# taz.de -- Leben mit einer Angststörung: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle | |
> Grundlos Panik, ob in der U-Bahn oder auf der Couch. Jeder sechste | |
> Erwachsene in Deutschland leidet unter Angststörungen. Auch unsere | |
> Autorin. | |
Bild: Diagnose: generalisierte Angststörung. Das heißt, die Angst kann quasi … | |
BERLIN/GEORGSMARIENHÜTTE taz | Angstschweiß stinkt immer. Ich stehe | |
eingezwängt zwischen Menschen mit Kopfhörern, Menschen, die Bücher lesen, | |
Menschen, die sich unterhalten. Und fühle mich allein. Während alle anderen | |
einfach U-Bahn fahren, feuert mein Gehirn Bilder und Sätze in mein | |
Bewusstsein: ein Arzt, der im geöffneten Bauch eines Patienten rumstochert. | |
Ein Bungeesprung von einer hohen Klippe. Männer, die einem, der am Boden | |
liegt, gegen den Kopf treten. Meine Kiefermuskeln zucken. | |
Haltestelle Alexanderplatz. Türen auf, noch mehr Menschen rein. | |
Zurückbleiben, bitte, das heißt: zwei weitere Minuten nicht fliehen können. | |
Vor den Bildern in meinem Kopf, die meinen Körper dazu bringen, so zu tun, | |
als wäre ich in Gefahr. Klosterstraße. Ich wische meine nassen Hände an der | |
Hose ab, kühle mit ihnen meinen Nacken. Meine Ohren sausen, ich schwebe. | |
Die Leute gucken schon. Oder? | |
Noch eine Station, dann bin ich auf der anderen Seite der Spree. Von da aus | |
könnte ich laufen. Ich kneife mir in den Arm und spüre, ich bin noch da. | |
Märkisches Museum. Die U-Bahn wird langsamer, die U-Bahn hält, ich stolpere | |
hinaus und laufe blindlings Richtung Ausgang, laufe, laufe, laufe, bis sich | |
die Welt aus vielen Pixeln wieder zu einem Bild zusammensetzt. Dass ich zu | |
spät zur Arbeit komme – egal. Den schwersten Teil des Tages habe ich hinter | |
mir. | |
Etwa jeder sechste Erwachsene in Deutschland leidet unter Angststörungen. | |
Ich bin eine von ihnen. Der internationale Krankheitskatalog ICD führt | |
unsere Diagnosen unter F40-F48: neurotische, Belastungs- und somatoforme | |
Störungen. Die Befunde heißen: Agoraphobie; soziale Phobien; spezifische | |
(isolierte) Phobien; sonstige phobische Störungen; Panikstörung und so | |
weiter. Ich habe eine generalisierte Angststörung. Die Angst ist nicht an | |
einen Auslöser gebunden, sie kriegt mich immer und überall. | |
## Weicheier. Haben die keine echten Sorgen? | |
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen, noch vor | |
Depressionen und Alkoholismus. Dennoch sprechen Betroffene ungern darüber. | |
Vielleicht, weil sich zu fürchten in unserer sicheren und auf Leistung | |
gepolten Gesellschaft als irrational und unproduktiv gilt. Was sind das | |
bloß für Menschen, die grundlos Panik kriegen, in der U-Bahn, im Gespräch | |
mit Freunden, zu Hause auf der Couch? Weicheier. Wohlstandskinder mit | |
Wohlstandsängsten. Haben die keine echten Sorgen? | |
Sätze, die ich vor dem Schreiben gehört habe: „Wenn das dein zukünftiger | |
Arbeitgeber liest, bekommst du keinen Job mehr.“ „Es muss ja nicht die | |
ganze Welt über deine Probleme Bescheid wissen.“ „So was bespricht man nur | |
mit den engsten Freunden.“ | |
Da braucht man sich nicht zu wundern, dass Angststörungen stigmatisiert | |
werden. | |
Nicholas Müller kümmert das nicht mehr. Bis vor zwei Jahren war er der | |
Sänger der Band Jupiter Jones, die mit dem Lied „Still“ ihren Durchbruch | |
hatte. Danach ausverkaufte Konzerte, Goldene Schallplatte, Platinplatte, | |
Echo. Plötzlich stieg Müller aus. „Ich laufe nun schon seit einigen Jahren | |
mit einer vermaledeiten Angststörung durch die Weltgeschichte“, schrieb er | |
in einem offenen Brief an seine Fans, und: „Es war nie wirklich klar, wie | |
und wie lange ich belastbar sein konnte, was wiederum zur großen Belastung | |
für alle Beteiligten wurde. Ich kümmere mich nun um meine Genesung.“ | |
Inzwischen hat er eine neue Band, ist Botschafter der Deutschen | |
Angst-Selbsthilfe und sagt, er sei gesund. Wie kommt man dahin? Ich will | |
ihn kennen lernen. Er sagt ja. | |
## Treffen in der „Lala-Ranch“ | |
Wir treffen uns in der Magdalenen-Klinik bei Osnabrück, früher ein | |
Schwesternwohnheim, heute eine Klinik für psychische und psychosomatische | |
Erkrankungen. „Lala-Ranch“, sagt Müller, „aber das ist wohl so ein Humor, | |
den man sich nur erlauben darf, wenn man selber betroffen ist.“ Er trägt | |
ein grün-blau-kariertes Flanellhemd, in seiner Brusttasche steckt ein Kamm. | |
Seine Haare sind nach hinten gegelt. | |
Nicholas Müller redet gern, aber deswegen treffen wir uns ja. Zehn Wochen | |
verbrachte er hier, damals sang er noch bei Jupiter Jones. Die Klinik, | |
sechs Stockwerke, Balkone aus Waschbeton, vorne ein Parkplatz, rechts Wald, | |
links ein Baukran, ist kein schöner Ort. Nicholas Müller sagt: „Der | |
Grundstein für alles, was meine Gesundung angeht, ist hier gelegt worden.“ | |
Sein Behandlungsplan: drei Einzelgespräche pro Woche, zwischendurch | |
Kunsttherapie, Körper- und Emotionstraining, Stressbewältigungsgruppe, | |
lösungsorientierte Gruppe. Unfassbar anstrengend sei diese Zeit gewesen, | |
sagt er. „Zwischendrin hab ich gedacht: Mir geht’s doch jetzt schlechter, | |
als es mir vorher ging. Aber wenn man sich in der Psychotherapie wohlfühlt, | |
dann läuft was schief.“ | |
Die Klinik liegt auf dem Harderberg. Patienten nennen ihn Zauberberg, weil | |
sie hier geschützt sind. Vor dem Leben, in dem die meisten Menschen nicht | |
verstehen, was mit ihnen los ist. Aber „Feenstaub gibt es hier nicht“, sagt | |
Nicholas Müller. Keine Medizin, die alles heilt. Und irgendwann muss man | |
wieder runter. | |
Dass ich über meine Angst schreibe, findet Nicholas Müller super. | |
„Eigentlich dürfte das nicht außergewöhnlicher sein als ein Schnupfen“, | |
sagt er. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Menschen kennen, der eine | |
Angsterkrankung hat, liegt bei 100 Prozent. Oder man kennt einfach | |
unfassbar wenige Menschen.“ | |
## Ich schäme mich nicht | |
Ich schreibe diesen Text ohne Pseudonym, weil ich mich nicht für etwas | |
schäme, das ich mir nicht ausgesucht habe. Noch vor einem Jahr wäre das | |
undenkbar gewesen – oder gelogen. | |
Als ich beginne, als Redakteurin zu arbeiten, bin ich regelmäßig Chefin vom | |
Dienst, muss in der Konferenz anwesend sein, um die Themen vorzutragen. | |
Andere haben Lampenfieber, ich fürchte, in Ohnmacht zu fallen, vom Stuhl zu | |
rutschen, und dann wieder aufzuwachen, besorgte Gesichter über mir, danach | |
Getuschel im Treppenhaus: Was war denn mit der los? Während die anderen | |
dafür kämpfen, dass ihr Thema auf die prominente Seite 3 kommt, sitze ich | |
auf meinen nassen Händen, um mich am Weglaufen zu hindern. | |
Nach einem Jahr schaffe ich das nicht mehr. Die Panik trifft mich mit | |
Maschinengewehrkugeln: rattattat, heiß, rattattat, kalt, rattattat, | |
Schwindel, bloß weg hier, raus, schnell. Ich täusche einen Hustenanfall vor | |
und laufe aus dem Raum, verpasse meinen Einsatz, schäme mich. Ich brauche | |
Hilfe. Oder ich muss kündigen. | |
Was bei einer Panikattacke im Körper passiert: Die Großhirnrinde leitet | |
Reize an das für Gefühle zuständige limbische System weiter. Teile des | |
limbischen Systems, der Hippocampus und die Amygdala, aktivieren den | |
Hypothalamus, der über Nervenbahnen im Nebennierenmark dafür sorgt, dass | |
Stresshormone ausgeschüttet werden: Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol und | |
Kortison. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung | |
beschleunigt, die Blutgefäße verengen sich, die Verdauung schaltet | |
herunter. Kalter Schweiß. | |
Auf die Alarmreaktion folgt die Anpassungsreaktion, in der der | |
Parasympathikus die Stresshormone abbaut, um den Körper wieder ins | |
Gleichgewicht zu bringen. Die Verdauung schaltet hoch, das kann Übelkeit, | |
Brechreiz, Durchfall verursachen. In der dritten Phase erholt sich der | |
Körper. Wenn die Stresssituation dauerhaft anhält, kann die Erschöpfung | |
chronisch werden. Das führt zu tiefer Müdigkeit, teilweise sogar zu einer | |
Depression. | |
## Ergebnis: schwere Angststörung | |
Im November 2009 beginne ich eine Verhaltenstherapie. Situationen | |
durchspielen und den Umgang mit der Angst üben soll besonders schnell | |
wirken und die höchste Erfolgsquote haben, sagen Studien. Die ersten paar | |
Stunden sind zur Probe. Der Therapeut sieht aus wie Hannibal Lector und | |
empfiehlt mir das Buch „Endlich frei von Angst“, mit dem ich zwischen | |
unseren Terminen üben soll. Darin gibt es einen Angsttest, in dem ich | |
Fragen beantworten soll. Fühlen Sie sich wegen Ihrer Angst minderwertig? | |
Fürchten Sie, dass Sie verrückt werden? Ich vergebe mal einen Punkt, mal | |
fünf. Ergebnis: schwere Angststörung. | |
In einer Sitzung soll ich minutiös meinen Tagesablauf schildern, vom | |
Aufstehen bis zur Angst. Dann liest der Therapeut vor, was er notiert hat: | |
in die Küche gehen. Kaffee machen. Anziehen. Zur Arbeit fahren. | |
Systematische Desensibilisierung heißt diese Technik, bei der ich mir die | |
Situationen so lebhaft vorstellen soll, dass die gleichen Gefühle | |
ausgelöst werden wie in der Realität. Ich fühle: nichts. In der dritten | |
Stunde schlägt der Therapeut vor, dass ich in der Redaktionskonferenz sage, | |
wie es mir geht. Ich breche ab. | |
Nicht nur, weil er etwas Unvorstellbares verlangt. Sondern auch, weil es | |
mir nicht reicht, in einem Zimmer Angst zu simulieren. Ich will verstehen, | |
woher sie kommt. | |
Ich suche mir einen neuen Therapeuten, Fachgebiet: tiefenpsychologisch | |
fundierte Psychotherapie. Keine Übungen mehr, sondern sprechen – über | |
alles, was mich beschäftigt. Ich rede immer noch viel über Angst. Zum | |
Beispiel darüber, in den Urlaubsflieger zu steigen und die Kontrolle über | |
mein Leben an den Piloten abzugeben, aber die Gespräche führen uns oft fort | |
von meiner Panik, meinen schwitzigen Händen. Ich zeichne einen Baum. Wir | |
reden über meine Kindheit. Ich zeichne ein Diagramm mit meinen Freunden – | |
wer ist mir nahe, wer weit weg? Wir reden über meine Zukunftssorgen. Ich | |
frage mich: Warum ist es so wichtig, was andere von mir denken? Welches | |
Bild habe ich von mir? Warum ist es so wichtig, die Kontrolle zu behalten? | |
Ich fühle mich nicht mehr reduziert auf meine Angst. Und ich lerne, dass es | |
viele Ursachen für eine Angststörung gibt. Vererbung. Erziehung. Ein | |
traumatisches Ereignis. Stress. Drogen. Krankheiten. Gesellschaftliche | |
Umstände. Allerdings müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. | |
## Ohnmacht oder Panikattacke? | |
Dann gab es da diesen Arztbesuch, mit zwölf, zur Blutabnahme. Keine Vene zu | |
sehen, na, dann nehmen wir’s aus dem Rücken, stell dich mal hin, geht ganz | |
schnell. Ich war schneller und kippte um. Ein Rauschen in den Ohren, | |
Flimmern vor den Augen, irre Träume. Danach: Orientierungslosigkeit, wo | |
bin ich? Hier, ein Schluck Wasser, Beine hoch. Keine Sorge, waren nur ein | |
paar Sekunden. | |
Am meisten Angst machte mir, dass ich dem Arzt vollkommen ausgeliefert war. | |
Sehr viel später wird mein Therapeut die Vermutung aufstellen, dass es gar | |
keine Ohnmacht war, sondern meine erste Panikattacke. Aber damals weiß ich | |
das noch nicht. Und habe seit dem Arztbesuch ständig Angst, umzukippen. Bei | |
Referaten. Beim Schulkonzert auf der Bühne. Im Flugzeug. Im Kino. Im | |
Theater. In Konferenzen. In der U-Bahn. In Situationen, aus denen ich | |
nicht jederzeit fliehen kann. Jedenfalls nicht, ohne mich lächerlich zu | |
machen. | |
„Die Angst frisst die Ressourcen auf, die sie finden kann“, sagt Nicholas | |
Müller. „Das ist wie bei Pacman.“ Wir stehen in seinem ehemaligen Zimmer. | |
Lachsrosa Sofa und Sessel, beige gemusterte Vorhänge, Fernseher, | |
DVD-Player, Kühlschrank, Kreuz über dem Bett. Manche Patienten nehmen es | |
ab, Müller nicht. Obwohl er mit der Angst vor Gott in der Klinik ankam: | |
„Ich habe gedacht, dass er mich bestrafen will.“ | |
Vor was Nicholas Müller sonst noch Angst hat: Frösche, Brücken, Sterben. | |
Panik hatte er anfangs nur zu Hause, auf der Couch. Die Bühne hingegen war | |
seine Komfortzone. Merkwürdig, dachte er sich, aber ist eben so. „Und das | |
hat die Angst gemerkt.“ Also kam sie eines Tages mit zu seinem Konzert, war | |
irgendwann bei jedem Auftritt dabei. Sein ganz besonderes Groupie. | |
## Ein kleiner Auslöser reicht | |
Die Therapie schlägt an, es geht mir besser. Die Angstattacken sind weniger | |
intensiv, kommen seltener, manchmal wochenlang nicht. Aber dann reicht ein | |
kleiner Auslöser, und ich möchte nie wieder vor die Tür. Wenn eine Freundin | |
von den Schmerzen beim Einsetzen ihrer Spirale erzählt, stelle ich mir vor, | |
wie ich auf dem Stuhl liege. Wenn es in der Schlange vor einem Club eng | |
wird, male ich mir aus, wie die Menschenmassen mich niedertrampeln. Wenn | |
mir jemand sein neugeborenes Baby in den Arm legt, bekomme ich | |
Schweißausbrüche, weil ich es fallen lassen könnte. | |
Wir verlängern die Therapie, von 25 auf 50 Stunden, im Oktober 2011 sind | |
auch die vorbei. „In zwei Jahren können Sie wiederkommen“, sagt der | |
Therapeut. Die Pause ist von der Krankenkasse vorgeschrieben, erst danach | |
übernimmt sie die Kosten wieder. Er reicht mir die Hand, zum letzten Mal | |
für eine lange Zeit. | |
Eineinhalb Jahre später wird mein erstes Buch veröffentlicht, ich soll vor | |
Publikum daraus vorlesen und ins Fernsehen. Ich kann nächtelang nicht | |
schlafen. Was, wenn ich in der Talkshow ohnmächtig werde? Ich will nicht | |
die sein, über die auf YouTube alle lachen. | |
Nicholas Müller sieht das pragmatisch. Neulich war er bei „Volle Kanne“ im | |
ZDF, um über seine Angstgeschichte zu sprechen und bekam kurz vor der | |
Sendung Panik. Durchgezogen hat er es trotzdem. „Ich hab da keinen großen | |
Bock drauf“, sagt er, „aber vielleicht wär es wirklich mal ganz sinnvoll, | |
live, während einer Sendung, eine Panikattacke zu haben. Damit die | |
Zuschauer sehen: So sieht das aus.“ | |
Seine erste Panikattacke hatte Müller nach dem Tod seiner Mutter. Er ging | |
in eine Tagesklinik, zur ambulanten Therapie, nahm Antidepressiva, zog mit | |
27 wieder zu seinem Vater, kiffte sich bis zur Psychose und wartete | |
irgendwann nur noch auf die nächste Panikattacke, bis zu fünf waren es | |
täglich. „Aber eigentlich war der ganze Tag eine einzige Angst.“ | |
Cardiophobie, Angst vor Herztod. Dabei weiß Müller, dass sein Herz gesund | |
ist. So gesund wie es im Körper von jemandem sein kann, der mal über 150 | |
Kilo wog und seit 20 Jahren raucht. Allerdings leichtere Zigaretten als | |
ich. | |
## „Dann bin ich tot“ | |
Dann gab es diese Panikattacke während einer Sitzung. Seine Therapeutin | |
fragte: „Herr Müller, was ist das Schlimmste, was Ihnen jetzt passieren | |
kann?“ | |
„Na, dass ich jetzt hier halt umkippe.“ | |
„Und was ist, wenn Sie jetzt hier umkippen?“ | |
„Dann werd ich wahrscheinlich sterben.“ | |
„Und was ist, wenn Sie sterben?“ | |
„Dann bin ich tot.“ | |
„Ja, das stimmt. Na, dann können wir jetzt ja weitermachen.“ | |
Ich nehme Stunden bei einer Schauspiellehrerin, die Augen wie ein Raubvogel | |
hat und so streng ist, dass ich Schweißausbrüche bekomme. Sie sagt: „Du | |
kannst gar nicht in Ohnmacht fallen, wenn du aufgeregt bist. Dafür ist viel | |
zu viel Adrenalin in deinem Körper.“ Ich bin erleichtert. Eine Lesung, eine | |
Talkshow, ich lebe noch, ich bin wahnsinnig stolz. | |
Ich lerne, in mich hineinzuhören. Einmal sitze ich in der U-Bahn und | |
bekomme Herzrasen und feuchte Hände. Na toll, denke ich, schon wieder eine | |
Panikattacke. Dann fällt mir ein, dass ich am Abend vorher auf einer Party | |
war. Ich habe einen Kater. Und freue mich darüber. Ich trainiere, | |
einzuordnen, was mein Körper tut. Vieles, was sich anfühlt wie Angst, ist | |
keine. Mir ist übel? Regelschmerzen. Mir bricht der Schweiß aus? | |
Hochsommer. Alles ganz normal. | |
Mit meinen Eltern fahre ich im Frühjahr 2014 nach Südfrankreich auf unseren | |
Campingplatz, der uns zwar nicht gehört, aber irgendwie doch, weil wir jede | |
Pfingstferien dort waren. Es ist der erste gemeinsame Urlaub, seit ich | |
erwachsen bin. Ich liege in der Hängematte, am Strand und fühle mich zum | |
ersten Mal seit langer Zeit für nichts verantwortlich. Ich knirsche nicht | |
mal mit den Zähnen. | |
## Ich bin eine Maschine | |
Als ich zu Hause den Briefkasten öffne, ist er voller Post. | |
Rücklastschriften, Konto nicht gedeckt. Die Angst ist wieder da. Weil ich | |
mein Leben nicht in den Griff bekomme. Weil ich mit 30 noch von meinen | |
Eltern abhängig bin. Weil ich ein paar Dinge in meinem Leben ändern müsste | |
und genau das gerade nicht kann. Wochenlang bin ich wie gelähmt. Ich gehe | |
weiter zur Arbeit, ich funktioniere, ich bin eine Maschine. Dann | |
verschwindet die Angst. Dafür spüre ich gar nichts mehr. | |
Dass ich gerade frisch verliebt bin? Egal. Dass die Sonne scheint? Egal. | |
Dass ich mich irgendwann wieder besser fühle? Ausgeschlossen. Ich bin im | |
falschen Film, im falschen Leben. Ich bin nicht echt. | |
Mein Therapeut wird das später eine „depressive Episode“ nennen; es ist die | |
erste von dreien, immer im Abstand von ein paar Wochen. Er erklärt mir, | |
dass mein Körper mich schützt, wenn die Ängste zu groß werden. Wie bei | |
einem Stromausfall: Überhitzung, zack, dunkel. | |
Menschen, die das mitkriegen, verwechseln es oft mit Traurigkeit, weil sie | |
das kennen und verstehen. Lass dich nicht hängen, komm aus deinem Loch | |
raus, sagen sie dann. Doch eine Depression lässt sich nicht steuern. | |
Nicholas Müller kennt das auch. „Das ist wirklich zynisch, zu sagen: ‚Bleib | |
doch mal positiv‘ “, sagt er, „wenn ich umfasst bin von einer großen, | |
allmächtigen Schwärze.“ | |
## In meinem Kopf ist viel zu viel los | |
Im November buche ich eine Woche Urlaub in einem Kloster bei Hannover. Ohne | |
Handy, ohne Laptop, nur mit einem Koffer voller Bücher. Schon im Zug fange | |
ich an zu heulen, die Anspannung fällt von mir ab. Es gibt einen großen | |
Garten, Einzelzimmer, eine Gemeinschaftsküche für die Gäste und jeden | |
Morgen um acht eine halbstündige Gruppenmeditation. | |
Vor dem Meditieren habe ich, natürlich Angst. Was, wenn ich den Raum | |
verlassen muss und die anderen störe? Wenn ich es nicht schaffe, die | |
Gedanken vorbeiziehen zu lassen, sondern ihnen ausgeliefert bin? In meinem | |
Kopf ist viel zu viel los. Beim Mittagsschlaf träume ich, wie ich mich | |
blamiere. Während eines klassischen Konzerts will ich früher gehen und | |
bekomme den Deckel einer riesigen Thermoskanne nicht zu. Aus meinem | |
Rucksack dröhnt laute Musik. | |
Als ich am nächsten Morgen in eine Decke gehüllt auf einem kleinen | |
Holzhocker sitze, knackt es im Nacken, an den Füßen, am Steißbein. Ich habe | |
einen Körper. Das hatte ich in letzter Zeit irgendwie vergessen. | |
Nach ein paar Tagen wird der Tinnitus schwächer. Ich freue mich jeden | |
Morgen auf die Meditation, und ich schaffe es tatsächlich, nicht zu denken. | |
Ich lösche meine Festplatte und habe endlich wieder Platz. Manchmal höre | |
ich mein Handy phantomklingeln. | |
## Ich bin schwach. Egoistische Scheißkuh | |
7. Januar 2015. Ich habe frei, mein Freund ist zu Besuch. Als ich aus der | |
Dusche komme, läuft der Fernseher. Zwei Männer haben die Redaktion der | |
französischen Zeitung Charlie Hebdo gestürmt und elf Personen getötet. Im | |
Internet finden wir ein Video, das später nicht mehr vollständig zu sehen | |
sein wird: Die Täter schießen bei ihrer Flucht auf einen Polizisten, der | |
verwundet am Boden liegt. Direkt auf seinen Kopf. Ich sitze heulend auf dem | |
Bett. Normalerweise kann ich nicht mal bei Gewalt in Filmen hingucken, aber | |
das hier ist echt. Wir gehen raus, die Sonne scheint, Menschen lachen. Ich | |
möchte mich an der Luft festhalten, um nicht umzufallen. | |
Am nächsten Tag muss ich zur Arbeit. Ich will nicht, ich fahre trotzdem. | |
Die Kollegen kommen schließlich auch. In der Tram kann ich kaum atmen, wenn | |
ich ein lautes Geräusch höre, galoppiert mein Herz. Im Büro sitze ich mit | |
dem Rücken zur Tür und drehe mich jedes Mal um, wenn ich Schritte höre. Ich | |
ziehe den Kopf ein. Nach ein paar Stunden fühlt es sich an, als wären meine | |
Ohrläppchen mit den Schultern verwachsen. Dass ein Polizeiauto vor der taz | |
steht, finden die Kollegen sinnlos. Ich fühle mich sicherer – und schlecht. | |
Sie sind stark, ich bin nur froh, wenn mir nichts passiert. Egoistische | |
Scheißkuh, denke ich. | |
Ich treffe mich mit einer Freundin, die Psychotherapeutin in Ausbildung | |
ist. Sie findet mich ziemlich reflektiert. „Es gibt nicht viele Menschen, | |
die ihre Angst akzeptieren können“, sagt sie. „Aber warum ist sie dann | |
immer noch da?“, frage ich. „Weil du die Angst nur aushältst. Akzeptieren | |
bedeutet aber, sie anzunehmen. Mehr noch: Du musst lernen, sie zu lieben.“ | |
Die Angst lieben, das ist doch verrückt. | |
„Genau das ist dein Problem“, sagt die Freundin. „Die Angst gehört zu di… | |
Dass man sich selbst lieben soll, davon hast du doch schon mal gehört, | |
oder?“ | |
Klar. Hat jeder. Aber ich will nicht, dass die Angst ein Teil von mir ist. | |
Ich will sie loswerden. Kann ich die Angst tatsächlich lieben lernen? Und | |
wie? | |
## Ich empfinde Dankbarkeit | |
Wieder beginne ich eine Therapie, über drei Jahre nach meiner letzten. Der | |
Therapeut ist derselbe wie damals, aber die Sitzungen sind anders. Wir | |
fangen nicht bei meiner Angst an, sondern bei meinem Leben. Wir reden über | |
meinen Beruf, meine Freundschaften, meine Beziehung. Die Angst ist nicht | |
mehr Hauptthema, wir kommen nur immer wieder auf sie zurück. | |
Und ich erkenne, dass sie einen Zweck hat: Sie weist mich darauf hin, wenn | |
etwas schiefläuft, mir etwas zu viel wird. Andere bekommen dann | |
Magenprobleme oder Kopfschmerzen, ich eben Angst. Aber immerhin sagt mir | |
jemand Bescheid, wenn es ein Problem gibt, was ich nicht selbst bemerke. | |
Ich empfinde Dankbarkeit. Näher dran an Liebe war ich noch nie. | |
Nur warum bin ich nicht früher darauf gekommen? So genial ist die | |
Erkenntnis nicht. „Wenn Sie am falschen Bahnsteig stehen, können Sie lange | |
auf den Zug warten“, sagt der Therapeut. „Manchmal müssen Sie nur die | |
Perspektive wechseln.“ | |
Ich lese ein Buch von Eckhart Tolle, der selbst jahrelang Angst und | |
Depressionen hatte und spiritueller Lehrer wurde. Er glaubt, wir sollten | |
aufhören, uns mit unserem Verstand zu identifizieren. Der kreist | |
ausschließlich um die Vergangenheit oder die Zukunft. Er schreibt: „Die | |
psychologisch begründete Angst […] hat immer mit etwas zu tun, das | |
passieren könnte, nicht mit etwas, das gerade geschieht. Du bist im Hier | |
und Jetzt, während dein Verstand in der Zukunft ist. Dadurch entsteht eine | |
Lücke, die sich mit Angst und Sorge füllt.“ | |
Der erste Schritt zur Befreiung vom Verstand sei es deshalb, seine Gedanken | |
zu beobachten, ohne sie zu analysieren oder bewerten. Und sich zu fragen: | |
Gibt es gerade ein Problem? Nicht morgen oder in zehn Minuten, sondern | |
jetzt? | |
Als ich das nächste Mal in der U-Bahn sitze, mache ich genau das. Ich | |
beobachte meine Gedanken. In meinem Kopf tagt ein Stammtisch voller | |
Rentner: | |
„Puh, heiß hier.“ | |
„Und schlechte Luft! Wenn das so weitergeht, macht bestimmt gleich dein | |
Kreislauf schlapp.“ | |
„Warum hält die Bahn an? Hier ist doch gar keine Haltestelle.“ | |
„Stell dir mal vor was hier los ist, wenn du einfach so mitten auf den | |
Boden kotzt, das wär was.“ | |
Ich kichere, lasse sie reden und gucke aus dem Fenster. Gibt es gerade ein | |
Problem? Nö. | |
## Wieder alles auf Anfang? | |
Es geht mir weiter gut, auch in den folgenden Monaten. Aber was, wenn die | |
Angst zurückkehrt? Ist dann wieder alles auf Anfang? „Wenn die Angst an | |
schweren Tagen wiederkommt, dann muss sie das halt machen. Aber dann geht | |
sie auch wieder. Früher ist sie nie gegangen. Und ich finde, das ist das | |
Ziel“, sagt Nicholas Müller, der sich gesund nennt, seit Menschen wieder | |
überrascht sind, wenn er Anflüge von Panik zeigt. | |
Dann lädt mich ein Freund zu seiner Hochzeit in den Libanon ein. Ich lerne | |
auswendig, was auf der Seite des Auswärtigen Amts steht, | |
„Teilreisewarnung“, „erhöhte Entführungsgefahr für Ausländer“, lese | |
Nachrichten und trickse mich selbst aus. Ich chatte mit dem zukünftigen | |
Bräutigam und sage ihm schnell zu. Jetzt kann ich nicht mehr zurück. | |
Am 1. Juli fliege ich nach Beirut, mit Zwischenstopp in Istanbul, drei Tage | |
nach dem Anschlag auf den Flughafen. Wir fahren nach Baalbek an die | |
syrische Grenze, betrunken mit dem Auto und mit einem Motorboot aufs offene | |
Meer, wir hören Schüsse, warten vor einem Panzer auf das Taxi. Ich | |
überlege, mich von einem 38 Meter hohen Felsen abzuseilen, und mache es | |
dann doch nicht. Auf dem Rückflug bin ich zum ersten Mal im Flugzeug so | |
entspannt, dass ich schlafen kann. | |
Angst hatte ich in den zehn Tagen keine einzige Sekunde. | |
17 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
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