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# taz.de -- Zu Besuch in der Psychiatrie: Geschlossene Gesellschaft
> Jesus Christus trägt ein kariertes Jackett. Und Markus möchte nicht mehr
> leben. Ein Tag in Haar, Münchens größter Psychiatrie.
Bild: Allein im Tunnel: Auch wenn sich viel getan hat, gelten psychische Proble…
Zigarettenpause, das Telefon klingelt, die Polizei. Sie haben einen jungen
Kerl auf einer Parkbank gefunden. „Er möchte nicht mehr leben?“, fragt die
Ärztin. „Er sei uns willkommen.“ Dann drückt sie ihre Zigarette aus und
geht zurück in die Aufnahmestation.
Eine halbe Stunde später sind die Polizisten da. Sie bringen Markus. Er
trägt einen Kapuzenpullover, sein Gesicht ist weiß. In der Luft liegt
Schweiß, beißend, unangenehm. Markus starrt die grüne Wand an, dann den
Arzt gegenüber. Hinter Markus sind vier Stühle, für Polizisten und
Sanitäter. Ein Mensch im Wahn kann unvorstellbare Kräfte freisetzen.
Markus ist einer von rund dreißig neuen Patienten an diesem Tag im Klinikum
Haar, in der größten Psychiatrie in München. Er heißt nicht Markus, eine
Geschichte aus der Psychiatrie muss eine Geschichte mit falschen Namen
sein, noch immer. Das war die Bedingung, um einen Einblick zu bekommen. Und
natürlich reicht ein Tag nicht aus, um die Biografien der Patienten
wirklich auszuleuchten. Manchmal gelingt das den Ärzten in Wochen oder
Monaten nicht.
Lange galten Psychiatrien als Sammelbecken der Verrückten, Irrenanstalten.
Erst in den 1970er Jahren begann in Deutschland ein Dialog über die kranken
Seelen der Gesellschaft, leise, vorsichtig. Eine Expertenkommission stellte
damals fest: Sieben von zehn Patienten werden gegen ihren Willen behandelt.
Immer häufiger wurde nun die Frage nach den sozialen Ursachen psychischer
Erkrankungen gestellt. Psychiatrien in Deutschland fingen an, sich für die
Seelen ihrer Patienten zu interessieren.
Fast vierzig Jahre später, im Klinikum Haar, starrt Markus weiter an die
Wand. Seine Gesichtszüge verraten nichts. Wie lange er gegen seinen Willen
in der Klinik bleiben muss, will er wissen. Höchstens einen Tag, sagt der
Arzt, der das Aufnahmegespräch führt. Dann muss ein Richter entscheiden,
was mit dem Patienten passiert, so ist es gesetzlich geregelt in Bayern.
Markus zögert lange, bevor er das Formular schließlich unterschreibt. „Ich
kann nicht in ihn hineinschauen“, sagt der Arzt später. „Und wenn er sich
vor eine S-Bahn wirft, ist das auch blöd.“
## Gequält von Depressionen
Man denkt dann unweigerlich an den ehemaligen Nationaltorwart Robert Enke,
der im November 2009 keinen Ausweg gesehen hat, gequält von Depressionen.
Gleichzeitig gibt es auch positive Beispiele. Andere Prominente haben es
geschafft, mit ihren Erkrankungen umzugehen, sie zu überwinden. Sven
Hannawald, der Skispringer. Halle Berry, die Schauspielerin. Es hat sich
viel getan, aber psychische Probleme gelten für viele noch immer als Makel,
über den man nicht spricht.
Auch Laura hat lange nicht gesprochen, bis sie sich entschieden hat, nach
Haar in die Klinik zu kommen. Sie ist Mitte Zwanzig, hat in den letzten
Monaten fünfzehn Kilo zugenommen, erzählt sie. Nichts hält sie mehr am
Leben, außer die Angst davor, es zu beenden. „Haben Sie überlegt, wie Sie
es tun?“, fragt die Ärztin. Laura schüttelt den Kopf, kaum merklich. Sie
sagt, dass sie vor einigen Wochen arbeitslos geworden ist, erzählt von den
Abenden, an denen sie alleine im Bett liegt und weint.
Das bisher Unaussprechliche. Die Ärztin hört zu. „Wenn man sein Leid
aufbrechen will, muss man sein Leben verändern“, sagt sie. Laura wird
zunächst in der Klinik bleiben, freiwillig, vielleicht wird sie Medikamente
nehmen. In jedem Fall wird Laura eine Therapie brauchen.
Vor fünfzig oder hundert Jahren hätte es ein solches Gespräch nicht
gegeben. Verständnis, Nachfragen, Hilfsangebote. Damals hat man psychisch
Kranke nicht behandelt, sondern ausgelagert. Das Klinikum Haar bei München,
eröffnet 1905, ist angelegt wie eine Kleinstadt. Post, Kirche, ein kleiner
Friedhof. Man konnte hier früher ein ganzes krankes Leben verbringen.
## Geschlossene Abteilungen
Am deutlichsten spürt man das alte Verständnis von Psychiatrie in einer der
geschlossenen Abteilungen. Dritter Stock, schwere Türen, Schließanlagen.
Lisa, die als Krankenschwester in der Aufnahmestelle im Erdgeschoss
arbeitet, zeigt die Station. Auf dem Balkon rauchen zwei Männer vor
bruchsicherem Glas, eine Frau läuft durch die Gänge und verschenkt Bonbons.
An die Wand hat jemand einen Zettel gehängt, „Eine Schwalbe macht noch
keinen Sommer“ steht darauf.
Lisa öffnet die Tür zur Wachkanzel. Hinter einer Scheibe ein kleines Zimmer
mit einem leeren Bett. Die große Ausnahme, sagt Lisa, es gibt eigentlich zu
wenige Plätze. Die Betten hier sind überwachbar. Bei Menschen in einer
akuten Psychose kann ein unbeobachteter Moment einer zu viel sein. Von der
Wachkanzel aus sind zwei weitere Zimmer zu sehen: rechts ein Zimmer für
Frauen, links eines für Männer, jeweils fünf Betten. Auf einem davon sitzt
Markus, regungslos. Er schaut auf ein Fenster, das sich nicht öffnen lässt.
Lisa zieht die schwere Tür im dritten Stock hinter sich zu. Schnell noch
eine Zigarette vor der Tür. Sie hat als Krankenschwester lange auch in
einer geschlossenen Station gearbeitet. Aber vor ein paar Jahren haben sich
drei ihrer Patientinnen umgebracht, innerhalb kurzer Zeit, danach ging es
nicht mehr. „Natürlich zweifelt man dann“, sagt Lisa. Sie macht jetzt
hauptsächlich Papierkram, Bettenbelegung, solche Dinge. Lisa zieht an ihrer
Zigarette, an ihrem Handgelenk hat sie eine Tätowierung, einen Stern. „Der
Stern steht für Freiheit“, sagt sie.
Ein paar Minuten später läuft Jesus Christus in einem karierten Jackett
vorbei. In einigen Kirchen hat er Hausverbot, er ist immer wieder auf die
Kanzel gestiegen, um zu predigen. Jesus ist immer wieder in Haar. Wie ihn
gibt es hier auch andere Leute, die Stimmen hören, die sie zu Gott oder
seinem Sohn machen. Man hört sie manchmal in der U-Bahn murmeln. Und schaut
dann schnell aus dem Fenster.
## Lachen hilft immer
Es sind Leute wie Richard, der jetzt drinnen sitzt. Er sagt, er sei ein
Heiliger. Uringeruch, kurze, wirre Sätze. Richards Bart ist ungepflegt.
Furchen auf der Wange, die Biografie im Gesicht. Richard wird ambulant
betreut und hat beschlossen, seine Medikamente nicht mehr zu nehmen. Nicht
das erste Mal. Auch er bleibt.
Jährlich kommen mittlerweile rund 15.000 stationäre Patienten nach Haar.
Spürbar mehr als früher, sagt die Ärztin. Das liege auch daran, dass die
Familie für psychisch Kranke als Auffangbecken weggefallen sei. Aber
natürlich bedeuten mehr Patienten auch: viel Arbeit, mehr Stress. Wie geht
sie mit ihren Erlebnissen um, dem Leid, den Enttäuschungen? „Lachen hilft
immer“, sagt die Ärztin. „Und manchmal muss man sich klarmachen, dass man
nicht helfen konnte. Wenn jemand fest entschlossen ist, Suizid zu begehen,
wird man ihn nicht daran hindern können.“
Genauso wird man niemanden hindern können, seine Medikamente einfach
abzusetzen. Es ist ein Teufelskreis, wie bei Richard. Immer wieder hören
psychisch Kranke damit auf, ihre Tabletten zu nehmen, wenn es ihnen besser
geht. Psychopharmaka haben noch immer heftige Nebenwirkungen, sie machen
schläfrig, gereizt oder gleichgültig. Auch wenn die Zeiten längst vorbei
sind, in denen Patienten mit 20 Milligramm Haldol ruhiggestellt wurden.
Heute überlegt man sehr genau, ob 5 oder 3 Milligramm als tägliche Dosis
verschrieben werden.
In ein paar Minuten ist Schichtwechsel. Die Ärztin schaut aus dem Fenster.
Die Abendsonne scheint auf das rote Gebäude gegenüber, die Forensik. Dort
leben Straftäter, durch Zäune getrennt vom Rest der Kleinstadt mit ihren
gut tausend Betten. Darin schlafen Alte und Junge, Dicke und Dünne, Kluge
und Dumme. Jede Seele kann krank werden.
Dann die letzte Zigarette, draußen. Es gibt auch eine eigene Feuerwehr auf
dem Gelände, erzählt die Ärztin. Mehr als hundert Einsätze jährlich. Bei
manchen in Haar ist die Angst vor dem Leben größer als die Angst vor dem
Tod.
27 Aug 2014
## AUTOREN
Maximilian Heim
## TAGS
Psychiatrie
München
Suizid
Robert Enke
Psychische Erkrankungen
Bündnis 90/Die Grünen
Depression
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Tunesien
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