# taz.de -- Mollaths Verteidiger über den Prozess: „So arbeitet die Justiz“ | |
> Rechtsanwalt Gerhard Strate über das schwierige Verhältnis zu seinem | |
> Mandanten, den Zynismus der Richter und über Anwälte mit Pokerface. | |
Bild: Mollath und sein Anwalt Strate im Landgericht Regensburg. | |
taz: Herr Strate, wie viele Mollaths sitzen noch in den deutschen | |
Psychiatrien? | |
Gerhard Strate: Wahrscheinlich einige. Das liegt an der heutigen | |
Vormachtstellung der Psychiatrie in der Gesellschaft. Aber das kann ich nur | |
vermuten, konkrete Fälle kann ich nicht nennen. | |
Sie haben in den letzten eineinhalb Jahren mehrere Hundert Briefe von | |
Menschen bekommen, die sich ebenfalls für unschuldig verfolgt halten … | |
„Bei mir ist es noch zehnmal so schlimm“, hieß es da zum Teil. Das Problem | |
ist: Wenn man Mollath verteidigt, kann man die anderen Fälle nicht | |
gleichzeitig bearbeiten. Der Prozess hat mich bestimmt 1.400 Arbeitsstunden | |
und 50.000 Euro gekostet. Wir haben die Briefe aber alle sorgfältig | |
aufbewahrt, kein einziger wurde weggeworfen. | |
Wie unterscheiden Sie eingebildete Psychiatrieopfer von echten? | |
Auch wenn man sich von Vorurteilen freimachen muss, sind manche Fälle schon | |
am Schriftbild eindeutig zu erkennen. Aber genauer recherchieren konnten | |
wir bis auf ein oder zwei Ausnahmen kaum. Meine Büroleiterin hat die Briefe | |
von ihrer Art her unterteilt und schließlich fünf Arten von Standardabsagen | |
geschrieben. Wenn man die Briefe nicht beantwortet, kommen sie immer wieder | |
neu. Und dann folgen Anrufe. Die beiden Damen, die in unserer Kanzlei das | |
Telefon bedienen, waren häufig am Rande des Nervenzusammenbruchs. | |
Ihr Ziel war ein Freispruch für Mollath ohne Wenn und Aber. Jetzt hielt das | |
Gericht doch einen wichtigen Punkt, die an seiner Frau begangene | |
Körperverletzung, für erwiesen. Ist das eine Niederlage für Sie? | |
Ach was, ich bin guter Dinge nach Hause gefahren. Es wurden ja insgesamt | |
drei Vorwürfe gegen Mollath erhoben, wobei ich den der Reifenstechereien | |
besonders schlimm fand, weil er Mollath vor dem Landgericht Nürnberg im | |
ersten Prozess regelrecht angehängt wurde. Der Punkt wurde jetzt im | |
Wiederaufnahmeverfahren fallen gelassen. Die Reduktion auf den Vorwurf der | |
Körperverletzung bedeutet, dass das damalige Urteil auf jeden Fall ein | |
Unrechtsurteil war und Mollath mit der Einweisung in die Psychiatrie | |
massives Unrecht zugefügt wurde. | |
Und die Körperverletzung … | |
… ich habe versucht, darzulegen, dass die einzige Zeugin, Petra Mollath, in | |
dem gesamten Verfahren durch Lügen und Manipulationen aufgefallen ist. | |
Damit kann sie keine glaubwürdige Zeugin einer Körperverletzung sein. Aber | |
ich muss auch sehen, dass Gustl Mollath diesen Punkt des Urteils etwas | |
mitverschuldet hat. Man kann nicht auf der einen Seite, wie er, versuchen, | |
die großen Linien zu ziehen und, wenn man dann konkret angesprochen wird, | |
was war am Tag der angeblichen Tat, ganz vage bleiben und sagen: „Damit | |
will ich Sie nicht groß belasten.“ | |
Erst haben Sie Ihr Mandat niedergelegt und als dann das Gericht Sie zum | |
Pflichtverteidiger bestellte, wollte Mollath Sie ablösen lassen. | |
Mollath ist nicht einfach. Ich bewundere sowohl Mollath als auch mich, dass | |
wir beide so lange durchgehalten haben. | |
Bisher ist es schwer, bei einem Fehlurteil ein Wiederaufnahmeverfahren | |
durchzusetzen. Wird sich jetzt etwas daran ändern? | |
Kaum. Das größte Hindernis ist der Unwille der Strafjustiz, sich selbst zu | |
korrigieren. Auch wenn es viele gute Richter gibt: Insgesamt sitzt die | |
Strafjustiz auf einem hohen Ross. Wenn Sie fragen, warum ich solche | |
Verfahren trotz der hohen Unkosten mache: Mir bringt es eine große Freude, | |
die Justiz gelegentlich wieder zu Boden zu bringen, ihr eine Lektion zu | |
erteilen und ihr zu zeigen: So arbeitet ihr. | |
Sie sagten einmal, Fehlurteile seien große Ausnahmen. | |
Sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei der Polizei gibt es ein | |
relativ feines Gespür dafür, wer sich möglicherweise bestimmter Straftaten | |
schuldig gemacht hat. Wenn reihenweise Unschuldige verurteilt würden, | |
lebten wir in einem Land des Staatsterrorismus. Wir leben hier aber auf | |
einer Insel der Glückseligen. Die Quote eindeutiger Fehlurteile würde ich | |
bei 2 bis 3 Prozent taxieren. | |
Und die Fehler im ersten Mollath-Prozess lagen an einer Überlastung der | |
Justiz? | |
Nein, die Nürnberger Justiz war ignorant und vorurteilsbeladen. Wobei auch | |
ich meine Vorurteile habe: Als Otto Brixner, der Vorsitzende Richter des | |
ersten Verfahrens, jetzt in Regensburg als Zeuge vor mir saß, habe ich | |
insgeheim gedacht: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen ihm und dir? | |
Brixner denkt in 95 Prozent aller Fälle, dass die Angeklagten schuldig | |
sind, bei mir würde ich diesen Anteil vielleicht bei 90 Prozent ansetzen. | |
Diese kleine Differenz meint aber sehr viel: die Bereitschaft, zuzuhören | |
und Vorurteile zu revidieren. Diese Bereitschaft lässt bei den meisten | |
Justizjuristen mit den Jahren nach – wenn sie überhaupt einmal bestanden | |
hat. Die Mehrzahl in der Justiz besteht aus Zynikern wie Brixner. Er hat | |
den Mollath einfach abgeräumt und die Zeugen im 10-Minuten-Takt | |
durchgehustet. | |
Woher kommt der Zynismus? | |
Sie erleben so viele Enttäuschungen und Lügen, auch von Mandanten, dass sie | |
mit der Zeit nur noch schwerlich etwas glauben können. Meine erste | |
Erfahrung Anfang der 80er-Jahre war die mit einem Räuber. Der dachte, der | |
Anwalt ist besser, wenn ich ihm nicht die Wahrheit sage. Er sollte einen | |
Raubüberfall auf ein Juwelierehepaar in Hamburg begangen haben. Das hat er | |
bestritten und sich mit dem Alibi verteidigt, dass er bei seiner Schwester | |
in Norderstedt zum Tatzeitpunkt schwer krank darniederlag. | |
Aber dann hatte er noch einen angeblichen Beweis produziert, der gar nicht | |
nötig gewesen wäre, nämlich Freunde, die nach Norderstedt gekommen seien | |
und auf dem Weg für die Schwester drei Blumenkörbchen gekauft hätten. | |
Und das hatten sie nicht? | |
Sie hatten eine Quittung mit einem offiziellen Stempel vom Kaufhof. Aber | |
das war merkwürdigerweise kein Kassenbon. Sie war angeblich nachträglich | |
erstellt worden, weil der Kassenbon verloren gegangen sei. Und dann hatte | |
ich im Vertrauen darauf, dass mein Mandant und sein Umfeld mir die Wahrheit | |
sagten, einen Beweisantrag gestellt, nämlich sämtliche Kaufhof-Kassenrollen | |
vom entsprechenden Tag beizuziehen und diese Urkunden in der Verhandlung zu | |
verlesen. | |
Die meisten Richter hätten gesagt, diesen Einkauf unterstellen wir als | |
wahr, aber dieser Richter ließ sich durch den Antrag nicht erpressen und | |
ließ die Rollen kommen. Wir haben dann drei Tage Kassenrollen verlesen – | |
die Preise für die Blumenkörbchen tauchten nirgendwo auf. Das war natürlich | |
für den Verteidiger eine große Pleite. | |
Sie arbeiten in Ihrem Beruf schon seit 35 Jahren. Gibt es auch so etwas wie | |
die Schönheit von Jura, etwa in Schriftsätzen ganz elegant Gemeinheiten | |
formulieren zu können? | |
Natürlich. Die Kunst des Anwalts – es gibt die Kunst auch bei Richtern, | |
aber dort ist sie weniger verbreitet – besteht darin, dass man Dinge | |
pointiert. Als Anwalt muss man sowohl in den Schriftsätzen wie den | |
mündlichen Ausführungen immer ein klares Ziel vor Augen haben. Wenn Sie | |
Revisionsschriften verfassen, die 100 Seiten übersteigen, haben Sie meist | |
schon verloren. Das liest keiner. Sie haben die höchste Erfolgsquote, wenn | |
Sie sich auf ein, zwei gute Revisionsgründe konzentrieren. Und Sie müssen | |
genau analysieren, was die Schwächen der eigenen Position sind. | |
Wo haben Sie Ihre rhetorischen Mittel gelernt? | |
Ich gehe gerne ins Kino, ging früher auch gerne ins Theater. Eine gewisse | |
Schauspielerei gehört nicht nur zu meinen Neigungen, sondern auch zu meinem | |
Charakter. Wenn man diesen Job macht, muss man in bestimmten Situationen | |
ein Pokerface behalten. Man muss in manchen Situationen laut werden – und | |
sich schnell wieder herunterfahren können. Meistens beantrage ich eine | |
Pause und werde danach wieder friedlich. Und man muss natürlich auch | |
gewisse Stilmittel benutzen, aber die lernt man nicht im Studium … | |
...die lernt man im Kino... | |
… nein, die ergeben sich aus der Sache. Bei einem Plädoyer ist nichts | |
schlimmer als mit „der hat gesagt“ und „der hat gesagt“ zu argumentiere… | |
Man muss, gestützt auf die Beweisaufnahme, Geschichten erzählen. Ein | |
zweites Stilmittel ist das historische Präsens. Wenn man das benutzt, wirkt | |
es wie eine Handlung, die gerade abläuft. Da hören die Leute gerne zu. | |
Bei der Urteilsverkündung hatten Sie aber kein Pokerface. Als die Richterin | |
sagte, die Einlassung von Herrn Mollath zur Körperverletzung sei nicht sehr | |
ausführlich gewesen, haben Sie geschmunzelt. Warum? | |
Weil sie damit unseren wunden Punkt getroffen hatte. Dennoch: Ich bin mit | |
dem Mollath-Urteil zufrieden. Es ist nicht alles, was wir erreichen | |
wollten, aber das geschieht in der Strafjustiz kaum einmal. Die klassische | |
Konstellation „Freispruch oder ’lebenslänglich‘“ gibt es ganz selten. … | |
habe sie als Strafverteidiger fünfmal erlebt. Dreimal gab es einen | |
Freispruch, zweimal „lebenslang“. | |
Man muss sich mit Kompromissen abfinden. | |
Nicht damit abfinden, aber wissen, dass die Justiz so funktioniert. Auch | |
das Regensburger Gericht hat sich ja einen Kunstgriff erlaubt, als die | |
Richterin aus heiterem Himmel Mollath bei dem verbliebenen Vorwurf eine | |
nicht ausschließbare Schuldunfähigkeit attestierte. Dabei gab es hierfür im | |
Jahr 2001 keinerlei Anhaltspunkte, auch die Staatsanwaltschaft sah das so. | |
Aber auf diesem Weg hat die Richterin Mollath um die Revision gebracht. Ich | |
will nicht sagen, dass sie das gezielt gemacht hat, aber sie war sich | |
sicher des Nebeneffektes bewusst. | |
Das ist auch eine Form juristischer Eleganz, aber vermutlich für Angeklagte | |
schwer zu akzeptieren. | |
Natürlich, da verstehe ich Gustl Mollath völlig. | |
21 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Lisa Schnell | |
Martin Reeh | |
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