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# taz.de -- Wohlstand und Panik: Hat hier jemand keine Angst?
> Die Zeit der „German Angst“ ist vorbei, sagt der Soziologe Heinz Bude.
> Die neue Form von Massenpanik sei subtiler, aber nicht weniger stark.
Bild: Die Bedrohungen des Alltags sind schemenhaft, verursachen aber dennoch Ä…
„Ich habe mehr Neurosen, als andere Frauen Schuhe“, fasst Elizabeth Kiehl
ihre psychische Verfassung zusammen. Seit ihre drei Geschwister
ausgerechnet auf dem Weg zu ihrer Hochzeit bei einem Autounfall starben,
ist die Fotografin traumatisiert. Ihre Ängste haben sich seitdem
vervielfacht: Sie hat Panik, verfolgt zu werden, malt sich apokalyptische
Katastrophenszenarien aus.
Die Verfilmung von Charlotte Roche Roman „Schoßgebete“ läuft seit dieser
Woche im Kino. Lavinia Wilson spielt darin Elizabeth Kiehl, die mit ihrem
Mann in einer sterilen Villa am Stadtrand lebt. Seit Jahren geht sie zu
einer Therapeutin. Aus ihren Neurosen und Ängsten ist ein Terror der
Selbstoptimierung geworden, in dem nur noch Sex als Ventil funktioniert.
Aber auch der muss ständig besser werden. Elizabeth Kiehl und ihr Mann
teilen sich eine Prostituierte im Bordell und kaufen übergroße Dildos. Die
Fotografin will nicht nur gut bei etwas sein, sondern die Beste in allem.
Die beste Mutter, die ihrem Kind so viele Vitamine wie möglich ins Essen
schummelt. Die beste Ehefrau und Geliebte. Sogar die beste Patientin.
Nur: Wenn Selbstverwirklichung mit Selbstoptimierung gleichgesetzt wird,
entsteht eine unerreichbare Utopie. Was der Regisseur Sönke Wortmann in
seinem Portrait der neurotischen Großstädterin Elizabeth von Nahem
betrachtet, durchdenkt der Soziologe Heinz Bude als gesellschaftliches
Phänomen. Am Montag erscheint Budes Buch „Gesellschaft der Angst“. Er
beschreibt, wie alle Bereiche des Lebens - Freunde, Familie, Hobbies, Liebe
- zu Punkten auf der Aufgabenliste werden. Zu Felder, in denen man den
Druck verspürt, erfolgreich zu sein. Dabei denken wir immer mehr in
Risikoszenarien, schreibt Bude. Was ist wenn ich diese Chance verpasse?
Risiko beinhaltet auch immer die Möglichkeit des Scheiterns.
## Selbstoptimierung ist eine Utopie
Dazu kommt laut Bude das „The Winner takes it all“-Bewusstsein. Wir wissen,
dass die Idee einer wohlhabenden und sozialen Gesellschaft quatsch ist.
Wenige bekommen viel Geld und viel Macht und viele bekommen sehr wenig
davon. Jeder möchte aber zu den wenigen gehören: Das erzeugt Stress. Und
Stress erzeugt Angst. Im Gegensatz zur „German Angst“, der kollektiven
Hysterie der Deutschen vor Waldsterben und Weltende, sei diese neue Angst
subtiler, versteckter. Ein permanentes Hintergrundgerausch.
In der Titelgeschichte der [1][taz.am wochenende vom 20./21. September]
gehen die taz-Autoren Sebastian Kempkens und Stefan Reinecke der Frage
nach, wie die Angst, die der Soziologe Heinz Bude beschreibt, die
Gesellschaft prägt. Dazu treffen sie Bude in seiner Berliner Wohnung,
besuchen eine Elite-Studentin, die Angst hat, arbeitslos beim Amt zu enden
und einen Softwareentwickler bei dem die Angst zur Depression wurde.
Weder die Studentin noch der IT-Spezialist „fürchten, dass ihnen etwas
weggenommen wird“, schreiben die Autoren. „Es ist eher die Angst, im
Irrgarten der Möglichkeiten nicht den richtigen Weg zu finden, es könnte
immer noch einen besseren geben, lautet der auf Dauer gestellte
Konjunktiv.“
Krankenkassen, Rentenversicherungen und Ärzteverbände verweisen schon seit
einigen Jahren auf den drastischen Anstieg von Krankheitstagen und
Gesundheitskosten durch psychische Erkrankungen. Vor zwanzig Jahren
spielten sie bei Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit noch nahezu keine
Rolle, 2013 waren sie der [2][zweithäufigste] Grund dafür. Eine Erklärung
für den Anstieg ist, dass Ärzte psychische Krankheiten mittlerweile öfter
als solche erkennen und nicht mehr Rückenschmerzen oder Schlaflosigkeit auf
den Krankenschein schreiben. Aber als rein statistische Verschiebung lässt
sich die Entwicklung dennoch nicht abschütteln.
## Luxusprobleme der Wohlstandgesellschaft?
In Deutschland leiden jedes Jahr [3][33,3 Prozent der Menschen unter einer
psychischen Erkrankung]. Am häufigsten sind Angststörungen, von denen
besonders Menschen zwischen 18 und 34 Jahren betroffen sind. Panikattacken,
Depressionen, Burnout. Sind das Mode-Diagnosen? Luxusprobleme der
Wohlstandgesellschaft? Selbst wenn im Einzelfall die Gründe von Panik banal
erscheinen, schreibt der Soziologe Heinz Bude, könne man aber niemanden
davon überzeugen, dass seine Ängste unbegründet sind.
Neue Formen von Stress am Arbeitsplatz kann jeder nachvollziehen, der sich
seine Dienstmails auf das private Handy leiten lässt. Gewerkschaften, SPD,
Grüne und Linke [4][fordern] nun ein Gesetz, das helfen soll Stress am
Arbeitsplatz zu reduzieren: Prävention und Einflussmöglichkeiten von
Betriebsräten sollen verstärkt werden. Arbeitgeber sträuben sich. Und auch
Befürworter diskutieren: Lässt sich Stress per Gesetz verbieten? Und was
wären sonst Wege, Druck und Angst im Alltag zu vermindern?
Was meinen Sie? Ist der gesellschaftliche Druck so gestiegen, dass er
automatisch krank macht? Kann diese Anzahl psychischer Störungen ein
Normalzustand sein? Oder sind wir einfach zu empfindlich geworden und
machen aus jedem Wohlstandsproblem eine Lebenskrise mit eigener
Modediagnose? Eine Gesellschaft voller Angsthasen und Jammerlappen?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Jetzt bloß keinen Fehler machen“ lesen Sie in der
[5][taz.am wochenende vom 20./21. September].
19 Sep 2014
## LINKS
[1] /!146241/
[2] http://psyga.info/psychische-gesundheit/daten-und-fakten/
[3] http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Sym…
[4] /!117359/
[5] /!146241/
## AUTOREN
Paddy Bauer
## TAGS
Depression
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Angststörungen
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