# taz.de -- Misere der Schulen: Bildung auf Talfahrt | |
> Mehr Digitalisierung ist keine Lösung in der Bildungskatastrophe. Was es | |
> braucht, ist mehr Raum für Mitgestaltung und musische Fächer. | |
Bild: Bildungspolitisch passiert gar nichts, um substanziell etwas zu verändern | |
In 29 Städten in allen 16 Bundesländern kam es am vergangenen Wochenende zu | |
einem Bildungsprotest. Ein bemerkenswertes Ereignis, denn es kommt nicht | |
oft vor, dass ausgerechnet für Bildung auf die Straße gegangen wird. Schon | |
eher wird fürs Klima oder den Frieden demonstriert. Vor diesem Hintergrund | |
passt dann wieder ins Bild, dass die Resonanz vielerorts dürftig war. | |
Derweil sind die Gründe für die bundesweiten Kundgebungen eklatant. | |
Sie resultieren, wenn man ehrlich ist, aus nichts anderem als einer | |
Bildungskatastrophe, die in den 1960er Jahren schon einmal von Georg Picht | |
diagnostiziert wurde. Waren es damals aber vor allem Strukturdaten zum | |
Schulsystem, so ist es heute handfeste Empirie, die in erster Linie die | |
Bildungsprozesse in den Blick nimmt: Deutschlandweit fehlen Lehrpersonen, | |
[1][immer mehr Kinder erreichen die Mindeststandards in Kernkompetenzen wie | |
dem Lesen nicht], die Zahl der Schulabbrecher ist und bleibt hoch, die | |
Bildungsschere geht immer weiter auseinander. | |
Hinzu kommen desaströse Tendenzen in der psychosozialen Entwicklung. Immer | |
mehr Jugendliche leiden unter Depressionen. Und auch die körperliche | |
Verfassung der nachwachsenden Generation ist beeinträchtigt, wie die hohe | |
Quote an Nichtschwimmern vor Augen führt. Diese Entwicklungen sind aus | |
Sicht der empirischen Bildungsforschung nicht neu: Seit zehn Jahren weisen | |
Daten aus großen Vergleichsstudien darauf hin, dass sich das einstige Land | |
der Dichter und Denker in einer Bildungstalfahrt befindet, deren Ende noch | |
nicht in Sicht ist. | |
Dass eine [2][Bildungskatastrophe] nicht nur fatal für die nachwachsende | |
Generation ist, muss offensichtlich immer wieder betont werden, weil | |
bildungspolitisch nichts, aber auch gar nichts passiert in den letzten | |
Jahren, um substanziell etwas zu verändern. Zwar wird das schlechte | |
Abschneiden in Leistungsstudien immer parteiübergreifend beklagt und | |
Besserung gelobt. Meist bleibt es aber bei diesen Lippenbekenntnissen. | |
## Keine Rettung in Sicht | |
Bis heute gibt es keine evidenzbasierten Konzepte, die den Lehrermangel | |
beseitigen helfen, die Wege einer individuellen Förderung im Schulsystem | |
aufzeigen, die Kinder und Jugendliche in einem umfassenden Sinn in ihren | |
Bildungsprozessen unterstützen. Die Bildungspolitik scheint es sich – wie | |
die Politik ganz allgemein in vielen anderen Bereichen auch – gemütlich | |
gemacht zu haben. | |
Trotz globaler Krisen, so liest man zwischen den Zeilen | |
kultusministerieller Verlautbarungen, läuft es doch, und man berauscht sich | |
an einer Digitalisierungseuphorie, die in anderen Ländern Europas bereits | |
verflogen ist, weil man erkannt hat, dass digitale Medien im | |
Bildungsbereich nicht die Lösung, sondern das Problem sind. Nun ist es kein | |
Geheimnis, dass ein rückläufiges Bildungsniveau einen negativen Effekt auf | |
die Wirtschaftskraft eines Landes hat. | |
Ebenso ist unstrittig, dass ein geringes Bildungsniveau über kurz oder lang | |
demokratiegefährdend ist. Eine Demokratie braucht Demokraten, und diese | |
brauchen Bildung. Die Demokratie als Staats- und Lebensform verlangt von | |
jedem Einzelnen am meisten ab, wenn sie vital bleiben soll. Umso | |
bedrohlicher wirken die jüngsten [3][Erhebungen zum Demokratiebewusstsein] | |
und -verständnis der nachwachsenden Generation: Obschon die Demokratie | |
als Wert hoch angesehen ist, verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen | |
in die Politik und ihre Institutionen. | |
## Zu wenig handlungsorientierter Unterricht | |
Seit Jahren ist die Wahlbeteiligung wieder rückläufig, gerade unter | |
jüngeren Menschen. Meinungsbildung, das Herzstück einer Demokratie, wird | |
immer schwieriger und verliert sich immer öfter in computergesteuerte | |
Blasen der stetig an Einfluss gewinnenden sozialen Medien, während die | |
Zahlen der Leserschaft von Tageszeitungen von Jahr zu Jahr rückläufig | |
sind. Seit jeher gehört es zu den klassischen Reaktionen öffentlicher | |
Debatten, gesamtgesellschaftliche Probleme an die Schulen weiterzuleiten. | |
Diese sind die Orte der Bildung. Dort ist zu lernen, was für die Demokratie | |
von Bedeutung ist. So überrascht es nicht, dass in den letzten Wochen | |
vermehrt die Forderung zu vernehmen war: Schulen müssen sich besser um die | |
Demokratiebildung kümmern. Als sei das bisher noch kein Thema im | |
Bildungssystem gewesen. Demokratiebildung ist seit der Geburtsstunde der | |
Bundesrepublik Deutschland ein fester Bestandteil schulischer Arbeit. | |
Obschon es unzählige Empfehlungen und Handreichungen dazu gibt, ist aber | |
auch richtig: Demokratiebildung kommt vielerorts über diese Präambellyrik | |
nicht hinaus. Bis heute ist für viele Schülerinnen und Schüler das einzige | |
demokratische Element, das sie in ihrer Schulzeit erleben, eine | |
Klassensprecherwahl. Eine Schule in einer Demokratie muss eine | |
demokratische Schule sein. | |
[4][John Dewey] hat diese Gedanken mit den Worten embryonic society | |
formuliert: Nur wer im Kleinen erfährt, wie die Gesellschaft im Großen | |
funktioniert, wird in jungen Jahren angemessen darauf vorbereitet, im | |
späteren Leben Verantwortung übernehmen zu können. Davon lebt eine | |
Demokratie: die Rechte auf Freiheit und Gleichheit verantwortungsvoll im | |
Sinn einer kollektiven Selbstbestimmung zu leben. So müssen Themen der | |
Gesellschaft auch Themen der Schule sein. | |
Debatten wie über Nachhaltigkeit oder Aufrüstung dürfen nicht am Schultor | |
enden. Hierfür sind strukturelle Räume zu schaffen. Bislang sind Lehrpläne | |
nur auf bestimmte Fächer ausgerichtet und wenig handlungsorientiert. Zudem | |
werden interdisziplinäre Zugangsweisen mit echtem Handlungsspielraum | |
vernachlässigt, wie sie für aktuelle Themen kennzeichnend sind. | |
## Nicht nur Deutsch und Mathe | |
So wichtig die Pisa-Studien waren, so stark hat man sich in der | |
Vergangenheit darauf beschränkt, nur naturwissenschaftliche, mathematische | |
und muttersprachliche Kompetenzen in den Blick zu nehmen. Bildung umfasst | |
aber mehr, und Themen werden zu isoliert betrachtet. Unterm Strich kommen | |
Demokratiebildung und Wertevermittlung zu kurz. Derweil gibt es wirksame | |
Maßnahmen, um Kinder und Jugendliche fit für die Demokratie zu machen. | |
Diese sind auf drei Ebenen zu verorten. Erstens einer strukturellen Ebene: | |
Wir brauchen flächendeckend Schülerparlamente, wo junge Leute auch über | |
Themen sprechen können, die sie mitgestalten möchten. So lernen Kinder | |
frühzeitig, was es heißt, demokratisch aktiv zu sein. An vielen Schulen ist | |
die Angst vor solchen Mitgestaltungselementen aber groß. Zweitens auf | |
unterrichtlicher Ebene; hier gibt es wirksame Methoden wie etwa die | |
Dilemmadiskussion: Themen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert | |
werden, werden im Unterricht ebenso kontrovers eingebracht. | |
Auch Epochenunterricht wäre sinnvoll: Das bedeutet, dass sich Lernende | |
mehrmals im Schuljahr für eine Woche einem bestimmten Thema widmen und es | |
dann nicht nur fachlich, sondern interdisziplinär beleuchten. So wird der | |
Kern des Problems sichtbar und das, was vor Ort getan werden kann. Nicht | |
umsonst gilt es etwa in Fragen der Nachhaltigkeit ökologische, ökonomische | |
und soziale Aspekte zu betrachten. Und drittens auf individueller Ebene: | |
Jenseits der klassischen Stoffvermittlung müssen moralisches Bewusstsein | |
und Urteilsfähigkeit herausgebildet werden. | |
Wer sich nur mit empirischen Zahlen befasst, wird an dieser Stelle | |
einwenden: Schön und gut, aber all das ist eine Überforderung der Schule. | |
Wäre es nicht besser, stattdessen mehr zu lesen, mehr zu rechnen, mehr zu | |
schreiben? So naheliegend dieser Schluss ist, er ist nicht richtig. Gerade | |
die empirische Bildungsforschung weist immer wieder nach, dass | |
Bildungserfolg keine Frage der Quantität ist, sondern der Qualität. | |
Schlechter Unterricht wird nicht besser, nur weil er länger dauert. | |
## Digitale Medien klug integrieren | |
Stattdessen wird Unterricht qualitätsvoller, wenn er bildungswirksam | |
angelegt ist. So wissen wir aus Studien oder auch beispielsweise [5][Howard | |
Gardners] Theorie der multiplen Intelligenzen, dass der Mensch mehr ist als | |
sein Kopf. Bildung umfasst alle Bereich der Persönlichkeit: kognitive, | |
moralische, motivationale, kreative und andere. Sie alle in den Blick zu | |
nehmen ist pädagogische Aufgabe und Pflicht. | |
Eine Lehrplanreform, die einerseits in den Kernfächern entrümpelt und | |
andererseits zugunsten der musischen Fächer neu gewichtet, ist längst | |
überfällig. All dies kann nur gelingen, wenn aus bildungspolitischer Sicht | |
endlich die Zeichen der Zeit erkannt werden und die Bildungskatastrophe | |
angegangen wird. Aber nicht mit einem weiteren Digitalisierungswahn, wie | |
ihn die Bildungspolitik flächendeckend betreibt: Digitales Lernen sei | |
modernes Lernen und damit gut. | |
So soll denn auch alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden | |
kann: Smartboards statt Tafeln, Tablets statt Hefte, Erklärvideos statt | |
Texte und wischen, statt zu blättern. Dass es für all das aber keine | |
Evidenz gibt, sondern im Gegenteil viele Studien Zweifel am Nutzen einer | |
solchen Digitalisierung aufkommen lassen, wird ausgeblendet. Digitale | |
Medien müssen klug in den Unterricht integriert werden. Zudem braucht es | |
mehr denn je Klassenfahrten, Feste und Feiern. | |
Dafür müssen sowohl die finanziellen als auch die strukturellen | |
Voraussetzungen geschaffen werden. Es macht keinen Sinn, wenn Lehrpersonen | |
stundenlang Verwaltungsakte ausführen oder Technik warten und deswegen | |
nicht ihrem Kerngeschäft, nämlich dem Unterricht, nachkommen. Dass all das | |
nicht ohne eine Elternarbeit geht, die Eltern nicht nur mitnimmt, sondern | |
auch in Verantwortung bringt, liegt auf der Hand. | |
Der alles entscheidende Schritt aber ist vom Kollegium vor Ort zu gehen: Je | |
klarer sich ein Kollegium darüber unterhält, was der Kern ihrer Tätigkeit | |
ist, und je mehr Lehrpersonen darum ringen, wie sie ihre gesellschaftliche | |
Aufgabe wahrnehmen und welcher Unterricht dafür der wirksamste ist, desto | |
größer ist der Einfluss auf die Bildung der Kinder und Jugendlichen. | |
2 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schulabschluesse-in-Deutschland/!5956731 | |
[2] /Lesekompetenz-von-Grundschulkindern/!5931934 | |
[3] https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf | |
[4] https://brocku.ca/MeadProject/Dewey/Dewey_1907/Dewey_1907a.html | |
[5] https://www.howardgardner.com/ | |
## AUTOREN | |
Klaus Zierer | |
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