# taz.de -- Brennpunktschule in Berlin: Projekt Kehrtwende | |
> Die Berliner Hector-Petersen-Schule will, dass die Herkunft der Schüler | |
> weniger stark ihre Zukunft bestimmt. Geht das? Eine Langzeitbeobachtung | |
Bild: Das Schulsystem ist eine einfache Rechnung: Gymnasium plus Rest ergibt Zw… | |
An einem Tag im Mai beginnt an einer Oberschule in Berlin-Kreuzberg eine | |
neue Zeit. So steht es auf dem Smartboard im Klassenraum der 7a2 der | |
Hector-Peterson-Schule: „Eine neue Zeit beginnt.“ Die Tische sind | |
beiseitegeschoben, damit Platz für fünf Stuhlreihen ist. Die Schulleiterin | |
ist da, einige ihrer Kolleginnen und Kollegen und auch eine | |
Sozialarbeiterin, die hier früher alle Hände voll zu tun hatte. Sie sind | |
das Publikum. | |
Vorne stehen die Schüler und reden so enthusiastisch über die Renaissance, | |
als handele es sich um ihr neues Smartphone. Zum ersten Mal präsentieren | |
die Mädchen und Jungen an diesem Tag, was sie drei Wochen lang | |
selbstständig erarbeitet haben. | |
Latif hält Karteikarten in der Hand, auf denen er sich alles über den Maler | |
Peter Paul Rubens notiert hat. „Und jetzt erzähle ich euch etwas über seine | |
zwei Frauen.“ Eren zeigt ein selbstgebautes Modell der Villa Rotonda. Hilal | |
hat eine Zeichnung von Albrecht Dürer kopiert: „Das ist seine Mutter. Das | |
Bild gefällt mir, weil ich finde, sie sieht kurdisch aus.“ | |
Die Renaissance, das ist an diesem Nachmittag ihr ganz eigenes Ding. Die | |
Schüler haben die Themen selbst ausgesucht und in Gruppen bearbeitet. Kein | |
Frontalunterricht, kein Einpauken von Informationen, die nach dem nächsten | |
Test wieder vergessen sind. | |
## Eine Renaissance ihrer Schule | |
„Früher“, sagt die Sozialarbeiterin, die unter den Zuschauern ist, „waren | |
solche Präsentationen ein Horrortrip für alle Seiten. Es gab immer | |
Störungen, es wurde alles weggekichert.“ Das hat sich geändert. Die Sonne | |
heizt den Klassenraum auf. Doch noch um fünf Uhr nachmittags hören die | |
Schüler einander aufmerksam zu. Die Klassenlehrerin, Benita Bandow, beugt | |
sich zur Schulleiterin Monika Steinhagen in Reihe drei: „Schön, nicht?“ | |
Die neue Zeit, von der auf dem Smartboard die Rede ist, zeichnet sich | |
dadurch aus, dass die Schüler das Lernen selbst in die Hand nehmen. Es soll | |
auch eine Renaissance ihrer Schule werden. | |
Der Hector-Peterson-Schule haftet das Image einer Loser-Schule für Schüler | |
an, die woanders keinen Platz bekommen. Die Botschaft dieses Nachmittags | |
ist: Das wird sich ändern. Die Schule, das ist die Vision, soll eine sein, | |
für die sich Schüler, Lehrer und Eltern bewusst entscheiden. Es wäre eine | |
komplette Kehrtwende, eine Reform gegen die politischen Umstände. Doch an | |
diesem Tag ahnt man: Das kann klappen. Die Spirale der Entwicklungen, die | |
eine Schule beliebt oder unbeliebt machen, dreht sich in die richtige | |
Richtung. Das ist der Stand im Mai 2015. | |
Im April 2016 sitzt Monika Steinhagen in ihrem Schulleiterbüro und klickt | |
sich durch die Anmeldezahlen für das nächste Schuljahr. Es sind viel zu | |
wenige. Steinhagen sieht erschöpft aus. Sie sagt: „Das ist bitter.“ | |
## „Unsere Schule erfüllt ihren Bildungsauftrag nicht mehr“ | |
Zwischen beiden Begegnungen liegen zwölf Monate, in denen wir die | |
Hector-Peterson-Schule immer wieder besucht haben. Wir haben beobachtet, | |
wie sich eine Schule entwickelt, die sich fast aufgegeben hatte, dann aber | |
beschloss, den Aufbruch zu wagen, mit einem neuen Profil, mit Ideen von | |
innen und von außen. Und wie ihr dann, auf halbem Weg, die Wirklichkeit | |
dazwischenfunkte. | |
Aber zurück auf Anfang. | |
Als Monika Steinhagen 2011 als stellvertretende Leiterin an die | |
Hector-Peterson-Schule kommt, besuchen etwa 500 Schüler die Einrichtung. | |
Ein Viertel bleibt ohne Abschluss. Fast täglich kommt es auf dem Schulhof | |
zu Schlägereien. „Die Schule erfüllte ihren Bildungsauftrag nicht mehr“, | |
sagt Steinhagen. „Unsere Schüler hatten sich auf dem Status Schulversager | |
eingerichtet, und wir“ – sie meint die Lehrerschaft – „auf der Wahrnehm… | |
dass unsere Schüler es eh nicht können.“ | |
Im laufenden Schuljahr besuchen noch 300 Schüler die Schule. Fast drei | |
Viertel von ihnen müssen nicht für die Schulbücher zahlen, weil die Eltern | |
staatliche Unterstützung bekommen. Über 90 Prozent haben Eltern, die nicht | |
in Deutschland geboren sind. Die Hector-Peterson-Schule ist eine klassische | |
Brennpunktschule, wie es sie eigentlich nicht mehr geben sollte. | |
Als Brennpunktschulen galten einst die Hauptschulen in den Großstädten. Die | |
Hauptschule vergibt den einfachsten Abschluss und kümmert sich zunehmend um | |
Schüler, deren Eltern einfach gebildet sind. Skandalisiert wurden die | |
Schwierigkeiten, als Lehrer der Berliner Rütli-Hauptschule 2006 der | |
Schulbehörde schrieben: Unterrichtsmaterial werde nur von wenigen | |
Schülerinnen und Schülern mitgebracht. Türen würden eingetreten, | |
Papierkörbe als Fußbälle missbraucht. | |
„Solch einen Brief hätten wir hier auch schreiben können“, sagt Monika | |
Steinhagen. In ihrem Ostberliner Dialekt klingt „auch“ wie „ooch“. | |
## Schule insgesamt ist ein Zweiklassensystem | |
Bundesweit verschlankten die Länder in den letzten Jahren ihre Schulsysteme | |
und integrierten die Hauptschulen in neue Schulformen. Eine Schulform aber | |
gibt es überall: das Gymnasium – die erste Wahl für Eltern, die wollen, | |
dass ihr Kind Abitur macht. Das will inzwischen mehr als die Hälfte der | |
Eltern, wie eine Studie der Vodafone-Stiftung von 2015 zeigt. In den oberen | |
Schichten sind es sogar 90 Prozent der Eltern. | |
Heute gibt es zwar kaum noch Hauptschulen, aber immer noch | |
Brennpunktschulen. Heimliche Hauptschulen. Denn solange die Gymnasien | |
gestärkt werden, bleibt die Institution Schule insgesamt, was sie ist: ein | |
Zweiklassensystem. | |
In Berlin gibt es seit einer Schulreform neben den Gymnasien die | |
Integrierten Sekundarschulen, die alle Bildungsabschlüsse anbieten. Doch | |
nur ein Drittel hat eine eigene Oberstufe. Die Hector-Peterson-Schule | |
gehört nicht dazu. „Die Schulreform hat uns das Genick gebrochen“, sagt | |
Steinhagen. | |
Hinter ihrem Schreibtisch steht ein Bild von Nelson Mandela auf dem Regal. | |
Der Madiba lächelt. Die Schule ist zwar nach Hector Peterson benannt, einem | |
südafrikanischen Schüler, der in den siebziger Jahren bei einer | |
Demonstration erschossen wurde. Doch knapp 20 Jahre später wurde der erste | |
schwarze Präsident vereidigt. Das Mandela-Bild ist auch ein Statement: | |
Genick gebrochen – aber es geht weiter. | |
2012 liest Monika Steinhagen vom Projekt School Turnaround, das die | |
Berliner Senatsverwaltung für Bildung gemeinsam mit der | |
Robert-Bosch-Stiftung aufgelegt hat. School Turnaround – frei übersetzt: | |
Kehrtwende – unterstützt zehn Schulen in schwieriger Lage beim Neuanfang. | |
Das Programm kommt aus den USA und ist dort auf Schulen zugeschnitten, | |
deren Schüler unterdurchschnittlich abschneiden. | |
Steinhagen schickt eine Bewerbung. Manche ihrer Kollegen entsetzt das: Sie | |
betrachten das als eine Art Offenbarungseid, ähnlich wie bei einem | |
Alkoholiker, der eine Therapie macht. Als das Eingeständnis, gravierende | |
Probleme zu haben. | |
## Die Kehrtwende beginnt | |
„Das Geniale an der Frau ist: Sie kann ihren Kollegen richtig auf den Keks | |
gehen“, sagt Thomas Oertel vergnügt. Er berät die Hector-Peterson-Schule | |
beim Neuanfang. Oertel ist Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises, | |
den die Bosch-Stiftung den besten deutschen Schulen verleiht. Viele von | |
ihnen steckten in der Krise, bevor sie sich radikal reformierten. | |
Steinhagen wird im März 2014 Schulleiterin, drei Monate später | |
unterzeichnet die Schule die Vereinbarung mit School Turnaround. Es kann | |
richtig losgehen mit der Kehrtwende. | |
Yusufs Schullaufbahn beginnt 2014 schon unter neuen Vorzeichen. Als er nach | |
sechsjähriger Grundschulzeit, die in Berlin fast alle Kinder durchlaufen, | |
in die 7a2 der Hector-Peterson-Schule eingeschult wird, lernt er erst | |
einmal nicht Mathe oder Deutsch. Er spielt zunächst fünf Wochen Theater. | |
Neben der Schule liegt das Hebbel-Theater am Ufer. [1][Seit einigen Jahren | |
proben Künstler und Theaterpädagogen mit den Schülern.] Nun, im Zug des | |
Neuanfangs, entscheidet die Schule, konsequent auf ein künstlerisches | |
Profil zu setzen. | |
Yusufs Eltern kamen vor 30 Jahren aus der Türkei, geboren ist er in | |
Kreuzberg. Bei der Anmeldung musste er wählen zwischen den Schwerpunkten | |
Theater und Sprache. „Meine Tante hat gesagt, du bist gut, du machst das.“ | |
Wie viele seiner Mitschüler ist er nie zuvor vor Publikum aufgetreten. „Am | |
Anfang hatten wir Lampenfieber, wir wollten nicht auf der Bühne vor Leuten | |
stehen. Aber jetzt hat man sich dran gewöhnt. Wenn jemand lacht, wär uns | |
das egal“, sagt er. | |
Man kann sehen, was das Theaterspielen mit den Schülern macht. Im | |
Unterricht hängen sie mitunter lethargisch auf den Stühlen, während der | |
Proben reagieren sie empfindlich, wenn einer dazwischenquatscht – selbst im | |
Ramadan, wenn beinahe die ganze Klasse fastet. | |
Wäre es nicht dennoch klüger, den Kindern Deutsch, Mathe und Englisch | |
beizubringen? Yusufs Klassenleiterin Benita Bandow verneint energisch. Was | |
die Schülerinnen und Schüler in Theaterprojekten lernen, helfe ihnen auch | |
im Unterricht. „Die Kinder kapieren schnell, dass hier nicht die große | |
Klappe gefragt ist, sondern Leistung.“ Schüler, die an ihren Grundschulen | |
gemobbt wurden, wüchsen über sich hinaus. Die, die vorher als Schulversager | |
gegolten hätten, nähmen plötzlich wahr, dass sie etwas können. Die Schüler | |
lernen, sich zu vertrauen. | |
Rabia zum Beispiel. Die Enden ihres Kopftuchs hat sie keck über die | |
Schultern geworfen. Mit ihrer Klasse hat sie inzwischen an acht | |
Theateraufführungen mitgewirkt. In der Schulaula und im Theater. „Wir sind | |
jetzt fast Profis“, sagt sie. „Du musst halt mit den Leuten kommunizieren. | |
Du musst selbstbewusst sein und wissen, was du machst, denn du präsentierst | |
ja was. Und unsere Aufführung wird zum Schluss perfekt.“ | |
Wenn es nach ihr ginge, sagt Benita Bandow, die Lehrerin, würde sie nur | |
noch Theater spielen. „Da bleibt bei den Kindern dreimal mehr hängen, als | |
wenn ich eine Stunde auf sie einquatsche. Das haben die am nächsten Tag | |
wieder vergessen. Aber was sie im Theaterprojekt recherchiert und | |
vorgetragen haben, wissen sie noch nach einem halben Jahr.“ | |
## „Der Unterricht ist eine Zwangsjacke“ | |
Im Februar 2015 trifft sich im Englisch-Arbeitsraum der Schule die | |
erweiterte Schulleitung, acht Frauen und Männer, bei Apfelkuchen und | |
Kaffee, um eine weitere Baustelle anzugehen. Selbst Kollegen, die zunächst | |
skeptisch waren, stehen heute zum künstlerischen Schulprofil. Nun geht es | |
um den Unterricht. „Visionen unserer Lernkultur“ steht in Rot auf einem | |
Flipchart. Auch Thomas Oertel, der Berater, stößt dazu. Er hat zwei Tage an | |
der Schule hospitiert und sah: Schüler, die alles Mögliche machen, nur | |
nicht lernen. Und Lehrer, die nach 15 Minuten nur noch damit beschäftigt | |
sind, Schüler zu disziplinieren. Er sagt: „Die größte Herausforderung wird | |
es sein, das Lernen wieder an die Schüler abzugeben.“ | |
Monika Steinhagen eröffnet die Debatte: „Wir haben hier so eine Kultur, zu | |
sagen, wir kümmern uns vor allem um die, die Hilfe brauchen, und gute | |
Leistungen müssen wir nicht extra loben. Ich finde, wenn jemand richtig gut | |
ist, dem müssen wir das auch immer wieder sagen.“ Die Deutschlehrerin sagt | |
leise: „Der Unterricht ist für unsere Schüler wie eine Zwangsjacke. | |
Vielleicht sollten wir ihn mehr öffnen.“ Der Mittelstufenleiter gibt einen | |
Laut zwischen Stöhnen und Seufzen von sich. „Ich habe eine Woche lang | |
Stationenlernen gemacht. Und dann kam der Test. Der ist grandios gegen die | |
Wand gefahren.“ Steinhagen ermutigt: „In der Achten klappt es. Und in der | |
Zehnten bringste die Schüler in die Abiturstufe.“ | |
Ihre Botschaft: „Wir haben die Schüler, die wir haben. Es sind tolle | |
Schüler.“ Aber die Lehrer müssten wieder lernen, ihnen etwas zuzutrauen. | |
Im März 2015 nimmt Thomas Oertel sie daher mit auf eine Bildungsreise. Er | |
will ihnen eine Schule zeigen, die ihren Schüler vertraut. | |
## Vorbild Wolmirstedt | |
Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt ist das Gegenteil von Kreuzberg, eine von | |
Abwanderung gebeutelte Stadt. 11.500 Menschen leben hier, Tendenz sinkend. | |
Doch was die Kreuzberger Lehrer in Wolmirstedt beobachten, wird einen | |
Funken entfachen. | |
Überall auf den Schulfluren der Ganztagsschule Johannes Gutenberg, die 2011 | |
einen deutschen Schulpreis gewann, sitzen Schüler in Grüppchen: Sie | |
diskutieren, surfen, lesen. Die Schüler dürfen sich ihren Lernort, mit ein | |
paar Einschränkungen, frei aussuchen. „Wenn jemand in der Mensa sitzt, der | |
kann auch Kakao dazu trinken, wenn er möchte, aber arbeiten muss er“, sagt | |
Helmut Thiel. | |
Der Mann mit dem Schnauzbart war hier schon Schulleiter, als die Schule | |
noch Polytechnische Oberschule „W. I. Lenin“ hieß. Gegenüber lebten damals | |
Heimkinder. Als Thiel seinen Dienst antrat, schlief ein Junge in seinem | |
Unterricht ein. In der autoritätsgläubigen DDR-Schule undenkbar, Thiel war | |
fassungslos. Später fand er heraus: Der Junge wohnte im Heim, war abends | |
ausgerissen und die ganze Nacht unterwegs gewesen. „Schon damals wurde uns | |
klar, wir müssen den Unterricht anders ausrichten.“ | |
Jedem Schüler Erfolg ermöglichen. Das ist so ein Leitsatz von Thiel. Das | |
heißt aber nicht, die Anforderungen zu senken, bis auch der trägste Schüler | |
seine Eins bekommt. Die Gutenberg-Schule stellte ihren Unterricht so um, | |
dass Schüler sich gegenseitig anstacheln und selbstständig lernen – in | |
Teams mit bis zu sechs Schülern. Die Klassen wählen Teamchefs. Amy aus der | |
Sechsten ist eine Chefin, sie durfte sich ihre Gruppe zusammenstellen. | |
„Wenn wir Hilfe brauchen, fragen wir zuerst im Team. Wir achten also | |
darauf, dass in jeder Gruppe ein guter Schüler ist“, sagt sie. Die | |
schwächeren Schüler werden ebenfalls gerecht verteilt. „Heute ist unser | |
Problemschüler nicht da. Aber wir haben ja noch einen.“ Und können die | |
anderen da lernen? „Wenn er rumbockt, lassen wir ihn einfach in Ruhe. Der | |
hat sich aber schon richtig gebessert. In der Fünften hat er immer seine | |
Hefte zerrissen.“ | |
## Das schaffen wir auch | |
Am Ende der Woche erhalten die Teams Punkte für Lern- und Sozialverhalten, | |
der Gruppendruck auf den Einzelnen ist also entsprechend groß. „Wenn sie | |
Präsentationen planen, geht es nicht, dass ein Schüler sagt: Ich mache | |
nichts. Das lassen die anderen nicht zu“, erklärt Thiel. | |
Seit Jahren hat kein Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Und | |
obwohl die wenigsten eine Gymnasialempfehlung haben, wenn sie in der | |
fünften Klasse an die Schule kommen, macht etwa die Hälfte den erweiterten | |
Realschulabschluss und kann in die Abituroberstufe wechseln. Und das in | |
einer Gegend, von der böse Zungen sagen, der Altersdurchschnitt liege bei | |
75 und der IQ der Bevölkerung knapp darunter. | |
Nach der Reise nach Wolmirstedt sagen sich die Berliner Lehrer: Das | |
schaffen wir auch. | |
Als Benita Bandow an einem Apriltag 2015 ihre Klasse betritt, ist der | |
Lärmpegel hoch. Die Mathelehrerin hat in der Stunde vorher fünf Leute | |
rausgeschickt. Bandow geht in geblümten Cowboystiefelchen nach vorn und | |
verschränkt die Arme. Die Schüler respektieren die resolute Frau. | |
Vielleicht weil sie ein wenig wie sie selbst ist. Direkt. Manchmal rotzig. | |
„Du siehst heute wie ein Zelt aus“, sagt sie einem Mädchen mit Kopftuch und | |
langem wallenden Mantel schon mal. | |
Wie ein Feldwebel steht sie vor der Klasse. Wartet. Die Köpfe der Kinder | |
drehen sich zu ihr, einer nach dem anderen. „So“, sagt sie. „Habt ihr es | |
gepackt? Dann können wir anfangen.“ Und dann teilt sie die Klasse in Teams | |
ein. Wie in der Gutenberg-Schule. Die Mädchen und Jungen bereiten jetzt in | |
Gruppen Präsentationen vor. Das Thema: die Renaissance. | |
Im Flur sitzen Yusuf und sein Kumpel Dardan, Layla und Jumana. Auch das ist | |
neu. Nicht die Störer werden von ihr vor die Tür geschickt, sondern die | |
Schüler, die in Ruhe arbeiten wollen. „Wir sind die Gruppe ‚intelligent, | |
aber faul‘“, sagt Dardan. „Jetzt lies das mal“, fordert Yusuf Jumana auf | |
und hält ihr einen Text hin. Die weigert sich. „Ich kann das nicht“. Die | |
Tür der Nachbarklasse geht auf, und ein weiteres Mädchen erscheint. „Bin | |
rausgeflogen“, sagt sie und lehnt sich gegen eine Wand voller Kritzeleien. | |
„Du Hure, Schlampe, Nutte“ steht da. Immerhin ohne Rechtschreibfehler. | |
Als die Schüler einige Wochen später ihre Themen vor Publikum präsentieren, | |
ist die Schulleitung da, Lehrer und Sozialarbeiter. Nur die Eltern fehlen. | |
Benita Bandow hat sie alle eingeladen. Keiner ist gekommen. „Ick krieg ’nen | |
Föhn“, sagt Bandow. „Das gibt gleich ’nen Brief.“ | |
Bandow kennt die Eltern ihrer Schüler. Wenn die Telefonnummer nicht stimmt, | |
klingelt sie an der Tür und stellt sich vor. So weiß Bandow über die | |
Familienverhältnisse der Kinder Bescheid: wessen Mutter wieder schwanger | |
ist, wo der Vater sich verabschiedet hat, wessen Eltern bis spät in die | |
Nacht arbeiten und in welchen Familien nur die Schulkinder morgens aus dem | |
Haus gehen. | |
Es ist dabei nicht so, dass die Eltern ihrer Schüler kein Interesse an der | |
Schulkarriere ihrer Kinder hätten. „Mein Vater will, dass ich einen guten | |
Abschluss mache“, sagt Latif, der Klassensprecher. Seine Eltern kommen aus | |
dem Libanon, er hat vier Geschwister und ist schon Onkel, wie er stolz | |
berichtet. Er besucht die Hector-Peterson-Schule, weil seine Schwester auch | |
hier zur Schule geht. „In der Grundschule war ich nicht so gut, aber hier | |
habe ich mich gleich vorn hingesetzt und mich konzentriert. Und gemerkt, | |
dass ich doch gute Noten schreiben kann.“ Sein Ziel: das Abitur. | |
## „Gymnasiasten lernen schnell, sich anzupassen“ | |
„Für jeden ist Schule wichtig“, sagt die selbstbewusste Rabia. „Meine | |
Eltern sagen: Freunde kommen und gehen, aber deine Zukunft hast du selbst | |
in der Hand.“ Wie viele ihrer Freundinnen wohnt sie in den Sozialbauten | |
rund um das Kottbusser Tor. Der Ort gilt als hartes Pflaster. Rabia ist | |
froh, dass sie ein paar U-Bahn-Stationen weiter zur Schule geht. | |
Benita Bandow sagt: „Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder am besten Ärzte | |
oder Anwälte werden, aber sie wissen oft nicht, wie sie ihnen dabei helfen | |
können.“ Viele der Mütter und Väter sprächen nicht ausreichend Deutsch. | |
Manche wollten auch gar keine Hilfe, denn das käme einem Gesichtsverlust | |
gleich. | |
Bevor sie an die Hector-Peterson-Schule kam, hatte Bandow viele Jahre an | |
einem Gymnasium unterrichtet. Zurück wolle sie nicht, sagt sie. | |
„Gymnasiasten lernen sehr schnell sich anzupassen, sie versuchen zu | |
gefallen. So sind die Schüler hier nicht. Die sind, wie sie sind. Die | |
verstellen sich nicht.“ | |
Werden sie aber einmal die gleichen Chancen haben wie die geförderten | |
Kinder aus deutschen Mittelschichtsfamilien? Nein, sagen Studien. Kinder | |
aus sozial benachteiligten Elternhäusern machen seltener Abitur, gehen | |
seltener auf die Uni und bleiben häufiger ohne Ausbildung. Bandow dagegen | |
sagt trotzig: „Die meisten meiner Schüler werden einen guten Abschluss | |
machen. Sie brauchen halt ein wenig länger.“ | |
Was die Hector-Peterson-Schule versucht, ist nicht weniger, als den | |
Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunft zu entkoppeln. Eigentlich ein | |
Auftrag für das gesamte deutsche Schulsystem. | |
Juli 2015. Als Bandow am Schuljahrsende die Zeugnisse austeilt, darf Latif | |
zuerst nach vorn kommen. Er hat die wenigsten Fehltage. „Ein schönes | |
Zeugnis“, sagt Bandow. Latif strahlt: „Ich danke dir.“ Rabia freut sich | |
über „voll viele Zweien“. Wenn sie erwachsen ist, möchte sie | |
Sozialpädagogin werden. „Ich will anderen Kindern helfen, einen guten | |
Abschluss zu machen.“ | |
Als die Schüler in die Ferien verschwunden sind, sitzt Monika Steinhagen in | |
der leeren, warmen Schule allein in ihrem Büro. Sie lächelt, wie Nelson | |
Mandela auf dem Bild hinter ihr. Mehr als die Hälfte der Schüler hat den | |
Mittleren Schulabschluss geschafft, ein Drittel davon wird an eine andere | |
Schule in die Abiturstufe wechseln. Nur 9 Prozent haben keinen Abschluss. | |
„Aber das absolute Highlight ist“, sagt sie: „Bei der Anmeldung fürs | |
nächste Schuljahr waren zweimal Eltern hier, die erzählten, warum sie ihre | |
Kinder hier zur Schule schicken wollen – weil die Schüler ihnen versichert | |
hätten: ‚Unsere Schule ist toll.‘“ | |
Die Kehrtwende scheint geschafft. | |
Einige Monate später weiß Steinhagen: Es ist noch viel Arbeit. „Uns haben | |
politische Umstände ereilt, die wir nicht beeinflussen können“, sagt sie | |
und fügt einen Satz hinzu, der nicht ins Bild der Macherin passt: „Ich habe | |
in den letzten Wochen das Gefühl, hilflos zu sein.“ | |
## Kreuzberger Spießer | |
Dabei beginnt das Schuljahr 2015/16 verheißungsvoll. Am ersten Tag nach den | |
Ferien ist Benita Bandows Klasse, nun die 8a2, aufgekratzt. Gleich wird sie | |
den neuen Siebtklässlern und deren Eltern Ausschnitte aus ihren | |
Theaterprojekten zeigen, aus Bertolt Brechts Ballade „Der Schneider von | |
Ulm“ etwa. „Bischof, ich kann fliegen“, ruft Latif. „Das sind so lauter | |
Lügen, der Mensch ist kein Vogel“, sagt Eren, der gravitätisch über die | |
Bühne schreitet. | |
Unter den Zuschauern in der Aula sind auch Christina Mittag und ihr Sohn | |
Marius. Der blonde Junge mit schräg geschnittenem Pony sticht optisch unter | |
seinen neuen Mitschülern etwas heraus. Seine Grundschulzeit sei | |
katastrophal gewesen, sagt Mittag. Er habe sich zum Schluss total | |
verweigert. Auf der Suche nach einer Oberschule besuchten sie die | |
Hector-Peterson-Schule zum Tag der offenen Tür. Schüler führten sie herum, | |
Lehrer beantworteten ihre Fragen. „Mein Gefühl: Das ist eine Schule, an der | |
man zeigen kann, was man draufhat. Man darf dort gut sein“, sagt Mittag. | |
Heute weiß sie, dass ihre Entscheidung für ihren Sohn richtig war. „Ich | |
sehe bei ihm eine ganz andere Motivation. Die Mathe-Aversion ist weg, und | |
in Deutsch hat er auch ein ganz neues Selbstwertgefühl.“ | |
Am ersten Schultag allerdings ist da noch ein Rest Skepsis. Keine der | |
anderen Eltern aus der Grundschule haben ihre Kinder hier angemeldet. | |
Kreuzberger gelten als weltoffen. Sie wählen grün, engagieren sich für | |
Flüchtlinge und demonstrieren dafür, dass der türkische Gemüsehändler um | |
die Ecke nicht aus seinem Laden fliegt. Doch wenn es um die Schulbildung | |
ihrer Kinder geht, werden sie zu Spießern. In eine Schule, in die lauter | |
Kinder türkischer Gemüsehändler ohne Gymnasialempfehlung gehen, wollen sie | |
ihr Kind doch nicht schicken. | |
So behindern die Abstiegsängste der einen den Aufstieg der anderen. | |
Als Monika Steinhagen die Anmeldezahlen für das Schuljahr 2016/17 erhält, | |
ist das ein Rückschlag: nur 27 Neuanmeldungen. Trotz der Veränderungen, | |
trotz der euphorischen Erzählungen von Eltern und Schülern. Es ist die | |
niedrigste Zahl im Bezirk und in der Geschichte der Schule. Wie kommt das? | |
## Und dann kommt die Wirklichkeit dazwischen | |
Steinhagen hat eine Vermutung. Im November hat das Land Berlin in der | |
Schulturnhalle eine Notunterkunft eingerichtet. Es gibt Platz an der | |
Schule, die für sechs Parallelklassen ausgelegt war und jedes Jahr nur zwei | |
neue aufmachen kann. Nur löst Berlin auf diese Weise die Probleme bei der | |
Unterbringung von Flüchtlingen zulasten derer, die die leiseste Lobby | |
haben. An anderen Schulen sammeln kampagnenerfahrene Eltern Unterschriften: | |
keine Beschlagnahmung von Turnhallen mehr. Claudia Hartmann aber, | |
Elternvertreterin an der Hector-Peterson-Schule, zieht nur die Schultern | |
hoch: „Wat soll man denn dagegen tun?“ | |
Vor der Schule patrouillieren nun Sicherheitsleute, neben der Turnhalle | |
stehen blaue Dixi-Klos. Nach Schulschluss kommt häufiger die Polizei, es | |
heißt, Drogen würden gehandelt. | |
Die ersten neuen Schüler, die im August zur Einschulung kamen, werden | |
wieder abgemeldet. „Würden Sie Ihr Kind an eine Schule geben, die auch | |
Flüchtlingszentrum ist?“, fragt Monika Steinhagen. | |
Ende März 2016 bittet sie die Bezirksbehörden um Hilfe. Es ist das SOS | |
einer Schulleiterin, die versucht, gegen das Bildungssystem eine Schule | |
umzukrempeln. Und die erkennen muss: „Es gibt Dinge, die ich nicht | |
beeinflussen kann, die aber unsere Arbeit beeinflussen.“ | |
Wegen der erneut sinkenden Schülerzahl werden Lehrer an andere Schulen | |
versetzt werden. Es wird wohl zuerst jene treffen, die sich in den letzten | |
Jahren für die Hector-Peterson-Schule entschieden haben, weil sie sie | |
mitverändern wollen. Weil sie hier besonders gebraucht werden. | |
Um die Klassen aufzufüllen, wird der Bezirk Schüler, die keinen Platz an | |
anderen Schulen bekommen haben, an die Hector-Peterson-Schule verweisen. | |
Steinhagen ist niedergeschlagen. Aber sie sagt: „Dann können wir denen | |
zeigen, wie gut wir geworden sind.“ | |
Für eine Kehrtwende, so hat es der Berater Thomas Oertel gesagt, brauche | |
eine Schule sieben Jahre. Die letzten zwölf Monate – der Aufbruch, die | |
Zuversicht, die Enttäuschung – das alles war also erst der Anfang. | |
5 Jun 2016 | |
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Anna Lehmann | |
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