| # taz.de -- Polizeigewalt in Deutschland: Mit dem Gesicht im Dreck | |
| > Über 2.100 Polizisten wurden 2014 wegen Gewalttätigkeit angezeigt. Nur 33 | |
| > wurden angeklagt. Ihre Opfer hingegen landen oft vor Gericht. | |
| Bild: Polizisten müssen manchmal Gewalt anwenden – aber nicht gegen friedlic… | |
| Berlin taz | An einem Sonntagabend im Herbst 2014 will eine Band auf dem | |
| Kölner Friesenplatz „Liebe verbreiten“. Rund 30 Menschen hören zu. Ein Ma… | |
| vom Ordnungsamt verbietet die elektrische Verstärkung, die Umstehenden | |
| protestieren: Es wohnten doch gar keine Anwohner in der Nähe. Man ruft die | |
| Polizei. | |
| Die Beamten rücken an, angeblich kommen sie von einem Einsatz bei einem | |
| Fußballspiel, vielleicht sind sie deshalb so geladen. Ein Polizist mit | |
| langem Bart steigt mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Wagen, berichten die | |
| Musiker. [1][Dann geschieht das hier.] Der Polizist reißt den Musiker | |
| Marius Bielefeld zu Boden und drückt sein Gesicht auf das mit Glasscherben | |
| bedeckte Pflaster. Dabei verdreht er ihm den Arm. Zwei weitere Beamte | |
| unterstützen den Polizisten. Die Umstehenden beginnen zu schreien. Einer | |
| der Zuschauer filmt die Szene mit dem Handy. Später zeigt er den Polizisten | |
| an, gemeinsam mit fünf andere Zeugen. | |
| Man sieht in dem Film nicht, ob und wie Marius Bielefeld sich gegen die | |
| Beamten gewehrt hat. Aber er wird angezeigt wegen „Widerstands gegen | |
| Vollstreckungsbeamte“. Bei der Verhandlung spielt der Bielefelder Anwalt | |
| Dominik Maraffa der Richterin das Handyvideo vor. Diese ist überrascht, | |
| dabei war das Video der Polizei lange zuvor übergeben worden. Marius | |
| Bielefeld wird daraufhin freigesprochen. Die Staatsanwältin verspricht, | |
| Schritte gegen den Polizisten einzuleiten. | |
| Doch nichts passiert. Und auch die Anzeige der sechs Zeugen verläuft im | |
| Sande. Am Ende hat die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, | |
| ohne die sechs Anzeigenerstatter schriftlich darüber zu informieren, obwohl | |
| Staatsanwälte dazu rechtlich zwingend verpflichtet sind. Dominik Maraffa, | |
| der Anwalt des Musikers, weiß, dass der Fall beim Kölner Kommissariat | |
| untersucht wurde, hausintern also. In der Abschlussbemerkung hätten die | |
| untersuchenden Beamten geschrieben, sie sähen „keinen hinreichenden | |
| Tatverdacht“ – obwohl auch sie das Video kannten. | |
| ## Eine fast durchgängigen Straflosigkeit | |
| Vor einigen Monaten hat [2][correctiv.org] erstmals genaue [3][Zahlen zur | |
| Polizeigewalt] veröffentlicht – und von der fast durchgängigen | |
| Straflosigkeit berichtet. Jetzt liegen exklusiv die Zahlen für 2014 vor: | |
| Demnach wurden in dem Jahr 2138 Polizisten wegen Körperverletzung von | |
| Bürgern angezeigt. Nur gegen 33 Polizisten haben die zuständigen | |
| Staatsanwaltschaften Anklage erhoben – ganze 1,5 Prozent. Wie viele | |
| Polizisten tatsächlich verurteilt wurden, wird nicht statistisch erhoben. | |
| Es dürfte – wenn überhaupt – eine Handvoll sein. | |
| Ganz anders die Gegenseite: Wer einen Polizeibeamten anzeigt, erhält meist | |
| umgehend eine Gegenanzeige wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. | |
| Diese wurden in fast allen Fällen von einer Staatsanwaltschaft zur Anklage | |
| gebracht. Rund ein Viertel der Angeklagten wurde am Ende auch verurteilt. | |
| Martin Rätzke ist Sprecher der Organisation Victim Veto, die Opfer von | |
| Polizeigewalt vertritt. „Wird gegen Polizisten ermittelt“, sagt Rätzke, | |
| „nimmt das Bild vom Rechtsstaat immer schweren Schaden.“ Tobias | |
| Singelnstein, Professor für Strafrecht an der FU Berlin, sieht innerhalb | |
| der Polizei eine „Mauer des Schweigens“. Die Beamten verweigerten Aussagen | |
| und deckten sich gegenseitig, schreibt der Jurist in einem [4][Aufsatz]. | |
| „Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen – weder nach oben noch | |
| an die Öffentlichkeit“, hat im vergangenen Jahr Rafael Behr festgestellt, | |
| Professor an der Polizeiakademie Hamburg. Anstatt in den eigenen Reihen zu | |
| ermitteln, verfolgten Polizei und Justiz ihre Opfer. | |
| ## Kritik von Amnesty International und von der UNO | |
| Kritik kommt auch von Amnesty International und dem Menschenrechtsrat der | |
| UN. Der fordert seit Jahren „unabhängige Behörden zur Strafverfolgung von | |
| Polizisten, ohne hierarchische oder institutionelle Verbindung zwischen | |
| Beschuldigtem und Ermittlern“. In Deutschland gibt es bisher nur in | |
| Rheinland-Pfalz eine unabhängige Ermittlungsstelle, die einzig dem Landtag | |
| untersteht. | |
| In einigen Bundesländern existieren immerhin Beschwerdestellen in den | |
| Innenministerien. „Es wäre ein Systembruch, Ermittlungen aus der Polizei | |
| und dem Inneren herauszuziehen und in der Justiz anzusiedeln“, sagt Eric | |
| Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Dies sei aber nötig, | |
| damit Bürger Zugang zu unabhängigen Ermittlungen erhalten. | |
| An einem eisigen Januarmittag fährt der Rentner Ulrich Trippler mit dem | |
| Fahrrad nach Hause; er trägt nebenher Briefe aus. Trippler hat es eilig. Er | |
| leidet unter schwerer Diabetes, hat fünf Bypässe, eben hat er sich Insulin | |
| gespritzt. Nun fühlt er sich unterzuckert. Trippler fährt Schlangenlinien. | |
| Man könnte denken, er sei betrunken. Trippler bemerkt den Streifenwagen | |
| zunächst nicht. Zwei Polizisten steigen aus. Sie fordern ihn auf, in ein | |
| Alkoholmessgerät zu pusten. | |
| ## Zwei Streifenbeamte reißen einen Rentner zu Boden | |
| Trippler weigert sich. Sie sollten ihm stattdessen Blut abnehmen, dann | |
| würden sie sehen, dass er zuckerkrank sei. Es kommt zum Wortgefecht, in | |
| dessen Verlauf die beiden Polizisten den Rentner zu Boden reißen und ihn | |
| dort eine Viertelstunde lang fixieren. Trippler gerät in Panik. Er sagt den | |
| Beamten, er sei krank, er habe mehrere Bypässe. Das könne ja jeder | |
| behaupten, ist ihre Antwort. | |
| So hat es Trippler vor Gericht bezeugt. Es gibt einen, der Tripplers | |
| Darstellung bestätigt: Klaus Krawietz, viele Jahre Schöffe an Göttinger | |
| Gerichten. An jenem Tag steht Krawietz in der Küche seines Hauses, als er | |
| Gebrüll hört. Er sieht einen älteren Herren auf dem Gehweg liegen, über ihm | |
| zwei Polizisten, die sein Gesicht in den Splitt pressen. „Wie ein Stück | |
| Vieh wurde der Mann auf den Boden gedrückt“, sagt Krawietz später aus. „D… | |
| ganze Einsatz war vollkommen überzogen und nicht nachvollziehbar.“ | |
| In Handschellen wird Trippler auf das Präsidium gebracht. Als er | |
| schließlich pustet, zeigt das Messgerät einen Alkoholwert von 0,0 Promille | |
| an. Trippler kann gehen. Doch er will die Sache nicht auf sich beruhen | |
| lassen, hat Todesangst gelitten, seine Hose ist kaputt, die Haut am Knie | |
| aufgeschürft, er hat Blutergüsse und Kratzer. Ein Arzt attestiert die | |
| Verletzungen. | |
| ## „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“? | |
| Trippler ruft bei der Polizei an: Er wolle Anzeige erstatten und schildert | |
| einer Sachbearbeiterin den Vorfall. Kurz darauf ruft ein Vorgesetzter | |
| zurück und lädt ihn zu einem Gespräch ein. Trippler lehnt ab und besteht | |
| auf einer schriftlichen Anzeige. Als er sie erstatten will, bekommt er | |
| seinerseits eine Anzeige vorgelegt, wegen „Widerstands gegen | |
| Vollstreckungsbeamte“. Der Rentner habe die Beamten getreten. | |
| Es kommt zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Göttingen. Drei Polizisten | |
| waren an dem Einsatz beteiligt, übereinstimmend sagen sie aus: Trippler | |
| habe sich massiv gewehrt, um sich der Kontrolle zu entziehen. „Obwohl einer | |
| der Beamten ja im Auto sitzen blieb“, sagt Trippler. Er soll 200 Euro | |
| zahlen und weigert sich. Bei einem zweiten Gerichtstermin fällt die Strafe | |
| höher aus: 600 Euro oder Sozialstunden. Trippler leistet sie in seiner | |
| Gemeinde ab. | |
| Und was wurde aus seiner Anzeige gegen die Polizisten? „Da habe ich | |
| hintenrum erfahren, dass das Verfahren eingestellt wurde“, sagt Trippler. | |
| Während der ersten Verhandlung habe er den Satz fallen lassen, er wolle | |
| keine große Sache daraus machen. Die Behörden nahmen das offenbar zum | |
| Anlass, die Ermittlungen einzustellen, ohne ihn zu informieren. Erst als | |
| seine Anwältin Akteneinsicht nimmt, erfährt Trippler davon. „Das wurde wohl | |
| unter Verschluss gehalten“, sagt seine Anwältin heute. Trippler muss Laub | |
| fegen – „für eine Tat, die ich nicht begangen habe“. Trippler ist sich | |
| sicher: „Die Polizisten haben sich abgesprochen und gelogen.“ | |
| ## Der Rentner ist nun vorbestraft | |
| Die Polizeiinspektion Göttingen war gegenüber correktiv.org zu keiner | |
| Stellungnahme bereit – ebenso wenig die Staatsanwaltschaft. In | |
| Niedersachsen – Göttingen gehört dazu – gibt es zumindest eine | |
| Polizei-Beschwerdestelle. Der nun vorbestrafte Ulrich Trippler hat seinen | |
| Fall dort eingereicht. Es dauert acht Monate, bis er eine Antwort erhält. | |
| Bei den Polizisten sei „kein Fehlverhalten erkennbar“ gewesen. Und: „Wir | |
| stellen gerichtliche Entscheidungen nicht infrage.“ Seit Gründung im Juli | |
| 2014 hat die Niedersächsische Beschwerdestelle binnen eines Jahres 630 | |
| Hinweise erhalten, etwa die Hälfte gegen Polizisten. Von den 210 bereits | |
| bearbeiteten Beschwerden wurden 14 als begründet eingestuft. | |
| Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte hat eine Empfehlung | |
| zu den unabhängigen Ermittlungsstellen geschrieben. Er sagt: „Eine | |
| Befangenheit ist da, hat aber in den letzten Jahren abgenommen.“ Der Grund: | |
| Ermittlungen gegen Polizisten seien zunehmend zentraler angesiedelt, bei | |
| den Landeskriminalämtern etwa. Doch noch immer ermittelten Polizisten – und | |
| die haben einen bestimmten Blick auf das Geschehen. Töpfer fordert daher | |
| gemischte Teams aus Ermittlern, die nicht bei Innenbehörden, sondern der | |
| Justiz angesiedelt sind – „um das Vertrauen in den Rechtsstaat zu | |
| gewährleisten“. | |
| ## „Es gibt ihn, den Korpsgeist“ | |
| Die Gewerkschaften der Polizei sehen in diesem Fall keinen Handlungsbedarf. | |
| Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die Strafverfolgung von Polizisten | |
| nicht funktioniert, sagte Rainer Wendt von der Deutschen | |
| Polizeigewerkschaft bereits im vergangenen Jahr. Er halte die Ermittlungen | |
| durch die Staatsanwaltschaft für unabhängig. | |
| Die Gewerkschaft vertritt vor allem Streifenpolizisten, der Bund Deutscher | |
| Kriminalbeamter eher höherrangige Beamte (BDK). Sein Vorsitzender André | |
| Schulz ist selbstkritischer: „Wir sind besser geworden bei Ermittlungen in | |
| den eigenen Reihen, aber es gibt ihn noch, den Korpsgeist.“ Der BDK trete | |
| ein für die unabhängigen Ermittlungsstellen, aber es gebe rechtliche | |
| Hürden. | |
| Auch Schulz nimmt wahr, wie das Vertrauen in die Polizei abnimmt: Die | |
| Polizei sei materiell und personell gebeutelt, während die Bevölkerung | |
| latent Angst vor Zuwanderung und Terror habe. „Wir müssen gerade durch ein | |
| Tal der Tränen, da kommen diese Zahlen denkbar schlecht.“ | |
| 12 Feb 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=VRJXjlawkjM | |
| [2] https://correctiv.org/ | |
| [3] https://correctiv.org/blog/2015/08/20/polizei-ohne-kontrolle/ | |
| [4] http://www.nk.nomos.de/fileadmin/nk/doc/Aufsatz_NK_14_01.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Benedict Wermter | |
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