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# taz.de -- Polizeigewalt in Nordrhein-Westfalen: Drei Schüsse, ein Leben
> Ein junger Mann wird bei einem Polizeieinsatz fast erschossen.
> Anschließend versucht die Justiz alles, um ihn in die Psychiatrie
> einweisen zu lassen.
Bild: Wie reagierten die Polizisten auf Martin P.? (Bild von einer Polizeiübun…
HEINSBERG taz | Am Abend des 10. September 2013 berührt der Mechaniker
Martin P. die Notruf-Fläche seines Smartphones. Zwei Stunden später liegt
er mit drei Schüssen in Brustkorb und Bauch in einer Klinik.
Eigentlich wollte P. einen Arzt in sein Haus nach Heinsberg rufen.
Stattdessen kommen Polizisten. Er habe Panik verspürt, deswegen habe er die
„Notruf“-Funktion betätigt, erklärt P. den Anruf viel später – nachdem…
aus dem künstlichen Koma erwacht ist.
Um 21:47:25 Uhr nimmt ein Hauptkommissar der Leitstelle in Heinsberg den
Anruf entgegen. Was passiert sei, fragte der Beamte, der sich mit
„Polizei-Notruf“ meldet. Martin P. teilt dem Mann mit, er brauche Hilfe. Er
habe Mist gebaut, es sei ein Notfall. So steht es im polizeilichen
Wortlautprotokoll, das die taz.am wochenende einsehen konnte.
Ob es eine verletzte Person gebe?, erkundigte sich der Polizist. Ja, sagt
Martin P. Und ja: Er sei selbst diese verletzte Person. Was er getan habe?
Da bricht das Gespräch ab.
Der Hauptkommissar könnte dann, nach dem Anruf, den entscheidenden Fehler
begangen haben. Er telefoniert mit dem Kollegen der Wache West in
Heinsberg. Neben Martin P. gebe es eine weitere verletzte Person, habe er
gesagt. So werden das zumindest die am Einsatz beteiligten Beamten später
darstellen.
Gegen 22 Uhr klingeln die vier Polizisten an der Haustür von Martin P. Der
öffnet die Tür und schließt sie sofort wieder. Auf die Beamten wirkt er
ängstlich. Sie gehen von einer weiteren verletzten Person aus, die sich
vielleicht sogar in Lebensgefahr befindet. Sie rufen: Polizei! Martin P.
öffnet.
## Drei Schüsse, gleicher Beamte
Nach Recherchen der taz soll sich aus Sicht der Polizisten nun Folgendes
abgespielt haben: Furchterfüllt, mit weit aufgerissenen Augen, soll P.
ausgesehen haben. Es sei etwas geschehen, habe er gesagt. Zwei der vier
Beamten reden mit ihm. Die anderen beginnen, nach der zweiten Person im
Haus zu suchen.
Martin P. will durch den Flur davonlaufen, doch die beiden anderen
Polizisten kommen ihm entgegen. Sie versuchen, ihn aufzuhalten. Er ruft um
Hilfe, immer wieder. Die Beamten versuchen, ihn zu beruhigen.
P. will durch das Fenster im Wohnzimmer fliehen. Doch die Rollläden sind
verschlossen.
Fußspuren an der Wand und Blutlachen auf dem Boden deuten nach dem Einsatz
auf eine brutale körperliche Auseinandersetzung hin. Den Beamten gelingt es
nach eigenen Angaben nicht, P. zu fixieren.
Sie hätten, sagen sie später aus, mehrfach mit flachen Händen gegen seinen
Kopf geschlagen, um den Widerstand zu brechen. Mehrfach setzen sie
Pfefferspray ein. Martin P., so behaupten sie, scheint dagegen immun. Die
Beamten müssen dem Reizgas im geschlossenen Raum ausweichen. Dann habe sich
P. in Richtung Wintergarten bewegt. Wieder Pfefferspray. Wieder ohne
Wirkung. P. habe nun eine Tasse drohend in die Hand genommen. Einer der
Beamten im Wintergarten habe die Hand an die Dienstwaffe gelegt. Martin P.
habe aus der Schublade ein Brotmesser mit Wellenschliff geholt, nicht auf
Warnungen reagiert, das Messer nicht fallen lassen und sich auf die Beamten
im Wintergarten zu bewegt.
Zwei schnell hintereinander abgefeuerte Schüsse. Gezielt auf die
Körpermitte. Martin P. habe kurz innegehalten und sei dann weitergelaufen.
Dritter Schuss. Gleicher Beamter.
P. gelangt noch durch eine Tür in die Garage, von dort auf die Einfahrt, wo
er zusammenbricht und liegenbleibt.
## Fast verblutet
Eine Stunde nach seinem Notruf holt Martin P. tatsächlich ein Arzt ab. In
der Universitätsklinik Aachen beginnt eine mehrstündige Operation. Zwei Mal
wird er in jener Nacht im September reanimiert. Erst drei Wochen später
befindet er sich nicht mehr in Lebensgefahr.
Seitdem sorgen sich seine Eltern nicht nur um die Gesundheit ihres Sohnes.
Sie fürchten sich plötzlich vor einer Instanz, der sie bisher vertraut
hatten: dem Staat. Denn der Einsatz wirft viele Fragen auf. Doch sowohl die
Staatsanwaltschaft Aachen wie auch das dortige Amtsgericht konzentrieren
sich darauf, Martin P. einstweilig in einer Anstalt unterzubringen.
Die Projektile des Beamten treffen ihn in den Brustkorb und den Bauch.
Seine Lunge, das Zwerchfell und eine Vene sind durchschlagen, die Leber ist
teilweise zerrissen, die Blase geplatzt, ein Geschoss steckte im
Hüftgelenk. Die Bauchspeicheldrüse ist komplett zerfetzt. Zehn Leute
arbeiten die Nacht im OP durch. Martin P. hat kaum noch Blut im Körper, als
er eingeliefert wird. „Der war fast leer“, soll ein Krankenpfleger gesagt
haben.
Leitender Chirurg in dieser Nacht ist Christoph Heidenhain, 42 Jahre alt,
der stellvertretende Direktor der Klinik. Schon kurz nach der Operation
ruft ein Polizist ihn an und fragt, ob er Beamte schicken solle, um Martin
P.s Krankenzimmer zu bewachen. Er fragt nicht, wie es dem Mann geht, dem
der Mediziner gerade das Leben gerettet hat. Heidenhain verblüfft das noch
heute. „Der verblutet gerade, und die wollen ihn bewachen“, sagt er Monate
später in einem Restaurant in Aachen.
## Können Kugeln um die Ecke fliegen?
Es bleibt nicht die einzige Ungereimtheit. Heidenhain beschließt deswegen
im Januar 2014, seine Erlebnisse in einem Gedächtnisprotokoll festzuhalten.
Das Dokument liegt der taz vor. Die sieben eng bedruckten Seiten lassen
Zweifel an der Arbeit der Ermittlungsbehörden und des Amtsgerichts Aachen
aufkommen. Sie beschreiben die Zeit vom 10. September 2013 bis zum 18.
November 2013 – dem Tag der Entlassung von Martin P. aus der Klinik.
Schon während der Operation rätselt der Arzt über den ungewöhnlichen
Schusskanal. Wenige Tage nach der OP ruft ein Rechtsmediziner aus Köln an
und erkundigt sich nach der Schussverletzung. Heidenhain schildert ihm, wie
ein Projektil Organe durchschlug, die in stehender Position teils
übereinanderliegen.
„Ich habe den Rechtsmediziner gefragt, ob Kugeln um die Ecke fliegen
können“, sagt er im Restaurant. „Doch der Mann hat mir gar nicht richtig
zugehört.“
Das Geschoss durchschlug die Leber, Lunge, Zwerchfell, oberen Dickdarm,
Pankreaskopf und die Hohlvene. Um diese Körperteile mit einem Schuss zu
durchlöchern, müsste Martin P. sehr steil von schräg oben getroffen worden
sein, vermutlich in einer stark nach vorne gebeugten Position. So
interpretiert der Chirurg die Verletzung. Weder die Staatsanwaltschaft noch
die Polizei Aachen waren bereit, sich zu den Ermittlungen zu äußern.
Der Rechtsmediziner aus Köln, erzählt Heidenhain, habe nach zehn Minuten
gesagt, er wolle sich eventuell noch einmal melden. „Von diesem Herren, an
dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, habe ich bis heute nichts mehr
gehört.“
## Stand Martin P. gebeugt?
Recherchen der taz zufolge rief der Rechtsmediziner Dr. G. im Auftrag eines
Kriminalhauptkommissars des Polizeipräsidiums Aachen an. Später teilte Dr.
G. dem Kommissar mit, dass die zweite Schussverletzung leicht absteigend
verlaufe. Die dritte Schussverletzung findet zunächst keinerlei Erwähnung.
Dabei hatte Heidenhain den Kollegen darüber informiert, dass „einer der
drei Schüsse nicht in eine stehende Person eingedrungen sein konnte“. Der
Schussverlauf spreche für einen „stark gebeugten Zustand“. Eine Position,
die schwer zum Bild des aggressiven Angreifers Martin P. passt.
Kurze Zeit später, am 23. Oktober 2013, meldet sich ein Mitarbeiter einer
Psychiatrie aus Köln und fragt, wann Martin P. transportfähig sei für eine
Verlegung in die Forensik nach Essen. Heidenhain ist verwundert, denn der
Mann bezieht sich auf den Paragrafen 126 a der Strafprozessordnung, den der
Chirurg nicht kennt.
Auf seine Nachfrage schickt ihm der Mann das Gutachten der Psychiaterin J.
Obwohl sie Martin P. zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht befragen konnte,
diagnostiziert sie eine psychiatrische Erkrankung und empfiehlt die
Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Selbst beim „wiederholten
Lesen konnte und kann ich dieser Logik und Sinnhaftigkeit nicht folgen“,
schreibt der Mediziner in seinem Protokoll.
Er nimmt Kontakt zur Staatsanwaltschaft auf. Doch auch der Staatsanwalt M.
sei „auf keinen meiner Kritikpunkte und meine Fragestellungen eingegangen“.
Der Mediziner ruft nun den Richter E. des Amtsgerichts an. „Ich versuchte
ihm telefonisch zu erläutern, dass keine seiner geschilderten Gründe oder
Annahmen sich mit dem deckten, wie ich Herrn P. hier im Krankenhaus nun
seit einiger Zeit erlebe. Auch Herr E. gab sich telefonisch sehr
zurückhaltend und sagte, dies sei nicht seine Aufgabe, dies mit mir zu
diskutieren.“
## Ermittlungen gegen das Opfer
Christoph Heidenhain arbeitet mittlerweile als Chefarzt einer Klinik in
Düsseldorf, doch der Fall lässt ihn nicht los. Er zweifelt daran, dass die
Behörden aufklären wollen, was am Tatabend geschah. Auch nach über einem
Jahr wurde er selbst nicht befragt. Eine Psychiaterin soll den Mediziner
bereits als befangen bezeichnet haben.
Was ist das für ein Polizeieinsatz, bei dem es vier Beamten nicht gelingt,
einen 26 Jahre alten Mann zu überwältigen? Bei dem ein Polizist seine
Dienstwaffe einsetzt und dabei drei Mal in die Mitte des Körpers schießt?
Ermittelt wird in die andere Richtung: gegen Martin P.
Noch am Abend des Einsatzes erstatten die beteiligten Polizisten
Strafanzeige wegen versuchten Totschlags. Der Kollege, der die Anzeige
aufnimmt, war nach Recherchen der taz selbst am Einsatz beteiligt.
In dieser Strafanzeige gegen P. wird nun explizit eine weitere verletzte
Person genannt. Obwohl Martin P. laut Telefonprotokoll bei seinem Notruf
nie von einer zweiten Person sprach. Und obwohl die Polizisten im Haus
keine weitere Person vorfanden.
## Diagnose aus der Ferne
Erstaunlich schnell in der Bewertung des Geschehens ist auch Richter E. des
Amtsgerichts Aachen. Nur acht Tage später, am 18. September 2013, erlässt
er einen Unterbringungsbefehl für die Psychiatrie gegen Martin P. Die
Grundlage dafür: Paragraf 126 a der Strafprozessordnung. Demnach kann „das
Gericht durch Unterbringungsbefehl die einstweilige Unterbringung in einer
dieser Anstalten anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert.“
Martin P., ein gelernter Verfahrensmechaniker für Kunststofftechnik, der
bisher weder strafrechtlich noch psychiatrisch auffällig geworden war,
liegt da noch auf der Intensivstation der Uniklinik und wird künstlich
beatmet.
Eine Grundlage für den Unterbringungsbefehl bildet das Gutachten der
Psychiaterin J., die von Staatsanwalt M. dazu beauftragt wurde. Schon eine
Woche nach der Tat und ohne je mit dem Verletzten gesprochen zu haben,
diagnostiziert sie: Er leide vermutlich an einer Psychose, sei gefährlich
für die Öffentlichkeit und müsse deswegen einstweilig in einer Anstalt
untergebracht werden.
Die Psychiaterin stützt sich dabei vorwiegend auf Gespräche mit Bekannten,
zudem seien bei dem Beschuldigten ein Schwert und eine Maschinenpistole
gefunden worden, außerdem habe auch P.s Mutter eine psychische Krankheit
gehabt. All dies weise auf eine paranoide Psychose aus dem Formenkreis der
Schizophrenie hin, meint sie.
## Ein junger Mann hat sich übernommen
Ein anderer Psychiater, der Martin P. im Januar 2014 zahlreichen Tests und
Gesprächen unterzieht, hält das Vorgutachten seiner Kollegin für unseriös.
Allein, dass sie nicht darauf hinweise, dass es sich bei dem gefundenen
Schwert und der Maschinenpistole um Dekorationswaffen handele und diese
Geschenke des Bruders und des Nachbarn von Martin P. gewesen seien, lasse
ein verzerrtes Bild von Martin P. entstehen. Er hält die Expertise seiner
Kollegin für nicht haltbar. Der Patient stelle keine Gefahr dar. Den Eltern
gelingt es, die Unterbringung juristisch abzuwehren. Doch wenn Martin P.
entgegen der Hypothese der Staatsanwaltschaft nicht psychiatrisch auffällig
wäre: Was war der Auslöser für seinen merkwürdigen Notruf?
Seine Eltern erzählen von den Monaten vorher, die für ihren Sohn sehr
belastend gewesen seien. Jeden Tag sei er nach der Arbeit auf die Baustelle
seines Hauses gefahren. Er hatte es gerade gekauft. Die Wochenenden, nahezu
jede freie Minute, habe der Sohn den roten Backsteinbau entkernt. Er setzte
ein neues Dach auf, brachte Stuck an die Decke im Wohnzimmer, baute ein
neues Bad ein und verwandelte den muffigen Anbau in einen Wintergarten. Ein
Kredit, ein Eigenheim, mit 26 Jahren. Alles musste bei Martin P. perfekt
sein, sagt sein Vater.
Ein junger Mann hatte sich emotional und körperlich übernommen – das wäre
eine mögliche Interpretation der Ereignisse. So lautet auch die Erklärung
des psychiatrischen Gutachtens vom Januar 2014: Der Notruf war die Folge
eines Burn-outs.
Doch das akzeptieren die Ermittlungsbehörden nicht. Und so beauftragt die
Staatsanwaltschaft Aachen, nachdem das erste Gutachten zurückgewiesen
wurde, die gleiche Gutachterin noch einmal in der Sache. Sie soll den
Schwerkranken diesmal persönlich kennenlernen. Nach dem Treffen kommt sie
zu dem Ergebnis, dass die einstweilige Unterbringung in einer Psychiatrie
nicht mehr nötig sei.
Zu diesem Zeitpunkt liegt bereits ein weiteres entlastendes Gutachten eines
Professors der Uniklinik Aachen vor.
## Kein Kommentar von Richter und Staatsanwalt
Doch Richter E. und Staatsanwalt M. ordnen schon wieder eine Begutachtung
durch die Erstgutachterin an. Die Eltern reichen einen Befangenheitsantrag
ein. Der ermittelnde Staatsanwalt schreibt daraufhin Anfang März, eine
Ablehnung der Gutachterin könne als ein Ausdruck der fortschreitenden
Erkrankung des Martin P. interpretiert werden. Die Ablehnung, schreibt er
weiter, könnte ein Anlass sein, womöglich erneut den Paragrafen 126 a
anwenden zu müssen: wieder die einstweilige Unterbringung in einer
Psychiatrie.
Es klingt wie eine Drohung. Erneut legen die Eltern Beschwerde ein.
Schließlich hebt das Oberlandesgericht Köln am 8. August den Beschluss auf
und gibt den Eltern recht. Eine erneute Begutachtung sei nicht nötig. Die
Richter verweisen darauf, dass es sinnvoll gewesen wäre, insbesondere den
operierenden Chirurgen Christoph Heidenhain zu hören. Doch das haben weder
Richter noch Staatsanwalt getan.
Der Arzt schildert das Geschehen in seinem Gedächtnisprotokoll: Am 28.
Oktober kommen die beiden in die Klinik. Sie wollen Martin P. den ersten
Unterbringungsbefehl für die Anstalt überbringen. Richter E. habe sich
„vehement“ verwahrt, sagt Heidenhain. Er schreibt, es „stünde mir nicht …
seine Beschlüsse zu kritisieren, auch sei er nicht bereit, das mit mir zu
diskutieren. Ich merkte mehrmals an, dass meiner Meinung nach dieser
Patient nicht schizophren, nicht psychotisch und nicht psychisch auffällig
sei.“ Doch noch am Krankenbett sei Martin P. der Beschluss verlesen worden.
Nachdem sie das Krankenzimmer verlassen haben, fragt Heidenhain, warum
weder Richter noch Staatsanwalt Martin P. anhören wollten. „Ich bot ihm an,
ihm die von uns eingeholten psychiatrischen Konsile am Computer zu zeigen,
bei denen zumindest die letzten beiden eine psychiatrische Störung sowie
Fremd- sowie Eigengefährdung für höchst unwahrscheinlich einschätzen.
Richter E. lehnte dies entschieden ab.“ Weder Richter E. noch Staatsanwalt
M. waren gegenüber der taz bereit, sich zu ihrem Vorgehen zu äußern.
Heidenhain erklärt Martin P. für transportunfähig. Von nun an bewachen ihn
zwei bewaffnete Polizisten in der Klinik.
Wenig später erreicht den Mediziner der Anruf einer Stationsschwester. Sie
sagt, „ein ihr fremder Herr würde den Patienten visitieren“. Der fremde
Herr entpuppt sich als ein Arzt der Justizvollzugsanstalt Düren. Er sei von
der Forensik in Essen beauftragt worden, den Patienten zu untersuchen.
Heidenhain wird wütend: „Ich weise darauf hin, dass er sich weder bei uns
im Sekretariat der Chirurgie noch bei mir als stellvertretender Leiter der
Klinik, noch bei der Stationsschwester, noch an anderer Stelle angemeldet
hätte.“ Das nützt allerdings nichts. „Der Herr versuchte dies mehrfach zu
beschwichtigen. Ich drohe daraufhin mit dem Wachdienst.“
## Eine Kugel steckt noch neben seinem Herzen
Viele Fragen bleiben offen. Etwa nach der Wirkung der Geschosse. Die
Polizei in NRW verwendet die 9-Millimeter-Munition „Action 4“ des Schweizer
Herstellers Ruag. Als vorrangiges Ziel einer solchen „Deformationsmunition“
nennt das Polizeitechnische Institut die „sofortige Angriffs- oder
Fluchtunfähigkeit“. Der Vorteil bestehe darin, dass ein Projektil so viel
Energie im Körper abgibt, dass es stecken bleibt. Die Verletzung
Unbeteiligter durch austretende Geschosse sei durch diesen ballistischen
Effekt ausgeschlossen.
Bei Martin P. riss eines der Projektile einen acht mal acht Zentimeter
großen sternförmigen Krater in die Leber. Alle drei Kugeln stecken – nach
bisher 14 Operationen – noch in seinem Körper. Eine direkt neben seinem
Herzen.
Chefarzt Christoph Heidenhain wurde bis heute nicht gehört. Eine Anzeige
der Eltern gegen den Polizeischützen hat die Staatsanwaltschaft am 3.
November eingestellt. Auch hier wird als Grund wieder genannt, dass die
Beamten von einer weiteren verletzten Person hätten ausgehen müssen.
Entgegen der Beschreibung der Munition wird auch darauf abgehoben, dass bei
P. angeblich keines der drei Geschosse eine Handlungsunfähigkeit erzielt
hätte. Oberstaatsanwalt Peter Jansen teilt mit, es bestünden „keine
zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten der
eingesetzten Polizeibeamten“.
Wer die Eltern von Martin P. besucht, trifft eine Familie im
Ausnahmezustand. Auch deshalb heißt P. hier nur P. Seit mehr als einem Jahr
bangen sie um die Gesundheit ihres Sohnes. Sie fuhren mehrere zehntausend
Kilometer mit dem Auto, um ihn im Krankenhaus zu besuchen. Sie gaben um die
20.000 Euro aus – einen großen Teil für die juristische Auseinandersetzung.
Ende September 2014 erleidet der Vater, ein kräftiger Mann, einen schweren
körperlichen Zusammenbruch.
Kurz zuvor musste sein Sohn erneut ins Krankenhaus. Eine Verkapselung mit
Wundsekret in der immer wieder brüchigen Bauchwunde musste aufgestochen
werden. Martin P. hatte bis Februar 2014 einen künstlichen Darmausgang.
Seit der ersten Operation, bei der ihm die Bauchspeicheldrüse entfernt
werden musste, leidet er an einer schweren Diabetes. Insgesamt verbrachte
er bisher 18 Wochen im Krankenhaus.
Anfang September erfährt die Familie, dass Martin P. erneut psychiatrisch
begutachtet werden soll. Es gehe um die Frage, ob bei ihm die Voraussetzung
für eine Unterbringung in einer Psychiatrie vorliege – die Frage, die
bereits von diversen Gutachten, Medizinern und Psychiatern verneint wurde.
10 Dec 2014
## AUTOREN
Kai Schlieter
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Psychiatrie
Justiz
Polizei
Weimar
Ermittlungsverfahren
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Gustl Mollath
Schwerpunkt Rassismus
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