutsche Schulsystem. Ich halte das für ein
Missverständnis. Denn: Wer leistet, fühlt sich gut.
In einer Arbeitsphase starrt Isa wieder mal ins Nichts. Ich bitte sie
anzufangen, und sie sagt, wie fast immer, dass sie die Aufgabe nicht
verstanden hat. „Hast du die Aufgabenstellung gelesen?“, frage ich. Sie
verneint. „Dann lies sie nochmal und wenn dann noch Fragen sind … “ –
„Lesen ist nicht so meins“, sagt sie. Die Aufgabenstellung ist keine 30
Wörter lang. Dahinter sitzt Lewis, der mir sein Blatt zeigt, nachdem ich
ihm die Rückmeldung gegeben habe, dass er nach 20 Minuten Arbeitsphase noch
nichts geschafft hat. „Doch!“, erwidert Lewis und tippt auf die Ecke rechts
oben. Das Datum hat er notiert. Er meint das nicht sarkastisch.
Es tut weh, meinen Schüler:innen immer wieder anzumerken, wie wenig sie
von sich halten. Dass sie sich noch nicht mal zutrauen, 30 Wörter zu lesen,
weswegen sie gar nicht erst anfangen. Mit etwas Nachdruck erklärt sich Isa
die Aufgabe schließlich selbst, aber selbst die kleinste Hürde erscheint
ihr erst mal wie ein unüberwindbares Hindernis. Unter all den
Verweigerungen steckt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Hauptsache,
Kontrolle behalten, selbst wenn es Kontrolle über das eigene Scheitern ist.
Wer eine Aufgabe nicht anfängt, kann auch nicht falsch liegen.
## Frühling
Als die Tage länger werden, machen sich meine Vorsätze des neuen Jahres
bemerkbar. Ich arbeite an meiner Körpersprache und der Satz „Das diskutier
ich nicht mit dir“ wird fester Bestandteil meines Unterrichts. Zudem
bekommt der Unterricht eine gewisse Routine, und die erlaubt es mir, mehr
zu variieren und spontane Lösungen zu entwickeln. So verbringen wir eine
Schulstunde damit zu lernen, wie man eine Uhr mit Zeigern liest.
Beim Thema „Sachlich berichten“ ging es eigentlich um W-Fragen, nur konnten
viele Schüler:innen in dem zu bearbeitenden Cartoon nicht erkennen, wann
sich der Vorfall abgespielt hatte. Die Uhr in einem der Bilder war keine
digitale. Ich spüre eine seltene Konzentration im Raum. Als ob die Klasse
endlich mal etwas mitbekommt, sich selbst dabei spürt, wie sie etwas lernt.
Sie leistet.
Ein anderes Mal lasse ich die ganze Klasse als Kollektivstrafe einen Text
abschreiben. Nach kurzem Rumoren greifen alle zu Stift und Papier. Es ist
still in der Klasse, jede:r ist konzentriert, wird vor dem Klingeln
fertig. Es ist sinnentleertes Arbeiten, aber es ist Arbeiten und somit ein
Erfolgserlebnis. Das Blatt ist voll, Lewis zeigt es mir. Das Datum ist
sogar unterstrichen.
In der 6b ist jede Form von Wissenserweiterung ein Erfolg. Auf der
Klassenfahrt in London wird mich ein Schüler mit Blick auf die Themse
fragen, ob dies der Fluss sei, der auch durch unsere Heimatstadt fließt,
und ein anderes Mal werde ich gefragt, ob Adolf Hitler derjenige gewesen
ist, der zuletzt gestorben ist. „Ach ne, das war die Queen!“, korrigierte
sich die Schülerin schnell selbst.
Ob meine Schüler:innen sämtliche Verben immer noch Tu-Wörter nennen, ist
mir egal, solange sie diese im Text korrekt unterstreichen. Es geht an
unserer Schule um andere Dinge als Lehrpläne. Dabei sind auch die kleinsten
Erfolge eine schöne Erfahrung. Sie wären sogar genug, wenn sie nicht immer
wieder von anderen Dingen überschattet werden würden.
Kurz vor den Osterferien machen wir einen Ausflug. Auf dem Rückweg sitzt
die Klasse aufgekratzt in der Bahn. [6][Eine obdachlose Frau steigt zu uns
ins Abteil und bittet um Spenden]. Sie erzählt von ihrer Situation und dass
sie nachts friert. „Mir ist auch kalt“, ruft es aus dem Pulk unserer
Schüler:innen. Die Gruppe johlt, so wie sie es schon oft in meine Richtung
getan hat. Die obdachlose Frau ist von dieser Reaktion überrascht und
versucht mit den Schülerinnen zu diskutieren, doch die schimpfen jetzt im
Pulk auf sie ein. Die Frau drückt sich gegen die Schiebetür und ringt mit
den Tränen. In diesem Moment schäme ich mich, für diese Jugendlichen
verantwortlich zu sein.
Am nächsten Morgen scheitert mein Versuch, mit der Gruppe die Szene zu
besprechen. „Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr gesehen habt, dass die Frau
weint?“, frage ich in die Runde. Die Antwort besteht aus Verweigerung.
Vincent findet einen Grund, sauer zu sein, und stürmt aus der Klasse.
Toni hält einen Vortrag darüber, dass man Obdachlosen kein Geld geben
dürfe, weil sie sich damit Drogen kaufen. Sein Vater habe ihm das erzählt.
„Das war nicht die Frage“, sage ich, aber Toni redet weiter über Geld. Die
letzten Tage vor den Ferien sind die schlimmsten des Jahres. Ich bin müde,
zähle Tage, Stunden. Warum mache ich den Scheiß hier? Warum machen meine
Kollegen das alles mit? Oder ist ihre Situation eine andere als meine?
Die älteren Kolleg:innen erzählen viel davon, dass es früher besser war
– [7][vor Covid] und vor allem vor Smartphones. Die jüngeren
Kolleg:innen scheinen den Beruf bereits mit weniger Erwartungen
angetreten zu haben. Die Mit-Quereinsteiger, mit denen ich Kontakt habe,
erlebe ich als ähnlich vorsichtig und verunsichert wie mich. Eine
Gemeinschaft, ein Quereinsteiger-Kollektiv sind wir nicht, dafür fehlt uns
das Standing.
Auf einer Lehrerkonferenz geht es um das Thema Unterbesetzung. Wir
Quereinsteiger kriegen Applaus, wie die Krankenpfleger:innen vom
Balkon. Mir ist es unangenehm. Weder erlebe ich meine Arbeit als Leistung,
dafür klappt zu wenig, noch erlebe ich diese Form der Würdigung als
positiv.
Bezahlt mich halt besser, denke ich. Oder reduziert wenigstens die
Klassengrößen, schafft Whiteboards und funktionierende Drucker an,
repariert Heizungen und Vorhänge … Immer wenn ich meine Co Antonia zum
Lachen bringen will, frage ich sie nach den Umzugsplänen der Schule. Die
Pläne dafür lagen schon beim Architekten, bevor sie, Mitte 40, Lehrerin
wurde. „Zur Rente vielleicht“, sagt sie dann.
Das meiste, was mich beschäftigt, betrifft meine voll studierten
Kolleg:innen genauso. Manchmal rollt eine:r mit den Augen aufgrund
meiner fehlenden Ausbildung, einmal werde ich von einer Sonderpädagogin
„Fachidiot“ genannt, nachdem eine von mir geplante Deutschstunde zu
anspruchsvoll geriet. Meistens sind die Kollegen aber dankbar, dass es mich
gibt. Eine Position weniger, die es zu ersetzen gilt.
Wir alle tun, was wir können. Lehrer:in zu sein heißt, Löcher zu stopfen.
Manch ein Kollege streckt einer Schülerin das Geld für die Klassenfahrt vor
und wartet darauf bis heute. Andere machen Hausbesuche, haben Termine am
Freitagabend mit dem Jugendamt oder organisieren bis tief in die Nacht Visa
für die Englandfahrt. Das System [8][„Schule in Deutschland“] scheint immer
gerade so vor dem Kollaps zu stehen. Aber nicht wegen der Lehrerschaft sind
alle am Anschlag, sondern ihretwegen kommt es immer geradeso nicht zum
Erliegen.
Von alldem bekommt die Schüler- und Elternschaft nur wenig mit.
Unausgesprochen haben wir gegenüber unseren Schüler:innen ein Ziel:
Stabilität. Als Gegengewicht zu all den Brocken, all den unterschiedlichen
Bedürfnissen, die die meisten in ihren jungen Jahren bereits mit sich
herumschleppen. Allein in der 6b gibt es Jugendliche mit
Lese-Rechtschreib-Schwäche, emotional-sozialer Schwäche, diagnostiziertem
und nicht diagnostiziertem ADHS, Heimkinder, Kinder von Alkoholiker-Eltern,
Kinder mit Geflüchtetenbiografien, Schüler:innen mit Gymnasialempfehlung
und einige, denen eine Förderschule besser tun würde. Dazu kommt: Covid war
gerade. Und die Pubertät ist im vollen Gange.
Doch erst wenn es existenziell bedrohlich wird, schreiten wir ein. Wie bei
Isa, die zu Hause verwahrlost. Sie kommt ohne Materialien, Essen und im
Winter nur im T-Shirt zur Schule. Wenn sie frei hat, bleibt sie im Gebäude,
und wenn sie erst zur zweiten Stunde da sein muss, steht sie um kurz vor
acht vor der Tür und fragt, ob sie bei mir im Unterricht in der
Parallelklasse sitzen dürfe. Ihre Freunde sind ihr Zuhause. Wir schalten
das Jugendamt ein.
## Sommer
Nach einem langen Montag schließe ich die Tür hinter mir ab und will gerade
in den Feierabend gehen, als ich Cassandra, Isa und Miriam am Ende des
Ganges sitzen sehe. „Ihr wollt noch nicht nach Hause?“, rufe ich ihnen über
den Flur zu. „Nee“, sagt Cassandra, während sie die Kordel ihres
Kapuzenpullovers zwischen ihren Fingern dreht. „Glauben Sie eigentlich an
uns, Herr Hain?“, fragt sie.
Eine Frage so direkt, wie sie Erwachsene nie stellen würden. Ich überlege,
was ich ihr antworten soll. „Ich glaube, ihr habt noch gar nicht
verstanden, welche Möglichkeiten ihr eigentlich habt“, fange ich an.
Erstaunte Augen, Schweigen. Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben.
Ich versuche es anders: „Ich glaube, ihr seid alle ganz toll. Aber viele
von euch wissen das gar nicht.“ „Wie sind wir toll?“, fragt Miriam. „Al…
Lehrer verlassen uns immer. Erst Frau Meierhof, dann Herr Böllmann.“ – „…
du glaubst, das liegt an euch?“, frage ich. Schulterzucken. „Also“, nehme
ich erneut Anlauf, „pass auf, ihr seid ganz tolle Freundinnen, und das ist
viel wert. Meine Frage ist nur, warum es euch so schwer fällt, im
Unterricht auch so zu sein?“
Ich blicke zurück und erinnere mich an das Feedback meiner
Hospitationsstunde, wenige Wochen nach Dienstantritt. In dieser waren meine
Schüler:innen still gewesen und die Schulleitung legte mir dies als
Haupterfolg aus. „Sie mögen dich, sie wollen, dass du Erfolg hast.“
Normalerweise ist die Beziehungsarbeit zwischen Lehrer- und Schülerschaft
die Basis für Lernerfolg. Bei uns ist sie der Lernerfolg. Mehr lässt sich
nicht erwarten.
Wie das Ganze besser werden könnte? Geld. So viel und an so vielen Stellen
wie möglich. Wer A (Inklusion) sagt, muss auch B (Finanzierung) sagen.
Sodass meine Rolle als Vertretung und Lückenfüller obsolet werden würde.
Kurz vor den Sommerferien sitzen Antonia und ich ein letztes Mal zusammen
mit der 6b im Stuhlkreis und haben jenes Gespräch, das diese Klasse schon
kennt. Antonia sagt: „Herr Hain und ich sind nächstes Jahr nicht mehr
Tutorinnen dieser Klasse.“ Mit einem Mal ist es still im Raum. „Aber Sie
sagten, Sie bleiben bei uns“, sagt Toni. „Die Schulleitung hat diese
Entscheidung getroffen“, antwortet Antonia. „Aber es ist uns ganz wichtig,
dass ihr wisst: Es liegt nicht an euch.“ Was man so sagt, um Schmerz zu
lindern. In Momenten wie diesen wird deutlich: Alle Schüler:innen der 6b
sind noch Kinder, auch wenn ihr Verhalten häufig anders wirkt.
Zum Abschluss laden wir alle auf ein Eis ein. Als sie versorgt sind, stehen
Antonia und ich etwas abseits und schauen dem Treiben zu. „Wie schnell die
heute den Stuhlkreis aufgestellt haben“, sagt Antonia. „Ich glaube ja, dass
das Einzige, was sich in diesem Jahr verändert hat, meine Ansprüche sind“,
sage ich. „Ne, find ich nicht“, sagt Antonia: „Eigentlich kann diese Klas…
alles außer Unterricht.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich zustimme, aber
wenigstens hat das Pochen am Hals aufgehört.
17 Oct 2023
## LINKS
[1] /Mangel-an-Lehrkraeften/!5884142
[2] /Lehrerinnenmangel-in-Berlin/!5961221
[3] https://www.lehrer-news.de/blog-posts/statistisches-bundesamt-anteil-der-qu…
[4] /Leben-mit-einer-Angststoerung/!5325096
[5] https://www.bosch-stiftung.de/de/presse/2022/06/repraesentative-umfrage-der…
[6] /Obdachlosigkeit-und-Aufbruch/!5931604
[7] /Lockdownfolgen-von-Schuelerinnen/!5911234
[8] /Deutsches-Schulbarometer/!5961472
## AUTOREN
Fabian Hain
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