# taz.de -- Einstige Brennpunktschule in Berlin: Zwischen zwei Zuständen | |
> Eine Kreuzberger Schule wollte die Revolution: Die Herkunft der Kinder | |
> sollte nicht über ihre Zukunft bestimmen. Eine Langzeitbeobachtung. | |
Bild: Rabia war die einzige, die mit einer Gymnasialempfehlung an die Hector-Pe… | |
Die Anspannung steigt in der Aula der Hector-Peterson-Schule in | |
Berlin-Kreuzberg. Die Schüler der drei zehnten Klassen drängeln sich an | |
diesem Mittwoch im Juli auf Klappstühlen, Lehrer und Sozialarbeiter nehmen | |
am Rand und in den hinteren Reihen Platz. Für die Schüler ist es der | |
letzte Schultag, sie bekommen ihre Abschlusszeugnisse. | |
Unter den rund 60 Zehntklässlern sind auch die Schüler der 10a2. Latif | |
sitzt am Gang im weißen Hemd, Rabia inmitten ihrer Freundinnen, reckt den | |
Kopf, um besser sehen zu können, Yusuf lehnt sich breitbeinig zurück. | |
Vor drei Jahren hat die taz die Mädchen und Jungen der 10a2, der | |
sogenannten Theaterklasse, mehr als ein Jahr lang begleitet. Damals | |
probierten die Kinder und ihre Klassenlehrerin neue Wege des Lernens aus, | |
sie waren Teil eines Prozesses, in dem sich die Schule neu erfinden wollte. | |
Aus der Brennpunktschule sollte eine Vorzeigeschule werden. | |
„Wovon träumt ihr?“, haben wir Latif, Rabia, Shirin, Dardan, Yusuf und die | |
anderen vor drei Jahren gefragt. | |
„Ich will Abitur machen“, sagte Latif. Er und sein Zwillingsbruder sind die | |
jüngsten von sechs Kindern. Der Vater arbeitet in einem Schawarma-Laden, | |
die Mutter ist Hausfrau. | |
„Ich will Sozialpädagogin werden“, sagte Rabia. Sie hat vier Geschwister, | |
ihre Eltern arbeiteten damals beide nicht. Ihre Lieblingsfächer in der | |
Schule waren Sport und Kunst. | |
„Ich will Ärztin werden, aber es wird schwierig mit meinen Noten“, sagte | |
Shirin. Sie wächst bei ihren Großeltern auf. | |
„Ich werde Kanalbauer“, sagte Dardan, dessen Eltern aus dem Kosovo sind. Er | |
hatte gehört, dass man so 7.000 Euro im Monat verdienen könne. Seine Mutter | |
ist Altenpflegerin. | |
„Kanäle sauber machen – das stinkt doch“, sagte sein Kumpel Yusuf. „Ich | |
möchte eine Arbeit, die Spaß macht.“ Yusuf wollte lieber mit dem Kopf als | |
mit den Händen arbeiten. Seine Eltern betreiben eine Pizzeria, er hilft | |
manchmal die Kartons zu falten. | |
## Was ist aus den Träumen geworden? | |
Auch die Schulleiterin, Monika Steinhagen, eine Frau, die ihren Kollegen so | |
herrlich auf den Keks gehen kann, wie es heißt, hatte einen Traum. Sie | |
wollte, dass die Hector-Peterson ihren Ruf als Schule loswird, an der | |
Gewalt und Drogen Alltag sind. Sie wollte, dass sich wieder mehr Schüler | |
anmelden, die voller Überzeugung sagen: „Ich habe mich bewusst für die | |
Hector-Peterson entschieden.“ | |
Drei Jahre später, im Juli 2018, haben die Schüler die taz zu ihrer | |
Abschlussfeier eingeladen. Was ist aus den Träumen geworden? | |
Die Hector-Peterson-Schule liegt an einer vielbefahrenen Straße im schicken | |
Teil von Berlin-Kreuzberg. Die Kinder, die im Umkreis wohnen, fahren | |
morgens an ihrem eisernen Tor vorbei. Die meisten Schüler kommen mit der | |
U-Bahn, viele wohnen im Kreuzberger Osten, rund um das Kottbusser Tor. Der | |
Kotti, wie die Berliner den Platz nennen, ist Touristenmagnet, Drogentreff, | |
sozialer Brennpunkt und Revier für Immobilienhaie zugleich. Jedem dritten | |
Kind aus diesem Gebiet bescheinigen Ärzte bei der Einschulungsuntersuchung | |
unzureichende Deutschkenntnisse, jedes sechste bis siebte ist | |
übergewichtig. | |
An der Hector-Peterson-Schule kommen acht von zehn Schülern aus Familien, | |
die finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten. In der 10a2 müssen nur | |
zwei von ihnen die Schulbücher selbst bezahlen. Fast alle Eltern sind | |
zugewandert. Alman – Deutscher – ist hier ein Schimpfwort, es ist haram – | |
eine Schande –, schwul zu sein. Die Schüler fragen sich gegenseitig: | |
Fastest du? Warum trägst du kein Kopftuch? | |
Die Robert-Bosch-Stiftung und die Berliner Senatsverwaltung wählten 2013 | |
die zehn schwächsten Schulen der Stadt aus und spendierten den Lehrerinnen | |
Fortbildungen, Berater und Studienreisen. Die Hector-Peterson-Schule | |
gehörte zu den Auserwählten. Das Projekt heißt School Turnaround – frei | |
übersetzt: Kehrtwende. | |
Kann ein einzelnes Programm – so gut gemeint es auch ist – etwas an den | |
Strukturen ändern? Und wenn ja: Schafft es eine Schule wie die | |
Hector-Peterson, ihre Schüler trotz schlechterer Startpositionen so zu | |
fördern, dass ihnen am Ende alle Wege offenstehen? | |
## Die Schüler sind in der Pubertät, die Schule auch | |
Juli 2018: Bevor sie in die Aula gehen, um ihre Zeugnisse zu bekommen, | |
treffen sich die Schülerinnen und Schüler der 10a2 in ihrem alten | |
Klassenraum. „Die 5 Regeln für ein gutes Klassenklima“ sind an die Wand | |
gepinnt, wie eine Postkarte aus dem letzten Jahr. „Mensch, Latif, schicket | |
Hemd haste an“, begrüßt die Klassenleiterin Benita Bandow den schmalen | |
Jungen mit dunklen Haaren. Latif, der Klassensprecher, lächelt und streicht | |
über seine zurechtgegelte Tolle. „Na, haste deine beste Jogginghose | |
angezogen?“, ruft Bandow Dardan zu, der lässig die Hand hebt. | |
Die Schüler sagen, Frau Bandow sei wie eine Mutter für die Klasse. Sie | |
weiß, wessen Eltern sich getrennt haben, wessen Mutter gehörlos ist, | |
welches Kind nach der Schule den Haushalt schmeißt und wer in seiner | |
Familie als Einziger morgens aufsteht. Sie ist fordernd und nervt manchmal. | |
„Du siehst aus wie ein Zelt“, schimpfte sie mal mit einer Schülerin, die | |
zur Theaterprobe einen bodenlangen Mantel trug. Die Schülerin protestierte | |
nicht, Frau Bandow durfte das. | |
Bandow winkt Dardan und Latif zu sich. „Stellt euch mal nebeneinander.“ Sie | |
projiziert ein Klassenfoto aus dem siebten Schuljahr aufs Whiteboard. Die | |
Schüler johlen. „Guck mal mein Style! Voll Grundschule!“, ruft einer. | |
Bandows Blick wandert zwischen dem Bild an der Wand und den beiden Jungen | |
hin und her. „Latif, jetzt bist du fast so groß wie Dardan, damals warste | |
zwei Köppe kleiner.“ | |
Dardan, Latif, Rabia, Shirin, Yusuf und all die anderen, die wir damals | |
trafen, sind jetzt mitten in der Pubertät, zwischen zwei Zuständen. So wie | |
ihre Schule. | |
April 2015: Es ist stickig in der Aula der Hector-Petersen-Schule und Frau | |
Bandow bekommt langsam schlechte Laune. Seit eineinhalb Stunden probt sie | |
mit ihrer 7. Klasse für eine Theateraufführung. Zwei Mädchen sind nicht | |
erschienen. Die anderen sind unkonzentriert. Fast die ganze Klasse fastet, | |
es ist Ramadan. | |
Auf der Bühne stehen Shirin, Dardan und Yusuf in dunklen T-Shirts und | |
Jogginghosen. Jeder soll in einem Satz sagen, was er gern mag. | |
Shirin: „Ich mag Theater.“ | |
Dardan: „Ich bin ein Berliner.“ | |
Yusuf: „Ich mag Geschichte, vor allem Griechenland. Percy Jackson und so.“ | |
Dardan: „Du meinst den Film?“ | |
Yusuf: „Manchmal lese ich auch die Bücher.“ | |
Dardan: „Du lügst, ihr habt doch gar keine Bücher außer dem Koran.“ | |
Die anderen kichern. | |
Bandow stemmt die Arme in die Hüften: „Leute, das war die schlechteste | |
Nummer, die ich je erlebt habe. Raus auf den Hof.“ | |
## Transgender? Rabia kennt das Wort nicht | |
Sechs Wochen lang dauert das Theaterprojekt zu Beginn des siebten | |
Schuljahrs. Theater bleibt auch in den folgenden Jahren Teil des | |
Unterrichts. Zwölf Aufführungen sind es bis zum Abschlusszeugnis. Die | |
Kinder entwickeln die Stücke zusammen mit Künstlern des benachbarten | |
Theaters Hebbel am Ufer. | |
Das Theaterspielen ist für die 7a2 nicht nur eine Gruppenübung. Es gehört | |
zum Profil der Schule und ist für Schüler der Theaterklasse verpflichtend. | |
Es hilft, Schülern, die sich selbst nichts mehr zutrauen, wieder das Gefühl | |
zu geben: Du kannst was, du verdienst Respekt. | |
Eine Schülerin, die auf dem Schulhof das Wort führt, kriegt auf der Bühne | |
kaum einen Ton heraus. Ein stiller, dicklicher Junge tritt so entschlossen | |
auf, dass seine Mitschüler ihm beeindruckt lauschen. Es gehört Mut dazu, | |
sich auf der Bühne zu zeigen. | |
Es gehört auch Mut dazu, sich auf Projekte einzulassen, bei denen die | |
Schüler die Grenzen des von Religion und Elternhaus bestimmten Terrains | |
verlassen. Etwa wenn es um Themen wie sexuelle Identität geht. Das Wort | |
„Transgender“ existierte in Rabias Welt nicht mal als Schimpfwort. Bis sie | |
für eine Hausaufgabe mit einer Transfrau ins Gespräch kam. Sie unterhielten | |
sich zwei Stunden lang. | |
„Wenn jemand kommt und sagt: Kannst du diese Rolle spielen?, dann meckern | |
wir nicht, sondern nehmen das an“, sagt Rabia. Sie lächelt. „Wir haben | |
Disziplin gelernt. Und unsere Aufführung wird am Ende perfekt.“ | |
„Am Anfang hatten alle Lampenfieber“, sagt Yusuf. „Wir wollten nicht auf | |
die Bühne.“ Aber nach einem Jahr haben sie sich daran gewöhnt. „Und wenn | |
jemand lacht, dann ist uns das egal“, sagt er und hebt das Kinn. | |
## Frontalunterricht vergessen die Schüler schnell | |
Um Freiraum fürs Theaterspielen zu schaffen, hat die studierte Kunst- und | |
Geschichtslehrerin Bandow Stunden zusammengelegt. Sie unterrichtet ihre | |
Klasse auch in Deutsch, Ethik, Erdkunde und Politik. „Allet meins“, sagt | |
sie. | |
Wann die Kinder den Schulstoff lernen würden, fragen die Eltern sie oft. | |
„Ich erkläre dann immer, dass sie natürlich auch knallhart Fachnoten | |
bekommen: Wenn wir ein Theaterstück über Europa hatten, dann haben sie von | |
mir in Politik eine Note bekommen, wenn sie Sachen recherchiert haben über | |
Diskriminierung und Genderfragen, dann gab’s eine Note in Ethik.“ | |
Frontalunterricht vergessen die Schüler nach zwei Tagen. „Aber was sie sich | |
beim Theaterspielen erarbeiten, das sitzt auch nach Jahren noch.“ | |
Nachdem die Kinder vom Hof zurückgekommen sind, auf den Bandow sie | |
geschickt hatte, rezitiert Latif auf der Bühne Brechts Ballade vom | |
Schneider von Ulm. „Bischof, ich kann fliegen.“ – „Es wird nie ein Mens… | |
fliegen“, entgegnet ein Mitschüler als Bischof. | |
Juli 2018: Bei der Zeugnisvergabe tritt Latif auf die Bühne der Aula. Er | |
ist jetzt Schulsprecher, eigentlich wollte er nur Stellvertreter werden. | |
Aber Frau Steinhagen meinte, er sei zuverlässig und der Einzige, der sich | |
beworben habe. Heute sagt er: „Es war gar nicht so anstrengend, wie ich | |
dachte.“ | |
Latif steht sehr gerade vor dem Mikrofon, er hält eine kurze Rede: „Nun ist | |
die Zeit, in der jeder von uns die Schule verlässt und seinen eigenen Weg | |
geht und seine Träume wahr macht.“ | |
Kann Bildung Flügel verleihen? Starten Kinder, die zu Hause kein Deutsch | |
sprechen, die ihre Hausaufgaben am Esstisch machen und im Haushalt helfen | |
müssen, mit den gleichen Chancen ins Berufsleben wie Kinder, die von ihren | |
Eltern zum Turnen und zur Musikschule gefahren werden? | |
## „Wollen ist nicht gleich Können“ | |
Nein, sagen Studien. Herkunft entscheidet über die Zukunft. Im nationalen | |
Bildungsbericht, der im Juni erschien, heißt es: 16- bis 30-Jährige mit | |
Migrationshintergrund oder aus Haushalten mit niedrigem Bildungsstand haben | |
seltener einen Hochschulabschluss und häufiger keinen Berufsabschluss als | |
Gleichaltrige aus Akademikermilieus und ohne familiäre | |
Migrationsgeschichte. | |
Aber Latif, der will fliegen. Er, der nach der sechsten Klasse mit einer | |
klaren Hauptschulempfehlung kam, hat am Ende der zehnten einen | |
Notendurchschnitt von 1,5 und wird sich für die gymnasiale Oberstufe | |
anmelden. | |
Rabia und Yusuf klatschen begeistert, als Latif in der Aula Sonnenblumen an | |
die Lehrer verteilt. Beide werden die Schule mit dem Hauptschulabschluss | |
verlassen. Rabia, die einst als Einzige mit einer Gymnasialempfehlung von | |
ihrer Grundschule kam. Yusuf, der ohne zu lernen Dreien schreibt. | |
Warum hebt nur Latif ab? | |
In der ersten Reihe sitzt Monika Steinhagen im grau-weiß gemusterten | |
Blazer. Sie tritt nach Latif ans Mikrofon. Sie lobt viel. Und sie tadelt. | |
Sie sagt auch: „Wollen ist nicht gleich können.“ | |
Monika Steinhagen ist ein bisschen müder geworden in diesen drei Jahren, | |
ihre Träume kleiner. Wenige Tage vor der Zeugnisvergabe hat sie durch das | |
Schulgebäude geführt, so kurz vor den Ferien war es warm und fast leer. | |
„Jetzt ist auch der dritte Stock renoviert“, sagt sie stolz. Vor drei | |
Jahren blätterte noch die Farbe ab, die Wände waren bekritzelt. Nächstes | |
Jahr kommt die vierte Etage dran. „Jedes Jahr ein Stückchen“, sagt | |
Steinhagen. Von der radikalen Kehrtwende träumt sie nicht mehr. | |
Steinhagen hat das Projekt Kehrtwende in der Schule durchgesetzt und | |
vorangetrieben. Als sie 2011 die Schulleitung übernahm, hatte Berlin gerade | |
eine Schulreform umgesetzt. Seit 2010 gibt es nur noch Grundschulen, | |
Gymnasien und Sekundarschulen mit und ohne Abitur. Aus der einstigen | |
Gesamtschule Hector-Peterson wurde eine Sekundarschule ohne Oberstufe. Den | |
Traum von einer eigenen Abiturstufe hat Steinhagen mittlerweile aufgegeben. | |
Sie kriegen sowieso nicht genügend Schüler zusammen. Immerhin schafft jeder | |
Dritte den Mittleren Schulabschluss und hat so die Möglichkeit, das Abitur | |
zu machen. „Wir haben die Schüler, die wir haben“, sagt Steinhagen. „Es | |
sind tolle Schüler.“ | |
## Längst kommt nicht mehr wöchentlich die Polizei | |
Die Schulreform ist schuld, dass es bergab ging, sagten die Lehrer vor drei | |
Jahren. „Bei uns melden sich garantiert nur Kinder ohne Gymnasialempfehlung | |
an.“ Das schreckt Eltern ab, die wollen, dass ihr Kind mal Abitur macht. | |
Also die Mehrheit. | |
Am Ruf der Schule hat sich auch im Jahr 2018 nicht viel geändert. Für | |
gerade ein Drittel der Schüler, die in diesem Schuljahr aufgenommen wurden, | |
ist die Hector-Peterson-Schule erste Wahl. „Die Eltern denken immer noch, | |
hier gibt’s Gewalt und es wird mit Drogen gedealt“, sagt Steinhagen in | |
ihrem Büro. Wie vor drei Jahren hängt hinter ihrem Schreibtisch ein Bild | |
von Nelson Mandela, der zuversichtlich lächelt. | |
Eigentlich geht es aufwärts mit der Hector-Peterson. Längst kommt die | |
Polizei nicht mehr wöchentlich auf den Schulhof. Es ist friedlicher, wohl | |
auch, weil die Schülerzahl sich halbiert hat. Rund 350 Schüler lernen hier, | |
knapp 90 Prozent verlassen die Schule mit einem Abschluss – von der | |
berufsbildenden bis zur Mittleren Reife. | |
„Unsere Schüler kommen gern zur Schule“, sagt Steinhagen. „Nur nicht imm… | |
gern zum Unterricht.“ Sie schaut auf den Schulhof, wo ein Dreiergrüppchen | |
unter Bäumen sitzt. „Mein Eindruck ist“, sagt sie leise, „dass viele | |
Schüler mit dem Wert Arbeit nicht viel anfangen können. Manche brechen | |
Praktika nach drei Wochen ab. Oder sie kommen nicht, weil sie Schnupfen | |
haben.“ | |
An der Hector-Peterson gab es in diesem Jahr zum zweiten Mal eine zehnte | |
Klasse für Schüler, die ihren Mittleren Schulabschluss nachholen wollten. | |
Nur 10 von 26 haben durchgehalten, sechs konnten sich verbessern. „Die | |
Erfahrung, dass man auch etwas erreicht, wenn man sich anstrengt, haben | |
viele Schüler in ihren Familien nicht gemacht“, sagt Steinhagen. „Sie sind | |
mit Hartz IV zufrieden.“ | |
Die Klassenlehrerin der 10a2, Frau Bandow, sagt: „Das Problem sind die | |
Eltern. Die wollen, dass ihre Kinder Anwalt werden oder Arzt. Und wenn sie | |
merken, dass sie das nicht schaffen, ist es auch egal.“ | |
## 50 Euro für den Abschluss | |
Latif, Rabia und Yusuf kommen aus Familien, die Soziologen als | |
bildungsbenachteiligt beschreiben würden. Die Eltern haben einfache oder | |
gar keine Abschlüsse. Das heißt aber nicht, dass sie Bildung | |
geringschätzen. | |
Latif ist von einem Tag auf den anderen 50 Euro reicher geworden. Er kommt | |
in den Ferien in ein graffitiverziertes Jugendzentrum im Görlitzer Park. | |
„Mein Bruder hat gesagt, wenn ich den Mittleren Schulabschluss bestehe, | |
dann schenkt er mir 50 Euro“, erzählt er strahlend. | |
Das Jugendzentrum ist leer, es öffnet erst später am Nachmittag. Latif hat | |
vorher angefragt, ob wir uns hier treffen können. Akkurat wie immer. Wir | |
setzen uns auf Holzblöcke neben dem Eingang. Zweimal kommen Leute vorbei | |
und fragen nach dem Minigolfplatz. Latif weist ihnen den Weg. Das ist sein | |
Kiez. | |
Wie hat er es geschafft, sich vom Hauptschüler zum Gymnasiasten | |
hochzuarbeiten? Er zuckt mit den Schultern. Er habe sich eben in der | |
siebten Klasse ganz nach vorn gesetzt und immer aufgepasst. „Wenn ich | |
Hausaufgaben habe, mach ich die. Fertig. Normal eigentlich.“ | |
Normal für behütete Mittelschichtkinder. Normal auch in Latifs | |
Freundeskreis. Seine vier engsten Freunde kennt er noch aus der | |
Grundschule. Die Eltern kommen aus dem Iran, aus Frankreich, aus | |
Deutschland, aus der Türkei. Zwei von ihnen gehen aufs Gymnasium, zwei | |
wechseln jetzt in die gymnasiale Oberstufe. So wie Latif. „Ich habe Lust, | |
Abitur zu machen. Ich bin der Erste aus meiner Familie.“ Er sagt das | |
zweimal. Klar, er ist stolz. | |
Juli 2015: Als Benita Bandow am Ende der siebten Klasse die Zeugnisse | |
austeilt, ruft sie zunächst die Schüler mit den wenigsten Verspätungen nach | |
vorn. Latif darf als einer der Ersten aufstehen. Irgendwann wird auch Rabia | |
aufgerufen. Als Bandow ihr das Zeugnis gibt, schlägt Rabia erschrocken die | |
Hand vor den Mund. 45 Verspätungen! Aber als sie sich setzt, lächelt sie | |
schon wieder: „Ich habe voll viele Zweien. Und zum ersten Mal keine Fünf.“ | |
Rabia geht gern zur Schule. Dort treffe sie neue Menschen, sagt sie. Zu | |
Hause, am Kotti, kennt sie alle und alle kennen sie. Sie trifft die | |
Cousinen und die Tante, sie hilft im Haushalt und redet mit ihrer Mutter | |
Türkisch. „Zu Hause bin ich die ausländische Rabia. Aber wenn ich in der | |
Schule bin, bin ich eine ganz andere Person. Dann achte ich auf meine | |
Zukunft.“ | |
## „Bist du für Erdoğan oder bist du dumm?“ | |
Als das achte Schuljahr beginnt und die Klasse ein Theaterstück aufführen | |
soll, ist Rabia nicht da. Keiner weiß, warum sie wochenlang fehlt. | |
Irgendwann taucht sie wieder auf. | |
Frau Bandow wird am Ende der zehnten Klasse sagen, dass es für Rabia eine | |
Leistung gewesen sei, den Hauptschulabschluss, der in Berlin „erweiterte | |
Berufsbildungsreife“ heißt, zu schaffen. | |
Und Yusuf, der eine Arbeit wollte, die Spaß macht? Er weiß, als er sein | |
Abschlusszeugnis bekommt, immer noch nicht, was er werden will. „Kennen Sie | |
die Achterbahn auf dem Rummel?“, fragt er. „Es macht Spaß, man möchte imm… | |
wieder rauf und runter. Aber irgendwann reicht es einfach. So ist es mit | |
der Schule auch.“ | |
Ihm reicht es. Trotzdem wird er noch eine Runde drehen. Frau Bandow sagt, | |
dass Yusuf noch der innere Antrieb fehle. | |
Viele Kinder bringen ein festes Weltbild mit in die Schule. Sie sind | |
konservativ erzogen und unterziehen sich Gesinnungstests: „Bist du für | |
Erdoğan oder bist du dumm?“ Beim Theaterspielen treffen sie auf Menschen, | |
die aus einem ganz anderen Kosmos kommen: Aktivisten, homosexuelle | |
Künstler, Kosmopoliten. Zusammen haben sie die Theaterstücke erarbeitet. | |
Erdoğan hätte das nicht gefallen. Doch der Kulturkampf blieb aus. | |
Schwulsein mag in den Familien vieler Kinder eine Schande sein, aber mit | |
dem schwulen Regisseur haben sie gut zusammengearbeitet. | |
Die Schüler haben die Künstler vom Theater auch zur Zeugnisvergabe | |
eingeladen. Einer von ihnen sagt bewegt: „Das war voll cool mit euch, eine | |
inspirierende und besondere Arbeit.“ | |
Eine Regisseurin hat in der neunten Klasse mit Yusuf und anderen ein Stück | |
erarbeitet. Es spielte auf einer einsamen Insel. So habe sich anfangs auch | |
die Arbeit angefühlt. „Sechs türkische und arabische Jungs und ich. Ich | |
habe mich gefragt, finden wir eine gemeinsame Sprache?“ Dann war es ihre | |
bisher lustigste Produktion, sagt sie. „Die Jungs sind unmittelbar. Da gibt | |
es keinen Dünkel.“ | |
## „Als Erinnerung checkt die Storys auf Insta“ | |
Vielleicht hat das Theater die elterliche Erziehung unterlaufen. Vielleicht | |
hat es den Jugendlichen aber auch neue Perspektiven eröffnet. | |
Mit einem rumänischen Künstler sind sie im Mai 2017 durch Berlin gelaufen | |
und haben gerappt. Als sie am Tag der Zeugnisvergabe zum letzten Mal in | |
ihrem Klassenraum zusammenkommen, zeigt Bandow die Videos auf dem | |
Whiteboard. „Wir sind Berliner“, singen Yusuf, Dardan und Latif und rennen | |
durch den Park am Gleisdreieck. | |
„Wir kommen alle aus verschiedenen Kulturen, unsere Eltern sagen, bleibt | |
auf unseren Spuren. Aber in Berlin leben alle zusammen. Zeit zu | |
entspannen.“ | |
Im zweiten Video irren Shirin und ihre Mitschülerinnen über einen | |
betonierten Platz. | |
„Unsere Generation hat alles und nichts, keine Ziele, keine Ahnung, nur | |
geschminkt im Gesicht. Wir sehen gut aus, aber die Zukunft ist finster. Als | |
Erinnerung checkt die Storys auf Insta.“ | |
Dann kommt der Reichstag ins Bild: „Politik interessiert uns nicht. Punkt. | |
Politik interessiert sich ja auch nicht für uns.“ | |
Wie kann es sein, dass gerade die Schulen mit den schwächsten Schülern am | |
stärksten unter dem Lehrermangel leiden? Fünf Stellen hat Monika | |
Steinhagen, die Schulleiterin, im Juli noch zu vergeben. „Die wollen alle | |
ans Gymnasium“, seufzt sie. | |
Wäre es nicht die Aufgabe der Politik, hier steuernd einzugreifen? | |
In der Aula beginnt endlich die Zeugnisvergabe. Die Klassenleiterin Bandow | |
ruft die Jugendlichen einzeln auf die Bühne. | |
„Für den Sonnenschein der Klasse, ehrlich und reflektiert“ – Rabia tritt | |
nach vorn. | |
„Für die lebensfrohe Prinzessin, sie wird immer auf die Füße fallen“ – | |
Shirin erhält ihr Zeugnis. | |
„Und am Schluss ein ganz besonderer Schüler, der Jahrgangsbeste, er ist | |
Klassensprecher und Schülersprecher, mehr kann man sich nicht einbringen“ – | |
Latif tritt verlegen nach vorn. Die Schulleiterin selbst überreicht ihm das | |
Zeugnis. Sie schüttelt ihm die Hand und fragt: „Kommen noch mehr von deiner | |
Familie?“ | |
„Leider nein“, sagt Latif. „Aber mein Kind, das schicke ich an die | |
Hector-Peterson.“ | |
## Dardans Traum wird wahr | |
Manche Schüler vergleichen die Zeugnisse untereinander, andere schauen sie | |
nur kurz an und stecken sie ein. | |
Drei Schüler der 10a2 haben keinen Abschluss geschafft. | |
Benita Bandow ist trotzdem zufrieden. „Im Großen und Ganzen sind die fit“, | |
sagt sie und schaut zu ihrer Klasse. Ihre Schüler seien zwar schlecht im | |
Auswendiglernen. Aber das Arbeiten an Projekten und in der Gruppe hat sich | |
ausgezahlt: Die Jungen und Mädchen wissen, wie man Informationen | |
selbstständig recherchiert. Sie wissen, wie man lernt. Und wie man es | |
schafft, Misserfolge als Chance zu sehen. | |
September 2018: Latif besucht die gymnasiale Oberstufe einer Sekundarschule | |
in Friedrichshain. Er ist einer von fünf arabischen Schülern in der Klasse. | |
Das Niveau sei höher, sagt er, aber er habe sich gut eingelebt. Als | |
künstlerisches Fach hat er Darstellendes Spiel gewählt. | |
Shirin und Rabia haben sich als Einzelhandelsverkäuferinnen beworben, aber | |
keine Lehrstelle gefunden. Zu einem Gespräch wollen sie nicht noch einmal | |
kommen. Shirin schreibt per Whatsapp, sie seien beide an einem | |
Oberstufenzentrum und hätten weder Lust noch Zeit. | |
Yusuf und Dardan sind keine Freunde mehr. Yusuf wiederholt die zehnte | |
Klasse und will an einer anderen Schule den Mittleren Schulabschluss | |
machen. Dardan hat einen Lehrvertrag als Kanalbauer. Seine Ausbildung | |
begann im August. | |
21 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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