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# taz.de -- Brennpunktschule in Berlin: Projekt Kehrtwende
> Die Berliner Hector-Petersen-Schule will, dass die Herkunft der Schüler
> weniger stark ihre Zukunft bestimmt. Geht das? Eine Langzeitbeobachtung
Bild: Das Schulsystem ist eine einfache Rechnung: Gymnasium plus Rest ergibt Zw…
An einem Tag im Mai beginnt an einer Oberschule in Berlin-Kreuzberg eine
neue Zeit. So steht es auf dem Smartboard im Klassenraum der 7a2 der
Hector-Peterson-Schule: „Eine neue Zeit beginnt.“ Die Tische sind
beiseitegeschoben, damit Platz für fünf Stuhlreihen ist. Die Schulleiterin
ist da, einige ihrer Kolleginnen und Kollegen und auch eine
Sozialarbeiterin, die hier früher alle Hände voll zu tun hatte. Sie sind
das Publikum.
Vorne stehen die Schüler und reden so enthusiastisch über die Renaissance,
als handele es sich um ihr neues Smartphone. Zum ersten Mal präsentieren
die Mädchen und Jungen an diesem Tag, was sie drei Wochen lang
selbstständig erarbeitet haben.
Latif hält Karteikarten in der Hand, auf denen er sich alles über den Maler
Peter Paul Rubens notiert hat. „Und jetzt erzähle ich euch etwas über seine
zwei Frauen.“ Eren zeigt ein selbstgebautes Modell der Villa Rotonda. Hilal
hat eine Zeichnung von Albrecht Dürer kopiert: „Das ist seine Mutter. Das
Bild gefällt mir, weil ich finde, sie sieht kurdisch aus.“
Die Renaissance, das ist an diesem Nachmittag ihr ganz eigenes Ding. Die
Schüler haben die Themen selbst ausgesucht und in Gruppen bearbeitet. Kein
Frontalunterricht, kein Einpauken von Informationen, die nach dem nächsten
Test wieder vergessen sind.
## Eine Renaissance ihrer Schule
„Früher“, sagt die Sozialarbeiterin, die unter den Zuschauern ist, „waren
solche Präsentationen ein Horrortrip für alle Seiten. Es gab immer
Störungen, es wurde alles weggekichert.“ Das hat sich geändert. Die Sonne
heizt den Klassenraum auf. Doch noch um fünf Uhr nachmittags hören die
Schüler einander aufmerksam zu. Die Klassenlehrerin, Benita Bandow, beugt
sich zur Schulleiterin Monika Steinhagen in Reihe drei: „Schön, nicht?“
Die neue Zeit, von der auf dem Smartboard die Rede ist, zeichnet sich
dadurch aus, dass die Schüler das Lernen selbst in die Hand nehmen. Es soll
auch eine Renaissance ihrer Schule werden.
Der Hector-Peterson-Schule haftet das Image einer Loser-Schule für Schüler
an, die woanders keinen Platz bekommen. Die Botschaft dieses Nachmittags
ist: Das wird sich ändern. Die Schule, das ist die Vision, soll eine sein,
für die sich Schüler, Lehrer und Eltern bewusst entscheiden. Es wäre eine
komplette Kehrtwende, eine Reform gegen die politischen Umstände. Doch an
diesem Tag ahnt man: Das kann klappen. Die Spirale der Entwicklungen, die
eine Schule beliebt oder unbeliebt machen, dreht sich in die richtige
Richtung. Das ist der Stand im Mai 2015.
Im April 2016 sitzt Monika Steinhagen in ihrem Schulleiterbüro und klickt
sich durch die Anmeldezahlen für das nächste Schuljahr. Es sind viel zu
wenige. Steinhagen sieht erschöpft aus. Sie sagt: „Das ist bitter.“
## „Unsere Schule erfüllt ihren Bildungsauftrag nicht mehr“
Zwischen beiden Begegnungen liegen zwölf Monate, in denen wir die
Hector-Peterson-Schule immer wieder besucht haben. Wir haben beobachtet,
wie sich eine Schule entwickelt, die sich fast aufgegeben hatte, dann aber
beschloss, den Aufbruch zu wagen, mit einem neuen Profil, mit Ideen von
innen und von außen. Und wie ihr dann, auf halbem Weg, die Wirklichkeit
dazwischenfunkte.
Aber zurück auf Anfang.
Als Monika Steinhagen 2011 als stellvertretende Leiterin an die
Hector-Peterson-Schule kommt, besuchen etwa 500 Schüler die Einrichtung.
Ein Viertel bleibt ohne Abschluss. Fast täglich kommt es auf dem Schulhof
zu Schlägereien. „Die Schule erfüllte ihren Bildungsauftrag nicht mehr“,
sagt Steinhagen. „Unsere Schüler hatten sich auf dem Status Schulversager
eingerichtet, und wir“ – sie meint die Lehrerschaft – „auf der Wahrnehm…
dass unsere Schüler es eh nicht können.“
Im laufenden Schuljahr besuchen noch 300 Schüler die Schule. Fast drei
Viertel von ihnen müssen nicht für die Schulbücher zahlen, weil die Eltern
staatliche Unterstützung bekommen. Über 90 Prozent haben Eltern, die nicht
in Deutschland geboren sind. Die Hector-Peterson-Schule ist eine klassische
Brennpunktschule, wie es sie eigentlich nicht mehr geben sollte.
Als Brennpunktschulen galten einst die Hauptschulen in den Großstädten. Die
Hauptschule vergibt den einfachsten Abschluss und kümmert sich zunehmend um
Schüler, deren Eltern einfach gebildet sind. Skandalisiert wurden die
Schwierigkeiten, als Lehrer der Berliner Rütli-Hauptschule 2006 der
Schulbehörde schrieben: Unterrichtsmaterial werde nur von wenigen
Schülerinnen und Schülern mitgebracht. Türen würden eingetreten,
Papierkörbe als Fußbälle missbraucht.
„Solch einen Brief hätten wir hier auch schreiben können“, sagt Monika
Steinhagen. In ihrem Ostberliner Dialekt klingt „auch“ wie „ooch“.
## Schule insgesamt ist ein Zweiklassensystem
Bundesweit verschlankten die Länder in den letzten Jahren ihre Schulsysteme
und integrierten die Hauptschulen in neue Schulformen. Eine Schulform aber
gibt es überall: das Gymnasium – die erste Wahl für Eltern, die wollen,
dass ihr Kind Abitur macht. Das will inzwischen mehr als die Hälfte der
Eltern, wie eine Studie der Vodafone-Stiftung von 2015 zeigt. In den oberen
Schichten sind es sogar 90 Prozent der Eltern.
Heute gibt es zwar kaum noch Hauptschulen, aber immer noch
Brennpunktschulen. Heimliche Hauptschulen. Denn solange die Gymnasien
gestärkt werden, bleibt die Institution Schule insgesamt, was sie ist: ein
Zweiklassensystem.
In Berlin gibt es seit einer Schulreform neben den Gymnasien die
Integrierten Sekundarschulen, die alle Bildungsabschlüsse anbieten. Doch
nur ein Drittel hat eine eigene Oberstufe. Die Hector-Peterson-Schule
gehört nicht dazu. „Die Schulreform hat uns das Genick gebrochen“, sagt
Steinhagen.
Hinter ihrem Schreibtisch steht ein Bild von Nelson Mandela auf dem Regal.
Der Madiba lächelt. Die Schule ist zwar nach Hector Peterson benannt, einem
südafrikanischen Schüler, der in den siebziger Jahren bei einer
Demonstration erschossen wurde. Doch knapp 20 Jahre später wurde der erste
schwarze Präsident vereidigt. Das Mandela-Bild ist auch ein Statement:
Genick gebrochen – aber es geht weiter.
2012 liest Monika Steinhagen vom Projekt School Turnaround, das die
Berliner Senatsverwaltung für Bildung gemeinsam mit der
Robert-Bosch-Stiftung aufgelegt hat. School Turnaround – frei übersetzt:
Kehrtwende – unterstützt zehn Schulen in schwieriger Lage beim Neuanfang.
Das Programm kommt aus den USA und ist dort auf Schulen zugeschnitten,
deren Schüler unterdurchschnittlich abschneiden.
Steinhagen schickt eine Bewerbung. Manche ihrer Kollegen entsetzt das: Sie
betrachten das als eine Art Offenbarungseid, ähnlich wie bei einem
Alkoholiker, der eine Therapie macht. Als das Eingeständnis, gravierende
Probleme zu haben.
## Die Kehrtwende beginnt
„Das Geniale an der Frau ist: Sie kann ihren Kollegen richtig auf den Keks
gehen“, sagt Thomas Oertel vergnügt. Er berät die Hector-Peterson-Schule
beim Neuanfang. Oertel ist Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises,
den die Bosch-Stiftung den besten deutschen Schulen verleiht. Viele von
ihnen steckten in der Krise, bevor sie sich radikal reformierten.
Steinhagen wird im März 2014 Schulleiterin, drei Monate später
unterzeichnet die Schule die Vereinbarung mit School Turnaround. Es kann
richtig losgehen mit der Kehrtwende.
Yusufs Schullaufbahn beginnt 2014 schon unter neuen Vorzeichen. Als er nach
sechsjähriger Grundschulzeit, die in Berlin fast alle Kinder durchlaufen,
in die 7a2 der Hector-Peterson-Schule eingeschult wird, lernt er erst
einmal nicht Mathe oder Deutsch. Er spielt zunächst fünf Wochen Theater.
Neben der Schule liegt das Hebbel-Theater am Ufer. [1][Seit einigen Jahren
proben Künstler und Theaterpädagogen mit den Schülern.] Nun, im Zug des
Neuanfangs, entscheidet die Schule, konsequent auf ein künstlerisches
Profil zu setzen.
Yusufs Eltern kamen vor 30 Jahren aus der Türkei, geboren ist er in
Kreuzberg. Bei der Anmeldung musste er wählen zwischen den Schwerpunkten
Theater und Sprache. „Meine Tante hat gesagt, du bist gut, du machst das.“
Wie viele seiner Mitschüler ist er nie zuvor vor Publikum aufgetreten. „Am
Anfang hatten wir Lampenfieber, wir wollten nicht auf der Bühne vor Leuten
stehen. Aber jetzt hat man sich dran gewöhnt. Wenn jemand lacht, wär uns
das egal“, sagt er.
Man kann sehen, was das Theaterspielen mit den Schülern macht. Im
Unterricht hängen sie mitunter lethargisch auf den Stühlen, während der
Proben reagieren sie empfindlich, wenn einer dazwischenquatscht – selbst im
Ramadan, wenn beinahe die ganze Klasse fastet.
Wäre es nicht dennoch klüger, den Kindern Deutsch, Mathe und Englisch
beizubringen? Yusufs Klassenleiterin Benita Bandow verneint energisch. Was
die Schülerinnen und Schüler in Theaterprojekten lernen, helfe ihnen auch
im Unterricht. „Die Kinder kapieren schnell, dass hier nicht die große
Klappe gefragt ist, sondern Leistung.“ Schüler, die an ihren Grundschulen
gemobbt wurden, wüchsen über sich hinaus. Die, die vorher als Schulversager
gegolten hätten, nähmen plötzlich wahr, dass sie etwas können. Die Schüler
lernen, sich zu vertrauen.
Rabia zum Beispiel. Die Enden ihres Kopftuchs hat sie keck über die
Schultern geworfen. Mit ihrer Klasse hat sie inzwischen an acht
Theateraufführungen mitgewirkt. In der Schulaula und im Theater. „Wir sind
jetzt fast Profis“, sagt sie. „Du musst halt mit den Leuten kommunizieren.
Du musst selbstbewusst sein und wissen, was du machst, denn du präsentierst
ja was. Und unsere Aufführung wird zum Schluss perfekt.“
Wenn es nach ihr ginge, sagt Benita Bandow, die Lehrerin, würde sie nur
noch Theater spielen. „Da bleibt bei den Kindern dreimal mehr hängen, als
wenn ich eine Stunde auf sie einquatsche. Das haben die am nächsten Tag
wieder vergessen. Aber was sie im Theaterprojekt recherchiert und
vorgetragen haben, wissen sie noch nach einem halben Jahr.“
## „Der Unterricht ist eine Zwangsjacke“
Im Februar 2015 trifft sich im Englisch-Arbeitsraum der Schule die
erweiterte Schulleitung, acht Frauen und Männer, bei Apfelkuchen und
Kaffee, um eine weitere Baustelle anzugehen. Selbst Kollegen, die zunächst
skeptisch waren, stehen heute zum künstlerischen Schulprofil. Nun geht es
um den Unterricht. „Visionen unserer Lernkultur“ steht in Rot auf einem
Flipchart. Auch Thomas Oertel, der Berater, stößt dazu. Er hat zwei Tage an
der Schule hospitiert und sah: Schüler, die alles Mögliche machen, nur
nicht lernen. Und Lehrer, die nach 15 Minuten nur noch damit beschäftigt
sind, Schüler zu disziplinieren. Er sagt: „Die größte Herausforderung wird
es sein, das Lernen wieder an die Schüler abzugeben.“
Monika Steinhagen eröffnet die Debatte: „Wir haben hier so eine Kultur, zu
sagen, wir kümmern uns vor allem um die, die Hilfe brauchen, und gute
Leistungen müssen wir nicht extra loben. Ich finde, wenn jemand richtig gut
ist, dem müssen wir das auch immer wieder sagen.“ Die Deutschlehrerin sagt
leise: „Der Unterricht ist für unsere Schüler wie eine Zwangsjacke.
Vielleicht sollten wir ihn mehr öffnen.“ Der Mittelstufenleiter gibt einen
Laut zwischen Stöhnen und Seufzen von sich. „Ich habe eine Woche lang
Stationenlernen gemacht. Und dann kam der Test. Der ist grandios gegen die
Wand gefahren.“ Steinhagen ermutigt: „In der Achten klappt es. Und in der
Zehnten bringste die Schüler in die Abiturstufe.“
Ihre Botschaft: „Wir haben die Schüler, die wir haben. Es sind tolle
Schüler.“ Aber die Lehrer müssten wieder lernen, ihnen etwas zuzutrauen.
Im März 2015 nimmt Thomas Oertel sie daher mit auf eine Bildungsreise. Er
will ihnen eine Schule zeigen, die ihren Schüler vertraut.
## Vorbild Wolmirstedt
Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt ist das Gegenteil von Kreuzberg, eine von
Abwanderung gebeutelte Stadt. 11.500 Menschen leben hier, Tendenz sinkend.
Doch was die Kreuzberger Lehrer in Wolmirstedt beobachten, wird einen
Funken entfachen.
Überall auf den Schulfluren der Ganztagsschule Johannes Gutenberg, die 2011
einen deutschen Schulpreis gewann, sitzen Schüler in Grüppchen: Sie
diskutieren, surfen, lesen. Die Schüler dürfen sich ihren Lernort, mit ein
paar Einschränkungen, frei aussuchen. „Wenn jemand in der Mensa sitzt, der
kann auch Kakao dazu trinken, wenn er möchte, aber arbeiten muss er“, sagt
Helmut Thiel.
Der Mann mit dem Schnauzbart war hier schon Schulleiter, als die Schule
noch Polytechnische Oberschule „W. I. Lenin“ hieß. Gegenüber lebten damals
Heimkinder. Als Thiel seinen Dienst antrat, schlief ein Junge in seinem
Unterricht ein. In der autoritätsgläubigen DDR-Schule undenkbar, Thiel war
fassungslos. Später fand er heraus: Der Junge wohnte im Heim, war abends
ausgerissen und die ganze Nacht unterwegs gewesen. „Schon damals wurde uns
klar, wir müssen den Unterricht anders ausrichten.“
Jedem Schüler Erfolg ermöglichen. Das ist so ein Leitsatz von Thiel. Das
heißt aber nicht, die Anforderungen zu senken, bis auch der trägste Schüler
seine Eins bekommt. Die Gutenberg-Schule stellte ihren Unterricht so um,
dass Schüler sich gegenseitig anstacheln und selbstständig lernen – in
Teams mit bis zu sechs Schülern. Die Klassen wählen Teamchefs. Amy aus der
Sechsten ist eine Chefin, sie durfte sich ihre Gruppe zusammenstellen.
„Wenn wir Hilfe brauchen, fragen wir zuerst im Team. Wir achten also
darauf, dass in jeder Gruppe ein guter Schüler ist“, sagt sie. Die
schwächeren Schüler werden ebenfalls gerecht verteilt. „Heute ist unser
Problemschüler nicht da. Aber wir haben ja noch einen.“ Und können die
anderen da lernen? „Wenn er rumbockt, lassen wir ihn einfach in Ruhe. Der
hat sich aber schon richtig gebessert. In der Fünften hat er immer seine
Hefte zerrissen.“
## Das schaffen wir auch
Am Ende der Woche erhalten die Teams Punkte für Lern- und Sozialverhalten,
der Gruppendruck auf den Einzelnen ist also entsprechend groß. „Wenn sie
Präsentationen planen, geht es nicht, dass ein Schüler sagt: Ich mache
nichts. Das lassen die anderen nicht zu“, erklärt Thiel.
Seit Jahren hat kein Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Und
obwohl die wenigsten eine Gymnasialempfehlung haben, wenn sie in der
fünften Klasse an die Schule kommen, macht etwa die Hälfte den erweiterten
Realschulabschluss und kann in die Abituroberstufe wechseln. Und das in
einer Gegend, von der böse Zungen sagen, der Altersdurchschnitt liege bei
75 und der IQ der Bevölkerung knapp darunter.
Nach der Reise nach Wolmirstedt sagen sich die Berliner Lehrer: Das
schaffen wir auch.
Als Benita Bandow an einem Apriltag 2015 ihre Klasse betritt, ist der
Lärmpegel hoch. Die Mathelehrerin hat in der Stunde vorher fünf Leute
rausgeschickt. Bandow geht in geblümten Cowboystiefelchen nach vorn und
verschränkt die Arme. Die Schüler respektieren die resolute Frau.
Vielleicht weil sie ein wenig wie sie selbst ist. Direkt. Manchmal rotzig.
„Du siehst heute wie ein Zelt aus“, sagt sie einem Mädchen mit Kopftuch und
langem wallenden Mantel schon mal.
Wie ein Feldwebel steht sie vor der Klasse. Wartet. Die Köpfe der Kinder
drehen sich zu ihr, einer nach dem anderen. „So“, sagt sie. „Habt ihr es
gepackt? Dann können wir anfangen.“ Und dann teilt sie die Klasse in Teams
ein. Wie in der Gutenberg-Schule. Die Mädchen und Jungen bereiten jetzt in
Gruppen Präsentationen vor. Das Thema: die Renaissance.
Im Flur sitzen Yusuf und sein Kumpel Dardan, Layla und Jumana. Auch das ist
neu. Nicht die Störer werden von ihr vor die Tür geschickt, sondern die
Schüler, die in Ruhe arbeiten wollen. „Wir sind die Gruppe ‚intelligent,
aber faul‘“, sagt Dardan. „Jetzt lies das mal“, fordert Yusuf Jumana auf
und hält ihr einen Text hin. Die weigert sich. „Ich kann das nicht“. Die
Tür der Nachbarklasse geht auf, und ein weiteres Mädchen erscheint. „Bin
rausgeflogen“, sagt sie und lehnt sich gegen eine Wand voller Kritzeleien.
„Du Hure, Schlampe, Nutte“ steht da. Immerhin ohne Rechtschreibfehler.
Als die Schüler einige Wochen später ihre Themen vor Publikum präsentieren,
ist die Schulleitung da, Lehrer und Sozialarbeiter. Nur die Eltern fehlen.
Benita Bandow hat sie alle eingeladen. Keiner ist gekommen. „Ick krieg ’nen
Föhn“, sagt Bandow. „Das gibt gleich ’nen Brief.“
Bandow kennt die Eltern ihrer Schüler. Wenn die Telefonnummer nicht stimmt,
klingelt sie an der Tür und stellt sich vor. So weiß Bandow über die
Familienverhältnisse der Kinder Bescheid: wessen Mutter wieder schwanger
ist, wo der Vater sich verabschiedet hat, wessen Eltern bis spät in die
Nacht arbeiten und in welchen Familien nur die Schulkinder morgens aus dem
Haus gehen.
Es ist dabei nicht so, dass die Eltern ihrer Schüler kein Interesse an der
Schulkarriere ihrer Kinder hätten. „Mein Vater will, dass ich einen guten
Abschluss mache“, sagt Latif, der Klassensprecher. Seine Eltern kommen aus
dem Libanon, er hat vier Geschwister und ist schon Onkel, wie er stolz
berichtet. Er besucht die Hector-Peterson-Schule, weil seine Schwester auch
hier zur Schule geht. „In der Grundschule war ich nicht so gut, aber hier
habe ich mich gleich vorn hingesetzt und mich konzentriert. Und gemerkt,
dass ich doch gute Noten schreiben kann.“ Sein Ziel: das Abitur.
## „Gymnasiasten lernen schnell, sich anzupassen“
„Für jeden ist Schule wichtig“, sagt die selbstbewusste Rabia. „Meine
Eltern sagen: Freunde kommen und gehen, aber deine Zukunft hast du selbst
in der Hand.“ Wie viele ihrer Freundinnen wohnt sie in den Sozialbauten
rund um das Kottbusser Tor. Der Ort gilt als hartes Pflaster. Rabia ist
froh, dass sie ein paar U-Bahn-Stationen weiter zur Schule geht.
Benita Bandow sagt: „Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder am besten Ärzte
oder Anwälte werden, aber sie wissen oft nicht, wie sie ihnen dabei helfen
können.“ Viele der Mütter und Väter sprächen nicht ausreichend Deutsch.
Manche wollten auch gar keine Hilfe, denn das käme einem Gesichtsverlust
gleich.
Bevor sie an die Hector-Peterson-Schule kam, hatte Bandow viele Jahre an
einem Gymnasium unterrichtet. Zurück wolle sie nicht, sagt sie.
„Gymnasiasten lernen sehr schnell sich anzupassen, sie versuchen zu
gefallen. So sind die Schüler hier nicht. Die sind, wie sie sind. Die
verstellen sich nicht.“
Werden sie aber einmal die gleichen Chancen haben wie die geförderten
Kinder aus deutschen Mittelschichtsfamilien? Nein, sagen Studien. Kinder
aus sozial benachteiligten Elternhäusern machen seltener Abitur, gehen
seltener auf die Uni und bleiben häufiger ohne Ausbildung. Bandow dagegen
sagt trotzig: „Die meisten meiner Schüler werden einen guten Abschluss
machen. Sie brauchen halt ein wenig länger.“
Was die Hector-Peterson-Schule versucht, ist nicht weniger, als den
Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunft zu entkoppeln. Eigentlich ein
Auftrag für das gesamte deutsche Schulsystem.
Juli 2015. Als Bandow am Schuljahrsende die Zeugnisse austeilt, darf Latif
zuerst nach vorn kommen. Er hat die wenigsten Fehltage. „Ein schönes
Zeugnis“, sagt Bandow. Latif strahlt: „Ich danke dir.“ Rabia freut sich
über „voll viele Zweien“. Wenn sie erwachsen ist, möchte sie
Sozialpädagogin werden. „Ich will anderen Kindern helfen, einen guten
Abschluss zu machen.“
Als die Schüler in die Ferien verschwunden sind, sitzt Monika Steinhagen in
der leeren, warmen Schule allein in ihrem Büro. Sie lächelt, wie Nelson
Mandela auf dem Bild hinter ihr. Mehr als die Hälfte der Schüler hat den
Mittleren Schulabschluss geschafft, ein Drittel davon wird an eine andere
Schule in die Abiturstufe wechseln. Nur 9 Prozent haben keinen Abschluss.
„Aber das absolute Highlight ist“, sagt sie: „Bei der Anmeldung fürs
nächste Schuljahr waren zweimal Eltern hier, die erzählten, warum sie ihre
Kinder hier zur Schule schicken wollen – weil die Schüler ihnen versichert
hätten: ‚Unsere Schule ist toll.‘“
Die Kehrtwende scheint geschafft.
Einige Monate später weiß Steinhagen: Es ist noch viel Arbeit. „Uns haben
politische Umstände ereilt, die wir nicht beeinflussen können“, sagt sie
und fügt einen Satz hinzu, der nicht ins Bild der Macherin passt: „Ich habe
in den letzten Wochen das Gefühl, hilflos zu sein.“
## Kreuzberger Spießer
Dabei beginnt das Schuljahr 2015/16 verheißungsvoll. Am ersten Tag nach den
Ferien ist Benita Bandows Klasse, nun die 8a2, aufgekratzt. Gleich wird sie
den neuen Siebtklässlern und deren Eltern Ausschnitte aus ihren
Theaterprojekten zeigen, aus Bertolt Brechts Ballade „Der Schneider von
Ulm“ etwa. „Bischof, ich kann fliegen“, ruft Latif. „Das sind so lauter
Lügen, der Mensch ist kein Vogel“, sagt Eren, der gravitätisch über die
Bühne schreitet.
Unter den Zuschauern in der Aula sind auch Christina Mittag und ihr Sohn
Marius. Der blonde Junge mit schräg geschnittenem Pony sticht optisch unter
seinen neuen Mitschülern etwas heraus. Seine Grundschulzeit sei
katastrophal gewesen, sagt Mittag. Er habe sich zum Schluss total
verweigert. Auf der Suche nach einer Oberschule besuchten sie die
Hector-Peterson-Schule zum Tag der offenen Tür. Schüler führten sie herum,
Lehrer beantworteten ihre Fragen. „Mein Gefühl: Das ist eine Schule, an der
man zeigen kann, was man draufhat. Man darf dort gut sein“, sagt Mittag.
Heute weiß sie, dass ihre Entscheidung für ihren Sohn richtig war. „Ich
sehe bei ihm eine ganz andere Motivation. Die Mathe-Aversion ist weg, und
in Deutsch hat er auch ein ganz neues Selbstwertgefühl.“
Am ersten Schultag allerdings ist da noch ein Rest Skepsis. Keine der
anderen Eltern aus der Grundschule haben ihre Kinder hier angemeldet.
Kreuzberger gelten als weltoffen. Sie wählen grün, engagieren sich für
Flüchtlinge und demonstrieren dafür, dass der türkische Gemüsehändler um
die Ecke nicht aus seinem Laden fliegt. Doch wenn es um die Schulbildung
ihrer Kinder geht, werden sie zu Spießern. In eine Schule, in die lauter
Kinder türkischer Gemüsehändler ohne Gymnasialempfehlung gehen, wollen sie
ihr Kind doch nicht schicken.
So behindern die Abstiegsängste der einen den Aufstieg der anderen.
Als Monika Steinhagen die Anmeldezahlen für das Schuljahr 2016/17 erhält,
ist das ein Rückschlag: nur 27 Neuanmeldungen. Trotz der Veränderungen,
trotz der euphorischen Erzählungen von Eltern und Schülern. Es ist die
niedrigste Zahl im Bezirk und in der Geschichte der Schule. Wie kommt das?
## Und dann kommt die Wirklichkeit dazwischen
Steinhagen hat eine Vermutung. Im November hat das Land Berlin in der
Schulturnhalle eine Notunterkunft eingerichtet. Es gibt Platz an der
Schule, die für sechs Parallelklassen ausgelegt war und jedes Jahr nur zwei
neue aufmachen kann. Nur löst Berlin auf diese Weise die Probleme bei der
Unterbringung von Flüchtlingen zulasten derer, die die leiseste Lobby
haben. An anderen Schulen sammeln kampagnenerfahrene Eltern Unterschriften:
keine Beschlagnahmung von Turnhallen mehr. Claudia Hartmann aber,
Elternvertreterin an der Hector-Peterson-Schule, zieht nur die Schultern
hoch: „Wat soll man denn dagegen tun?“
Vor der Schule patrouillieren nun Sicherheitsleute, neben der Turnhalle
stehen blaue Dixi-Klos. Nach Schulschluss kommt häufiger die Polizei, es
heißt, Drogen würden gehandelt.
Die ersten neuen Schüler, die im August zur Einschulung kamen, werden
wieder abgemeldet. „Würden Sie Ihr Kind an eine Schule geben, die auch
Flüchtlingszentrum ist?“, fragt Monika Steinhagen.
Ende März 2016 bittet sie die Bezirksbehörden um Hilfe. Es ist das SOS
einer Schulleiterin, die versucht, gegen das Bildungssystem eine Schule
umzukrempeln. Und die erkennen muss: „Es gibt Dinge, die ich nicht
beeinflussen kann, die aber unsere Arbeit beeinflussen.“
Wegen der erneut sinkenden Schülerzahl werden Lehrer an andere Schulen
versetzt werden. Es wird wohl zuerst jene treffen, die sich in den letzten
Jahren für die Hector-Peterson-Schule entschieden haben, weil sie sie
mitverändern wollen. Weil sie hier besonders gebraucht werden.
Um die Klassen aufzufüllen, wird der Bezirk Schüler, die keinen Platz an
anderen Schulen bekommen haben, an die Hector-Peterson-Schule verweisen.
Steinhagen ist niedergeschlagen. Aber sie sagt: „Dann können wir denen
zeigen, wie gut wir geworden sind.“
Für eine Kehrtwende, so hat es der Berater Thomas Oertel gesagt, brauche
eine Schule sieben Jahre. Die letzten zwölf Monate – der Aufbruch, die
Zuversicht, die Enttäuschung – das alles war also erst der Anfang.
5 Jun 2016
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Anna Lehmann
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