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# taz.de -- Einstige Brennpunktschule in Berlin: Zwischen zwei Zuständen
> Eine Kreuzberger Schule wollte die Revolution: Die Herkunft der Kinder
> sollte nicht über ihre Zukunft bestimmen. Eine Langzeitbeobachtung.
Bild: Rabia war die einzige, die mit einer Gymnasialempfehlung an die Hector-Pe…
Die Anspannung steigt in der Aula der Hector-Peterson-Schule in
Berlin-Kreuzberg. Die Schüler der drei zehnten Klassen drängeln sich an
diesem Mittwoch im Juli auf Klappstühlen, Lehrer und Sozialarbeiter nehmen
am Rand und in den hinteren Reihen Platz. Für die Schüler ist es der
letzte Schultag, sie bekommen ihre Abschlusszeugnisse.
Unter den rund 60 Zehntklässlern sind auch die Schüler der 10a2. Latif
sitzt am Gang im weißen Hemd, Rabia inmitten ihrer Freundinnen, reckt den
Kopf, um besser sehen zu können, Yusuf lehnt sich breitbeinig zurück.
Vor drei Jahren hat die taz die Mädchen und Jungen der 10a2, der
sogenannten Theaterklasse, mehr als ein Jahr lang begleitet. Damals
probierten die Kinder und ihre Klassenlehrerin neue Wege des Lernens aus,
sie waren Teil eines Prozesses, in dem sich die Schule neu erfinden wollte.
Aus der Brennpunktschule sollte eine Vorzeigeschule werden.
„Wovon träumt ihr?“, haben wir Latif, Rabia, Shirin, Dardan, Yusuf und die
anderen vor drei Jahren gefragt.
„Ich will Abitur machen“, sagte Latif. Er und sein Zwillingsbruder sind die
jüngsten von sechs Kindern. Der Vater arbeitet in einem Schawarma-Laden,
die Mutter ist Hausfrau.
„Ich will Sozialpädagogin werden“, sagte Rabia. Sie hat vier Geschwister,
ihre Eltern arbeiteten damals beide nicht. Ihre Lieblingsfächer in der
Schule waren Sport und Kunst.
„Ich will Ärztin werden, aber es wird schwierig mit meinen Noten“, sagte
Shirin. Sie wächst bei ihren Großeltern auf.
„Ich werde Kanalbauer“, sagte Dardan, dessen Eltern aus dem Kosovo sind. Er
hatte gehört, dass man so 7.000 Euro im Monat verdienen könne. Seine Mutter
ist Altenpflegerin.
„Kanäle sauber machen – das stinkt doch“, sagte sein Kumpel Yusuf. „Ich
möchte eine Arbeit, die Spaß macht.“ Yusuf wollte lieber mit dem Kopf als
mit den Händen arbeiten. Seine Eltern betreiben eine Pizzeria, er hilft
manchmal die Kartons zu falten.
## Was ist aus den Träumen geworden?
Auch die Schulleiterin, Monika Steinhagen, eine Frau, die ihren Kollegen so
herrlich auf den Keks gehen kann, wie es heißt, hatte einen Traum. Sie
wollte, dass die Hector-Peterson ihren Ruf als Schule loswird, an der
Gewalt und Drogen Alltag sind. Sie wollte, dass sich wieder mehr Schüler
anmelden, die voller Überzeugung sagen: „Ich habe mich bewusst für die
Hector-Peterson entschieden.“
Drei Jahre später, im Juli 2018, haben die Schüler die taz zu ihrer
Abschlussfeier eingeladen. Was ist aus den Träumen geworden?
Die Hector-Peterson-Schule liegt an einer vielbefahrenen Straße im schicken
Teil von Berlin-Kreuzberg. Die Kinder, die im Umkreis wohnen, fahren
morgens an ihrem eisernen Tor vorbei. Die meisten Schüler kommen mit der
U-Bahn, viele wohnen im Kreuzberger Osten, rund um das Kottbusser Tor. Der
Kotti, wie die Berliner den Platz nennen, ist Touristenmagnet, Drogentreff,
sozialer Brennpunkt und Revier für Immobilienhaie zugleich. Jedem dritten
Kind aus diesem Gebiet bescheinigen Ärzte bei der Einschulungsuntersuchung
unzureichende Deutschkenntnisse, jedes sechste bis siebte ist
übergewichtig.
An der Hector-Peterson-Schule kommen acht von zehn Schülern aus Familien,
die finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten. In der 10a2 müssen nur
zwei von ihnen die Schulbücher selbst bezahlen. Fast alle Eltern sind
zugewandert. Alman – Deutscher – ist hier ein Schimpfwort, es ist haram –
eine Schande –, schwul zu sein. Die Schüler fragen sich gegenseitig:
Fastest du? Warum trägst du kein Kopftuch?
Die Robert-Bosch-Stiftung und die Berliner Senatsverwaltung wählten 2013
die zehn schwächsten Schulen der Stadt aus und spendierten den Lehrerinnen
Fortbildungen, Berater und Studienreisen. Die Hector-Peterson-Schule
gehörte zu den Auserwählten. Das Projekt heißt School Turnaround – frei
übersetzt: Kehrtwende.
Kann ein einzelnes Programm – so gut gemeint es auch ist – etwas an den
Strukturen ändern? Und wenn ja: Schafft es eine Schule wie die
Hector-Peterson, ihre Schüler trotz schlechterer Startpositionen so zu
fördern, dass ihnen am Ende alle Wege offenstehen?
## Die Schüler sind in der Pubertät, die Schule auch
Juli 2018: Bevor sie in die Aula gehen, um ihre Zeugnisse zu bekommen,
treffen sich die Schülerinnen und Schüler der 10a2 in ihrem alten
Klassenraum. „Die 5 Regeln für ein gutes Klassenklima“ sind an die Wand
gepinnt, wie eine Postkarte aus dem letzten Jahr. „Mensch, Latif, schicket
Hemd haste an“, begrüßt die Klassenleiterin Benita Bandow den schmalen
Jungen mit dunklen Haaren. Latif, der Klassensprecher, lächelt und streicht
über seine zurechtgegelte Tolle. „Na, haste deine beste Jogginghose
angezogen?“, ruft Bandow Dardan zu, der lässig die Hand hebt.
Die Schüler sagen, Frau Bandow sei wie eine Mutter für die Klasse. Sie
weiß, wessen Eltern sich getrennt haben, wessen Mutter gehörlos ist,
welches Kind nach der Schule den Haushalt schmeißt und wer in seiner
Familie als Einziger morgens aufsteht. Sie ist fordernd und nervt manchmal.
„Du siehst aus wie ein Zelt“, schimpfte sie mal mit einer Schülerin, die
zur Theaterprobe einen bodenlangen Mantel trug. Die Schülerin protestierte
nicht, Frau Bandow durfte das.
Bandow winkt Dardan und Latif zu sich. „Stellt euch mal nebeneinander.“ Sie
projiziert ein Klassenfoto aus dem siebten Schuljahr aufs Whiteboard. Die
Schüler johlen. „Guck mal mein Style! Voll Grundschule!“, ruft einer.
Bandows Blick wandert zwischen dem Bild an der Wand und den beiden Jungen
hin und her. „Latif, jetzt bist du fast so groß wie Dardan, damals warste
zwei Köppe kleiner.“
Dardan, Latif, Rabia, Shirin, Yusuf und all die anderen, die wir damals
trafen, sind jetzt mitten in der Pubertät, zwischen zwei Zuständen. So wie
ihre Schule.
April 2015: Es ist stickig in der Aula der Hector-Petersen-Schule und Frau
Bandow bekommt langsam schlechte Laune. Seit eineinhalb Stunden probt sie
mit ihrer 7. Klasse für eine Theateraufführung. Zwei Mädchen sind nicht
erschienen. Die anderen sind unkonzentriert. Fast die ganze Klasse fastet,
es ist Ramadan.
Auf der Bühne stehen Shirin, Dardan und Yusuf in dunklen T-Shirts und
Jogginghosen. Jeder soll in einem Satz sagen, was er gern mag.
Shirin: „Ich mag Theater.“
Dardan: „Ich bin ein Berliner.“
Yusuf: „Ich mag Geschichte, vor allem Griechenland. Percy Jackson und so.“
Dardan: „Du meinst den Film?“
Yusuf: „Manchmal lese ich auch die Bücher.“
Dardan: „Du lügst, ihr habt doch gar keine Bücher außer dem Koran.“
Die anderen kichern.
Bandow stemmt die Arme in die Hüften: „Leute, das war die schlechteste
Nummer, die ich je erlebt habe. Raus auf den Hof.“
## Transgender? Rabia kennt das Wort nicht
Sechs Wochen lang dauert das Theaterprojekt zu Beginn des siebten
Schuljahrs. Theater bleibt auch in den folgenden Jahren Teil des
Unterrichts. Zwölf Aufführungen sind es bis zum Abschlusszeugnis. Die
Kinder entwickeln die Stücke zusammen mit Künstlern des benachbarten
Theaters Hebbel am Ufer.
Das Theaterspielen ist für die 7a2 nicht nur eine Gruppenübung. Es gehört
zum Profil der Schule und ist für Schüler der Theaterklasse verpflichtend.
Es hilft, Schülern, die sich selbst nichts mehr zutrauen, wieder das Gefühl
zu geben: Du kannst was, du verdienst Respekt.
Eine Schülerin, die auf dem Schulhof das Wort führt, kriegt auf der Bühne
kaum einen Ton heraus. Ein stiller, dicklicher Junge tritt so entschlossen
auf, dass seine Mitschüler ihm beeindruckt lauschen. Es gehört Mut dazu,
sich auf der Bühne zu zeigen.
Es gehört auch Mut dazu, sich auf Projekte einzulassen, bei denen die
Schüler die Grenzen des von Religion und Elternhaus bestimmten Terrains
verlassen. Etwa wenn es um Themen wie sexuelle Identität geht. Das Wort
„Transgender“ existierte in Rabias Welt nicht mal als Schimpfwort. Bis sie
für eine Hausaufgabe mit einer Transfrau ins Gespräch kam. Sie unterhielten
sich zwei Stunden lang.
„Wenn jemand kommt und sagt: Kannst du diese Rolle spielen?, dann meckern
wir nicht, sondern nehmen das an“, sagt Rabia. Sie lächelt. „Wir haben
Disziplin gelernt. Und unsere Aufführung wird am Ende perfekt.“
„Am Anfang hatten alle Lampenfieber“, sagt Yusuf. „Wir wollten nicht auf
die Bühne.“ Aber nach einem Jahr haben sie sich daran gewöhnt. „Und wenn
jemand lacht, dann ist uns das egal“, sagt er und hebt das Kinn.
## Frontalunterricht vergessen die Schüler schnell
Um Freiraum fürs Theaterspielen zu schaffen, hat die studierte Kunst- und
Geschichtslehrerin Bandow Stunden zusammengelegt. Sie unterrichtet ihre
Klasse auch in Deutsch, Ethik, Erdkunde und Politik. „Allet meins“, sagt
sie.
Wann die Kinder den Schulstoff lernen würden, fragen die Eltern sie oft.
„Ich erkläre dann immer, dass sie natürlich auch knallhart Fachnoten
bekommen: Wenn wir ein Theaterstück über Europa hatten, dann haben sie von
mir in Politik eine Note bekommen, wenn sie Sachen recherchiert haben über
Diskriminierung und Genderfragen, dann gab’s eine Note in Ethik.“
Frontalunterricht vergessen die Schüler nach zwei Tagen. „Aber was sie sich
beim Theaterspielen erarbeiten, das sitzt auch nach Jahren noch.“
Nachdem die Kinder vom Hof zurückgekommen sind, auf den Bandow sie
geschickt hatte, rezitiert Latif auf der Bühne Brechts Ballade vom
Schneider von Ulm. „Bischof, ich kann fliegen.“ – „Es wird nie ein Mens…
fliegen“, entgegnet ein Mitschüler als Bischof.
Juli 2018: Bei der Zeugnisvergabe tritt Latif auf die Bühne der Aula. Er
ist jetzt Schulsprecher, eigentlich wollte er nur Stellvertreter werden.
Aber Frau Steinhagen meinte, er sei zuverlässig und der Einzige, der sich
beworben habe. Heute sagt er: „Es war gar nicht so anstrengend, wie ich
dachte.“
Latif steht sehr gerade vor dem Mikrofon, er hält eine kurze Rede: „Nun ist
die Zeit, in der jeder von uns die Schule verlässt und seinen eigenen Weg
geht und seine Träume wahr macht.“
Kann Bildung Flügel verleihen? Starten Kinder, die zu Hause kein Deutsch
sprechen, die ihre Hausaufgaben am Esstisch machen und im Haushalt helfen
müssen, mit den gleichen Chancen ins Berufsleben wie Kinder, die von ihren
Eltern zum Turnen und zur Musikschule gefahren werden?
## „Wollen ist nicht gleich Können“
Nein, sagen Studien. Herkunft entscheidet über die Zukunft. Im nationalen
Bildungsbericht, der im Juni erschien, heißt es: 16- bis 30-Jährige mit
Migrationshintergrund oder aus Haushalten mit niedrigem Bildungsstand haben
seltener einen Hochschulabschluss und häufiger keinen Berufsabschluss als
Gleichaltrige aus Akademikermilieus und ohne familiäre
Migrationsgeschichte.
Aber Latif, der will fliegen. Er, der nach der sechsten Klasse mit einer
klaren Hauptschulempfehlung kam, hat am Ende der zehnten einen
Notendurchschnitt von 1,5 und wird sich für die gymnasiale Oberstufe
anmelden.
Rabia und Yusuf klatschen begeistert, als Latif in der Aula Sonnenblumen an
die Lehrer verteilt. Beide werden die Schule mit dem Hauptschulabschluss
verlassen. Rabia, die einst als Einzige mit einer Gymnasialempfehlung von
ihrer Grundschule kam. Yusuf, der ohne zu lernen Dreien schreibt.
Warum hebt nur Latif ab?
In der ersten Reihe sitzt Monika Steinhagen im grau-weiß gemusterten
Blazer. Sie tritt nach Latif ans Mikrofon. Sie lobt viel. Und sie tadelt.
Sie sagt auch: „Wollen ist nicht gleich können.“
Monika Steinhagen ist ein bisschen müder geworden in diesen drei Jahren,
ihre Träume kleiner. Wenige Tage vor der Zeugnisvergabe hat sie durch das
Schulgebäude geführt, so kurz vor den Ferien war es warm und fast leer.
„Jetzt ist auch der dritte Stock renoviert“, sagt sie stolz. Vor drei
Jahren blätterte noch die Farbe ab, die Wände waren bekritzelt. Nächstes
Jahr kommt die vierte Etage dran. „Jedes Jahr ein Stückchen“, sagt
Steinhagen. Von der radikalen Kehrtwende träumt sie nicht mehr.
Steinhagen hat das Projekt Kehrtwende in der Schule durchgesetzt und
vorangetrieben. Als sie 2011 die Schulleitung übernahm, hatte Berlin gerade
eine Schulreform umgesetzt. Seit 2010 gibt es nur noch Grundschulen,
Gymnasien und Sekundarschulen mit und ohne Abitur. Aus der einstigen
Gesamtschule Hector-Peterson wurde eine Sekundarschule ohne Oberstufe. Den
Traum von einer eigenen Abiturstufe hat Steinhagen mittlerweile aufgegeben.
Sie kriegen sowieso nicht genügend Schüler zusammen. Immerhin schafft jeder
Dritte den Mittleren Schulabschluss und hat so die Möglichkeit, das Abitur
zu machen. „Wir haben die Schüler, die wir haben“, sagt Steinhagen. „Es
sind tolle Schüler.“
## Längst kommt nicht mehr wöchentlich die Polizei
Die Schulreform ist schuld, dass es bergab ging, sagten die Lehrer vor drei
Jahren. „Bei uns melden sich garantiert nur Kinder ohne Gymnasialempfehlung
an.“ Das schreckt Eltern ab, die wollen, dass ihr Kind mal Abitur macht.
Also die Mehrheit.
Am Ruf der Schule hat sich auch im Jahr 2018 nicht viel geändert. Für
gerade ein Drittel der Schüler, die in diesem Schuljahr aufgenommen wurden,
ist die Hector-Peterson-Schule erste Wahl. „Die Eltern denken immer noch,
hier gibt’s Gewalt und es wird mit Drogen gedealt“, sagt Steinhagen in
ihrem Büro. Wie vor drei Jahren hängt hinter ihrem Schreibtisch ein Bild
von Nelson Mandela, der zuversichtlich lächelt.
Eigentlich geht es aufwärts mit der Hector-Peterson. Längst kommt die
Polizei nicht mehr wöchentlich auf den Schulhof. Es ist friedlicher, wohl
auch, weil die Schülerzahl sich halbiert hat. Rund 350 Schüler lernen hier,
knapp 90 Prozent verlassen die Schule mit einem Abschluss – von der
berufsbildenden bis zur Mittleren Reife.
„Unsere Schüler kommen gern zur Schule“, sagt Steinhagen. „Nur nicht imm…
gern zum Unterricht.“ Sie schaut auf den Schulhof, wo ein Dreiergrüppchen
unter Bäumen sitzt. „Mein Eindruck ist“, sagt sie leise, „dass viele
Schüler mit dem Wert Arbeit nicht viel anfangen können. Manche brechen
Praktika nach drei Wochen ab. Oder sie kommen nicht, weil sie Schnupfen
haben.“
An der Hector-Peterson gab es in diesem Jahr zum zweiten Mal eine zehnte
Klasse für Schüler, die ihren Mittleren Schulabschluss nachholen wollten.
Nur 10 von 26 haben durchgehalten, sechs konnten sich verbessern. „Die
Erfahrung, dass man auch etwas erreicht, wenn man sich anstrengt, haben
viele Schüler in ihren Familien nicht gemacht“, sagt Steinhagen. „Sie sind
mit Hartz IV zufrieden.“
Die Klassenlehrerin der 10a2, Frau Bandow, sagt: „Das Problem sind die
Eltern. Die wollen, dass ihre Kinder Anwalt werden oder Arzt. Und wenn sie
merken, dass sie das nicht schaffen, ist es auch egal.“
## 50 Euro für den Abschluss
Latif, Rabia und Yusuf kommen aus Familien, die Soziologen als
bildungsbenachteiligt beschreiben würden. Die Eltern haben einfache oder
gar keine Abschlüsse. Das heißt aber nicht, dass sie Bildung
geringschätzen.
Latif ist von einem Tag auf den anderen 50 Euro reicher geworden. Er kommt
in den Ferien in ein graffitiverziertes Jugendzentrum im Görlitzer Park.
„Mein Bruder hat gesagt, wenn ich den Mittleren Schulabschluss bestehe,
dann schenkt er mir 50 Euro“, erzählt er strahlend.
Das Jugendzentrum ist leer, es öffnet erst später am Nachmittag. Latif hat
vorher angefragt, ob wir uns hier treffen können. Akkurat wie immer. Wir
setzen uns auf Holzblöcke neben dem Eingang. Zweimal kommen Leute vorbei
und fragen nach dem Minigolfplatz. Latif weist ihnen den Weg. Das ist sein
Kiez.
Wie hat er es geschafft, sich vom Hauptschüler zum Gymnasiasten
hochzuarbeiten? Er zuckt mit den Schultern. Er habe sich eben in der
siebten Klasse ganz nach vorn gesetzt und immer aufgepasst. „Wenn ich
Hausaufgaben habe, mach ich die. Fertig. Normal eigentlich.“
Normal für behütete Mittelschichtkinder. Normal auch in Latifs
Freundeskreis. Seine vier engsten Freunde kennt er noch aus der
Grundschule. Die Eltern kommen aus dem Iran, aus Frankreich, aus
Deutschland, aus der Türkei. Zwei von ihnen gehen aufs Gymnasium, zwei
wechseln jetzt in die gymnasiale Oberstufe. So wie Latif. „Ich habe Lust,
Abitur zu machen. Ich bin der Erste aus meiner Familie.“ Er sagt das
zweimal. Klar, er ist stolz.
Juli 2015: Als Benita Bandow am Ende der siebten Klasse die Zeugnisse
austeilt, ruft sie zunächst die Schüler mit den wenigsten Verspätungen nach
vorn. Latif darf als einer der Ersten aufstehen. Irgendwann wird auch Rabia
aufgerufen. Als Bandow ihr das Zeugnis gibt, schlägt Rabia erschrocken die
Hand vor den Mund. 45 Verspätungen! Aber als sie sich setzt, lächelt sie
schon wieder: „Ich habe voll viele Zweien. Und zum ersten Mal keine Fünf.“
Rabia geht gern zur Schule. Dort treffe sie neue Menschen, sagt sie. Zu
Hause, am Kotti, kennt sie alle und alle kennen sie. Sie trifft die
Cousinen und die Tante, sie hilft im Haushalt und redet mit ihrer Mutter
Türkisch. „Zu Hause bin ich die ausländische Rabia. Aber wenn ich in der
Schule bin, bin ich eine ganz andere Person. Dann achte ich auf meine
Zukunft.“
## „Bist du für Erdoğan oder bist du dumm?“
Als das achte Schuljahr beginnt und die Klasse ein Theaterstück aufführen
soll, ist Rabia nicht da. Keiner weiß, warum sie wochenlang fehlt.
Irgendwann taucht sie wieder auf.
Frau Bandow wird am Ende der zehnten Klasse sagen, dass es für Rabia eine
Leistung gewesen sei, den Hauptschulabschluss, der in Berlin „erweiterte
Berufsbildungsreife“ heißt, zu schaffen.
Und Yusuf, der eine Arbeit wollte, die Spaß macht? Er weiß, als er sein
Abschlusszeugnis bekommt, immer noch nicht, was er werden will. „Kennen Sie
die Achterbahn auf dem Rummel?“, fragt er. „Es macht Spaß, man möchte imm…
wieder rauf und runter. Aber irgendwann reicht es einfach. So ist es mit
der Schule auch.“
Ihm reicht es. Trotzdem wird er noch eine Runde drehen. Frau Bandow sagt,
dass Yusuf noch der innere Antrieb fehle.
Viele Kinder bringen ein festes Weltbild mit in die Schule. Sie sind
konservativ erzogen und unterziehen sich Gesinnungstests: „Bist du für
Erdoğan oder bist du dumm?“ Beim Theaterspielen treffen sie auf Menschen,
die aus einem ganz anderen Kosmos kommen: Aktivisten, homosexuelle
Künstler, Kosmopoliten. Zusammen haben sie die Theaterstücke erarbeitet.
Erdoğan hätte das nicht gefallen. Doch der Kulturkampf blieb aus.
Schwulsein mag in den Familien vieler Kinder eine Schande sein, aber mit
dem schwulen Regisseur haben sie gut zusammengearbeitet.
Die Schüler haben die Künstler vom Theater auch zur Zeugnisvergabe
eingeladen. Einer von ihnen sagt bewegt: „Das war voll cool mit euch, eine
inspirierende und besondere Arbeit.“
Eine Regisseurin hat in der neunten Klasse mit Yusuf und anderen ein Stück
erarbeitet. Es spielte auf einer einsamen Insel. So habe sich anfangs auch
die Arbeit angefühlt. „Sechs türkische und arabische Jungs und ich. Ich
habe mich gefragt, finden wir eine gemeinsame Sprache?“ Dann war es ihre
bisher lustigste Produktion, sagt sie. „Die Jungs sind unmittelbar. Da gibt
es keinen Dünkel.“
## „Als Erinnerung checkt die Storys auf Insta“
Vielleicht hat das Theater die elterliche Erziehung unterlaufen. Vielleicht
hat es den Jugendlichen aber auch neue Perspektiven eröffnet.
Mit einem rumänischen Künstler sind sie im Mai 2017 durch Berlin gelaufen
und haben gerappt. Als sie am Tag der Zeugnisvergabe zum letzten Mal in
ihrem Klassenraum zusammenkommen, zeigt Bandow die Videos auf dem
Whiteboard. „Wir sind Berliner“, singen Yusuf, Dardan und Latif und rennen
durch den Park am Gleisdreieck.
„Wir kommen alle aus verschiedenen Kulturen, unsere Eltern sagen, bleibt
auf unseren Spuren. Aber in Berlin leben alle zusammen. Zeit zu
entspannen.“
Im zweiten Video irren Shirin und ihre Mitschülerinnen über einen
betonierten Platz.
„Unsere Generation hat alles und nichts, keine Ziele, keine Ahnung, nur
geschminkt im Gesicht. Wir sehen gut aus, aber die Zukunft ist finster. Als
Erinnerung checkt die Storys auf Insta.“
Dann kommt der Reichstag ins Bild: „Politik interessiert uns nicht. Punkt.
Politik interessiert sich ja auch nicht für uns.“
Wie kann es sein, dass gerade die Schulen mit den schwächsten Schülern am
stärksten unter dem Lehrermangel leiden? Fünf Stellen hat Monika
Steinhagen, die Schulleiterin, im Juli noch zu vergeben. „Die wollen alle
ans Gymnasium“, seufzt sie.
Wäre es nicht die Aufgabe der Politik, hier steuernd einzugreifen?
In der Aula beginnt endlich die Zeugnisvergabe. Die Klassenleiterin Bandow
ruft die Jugendlichen einzeln auf die Bühne.
„Für den Sonnenschein der Klasse, ehrlich und reflektiert“ – Rabia tritt
nach vorn.
„Für die lebensfrohe Prinzessin, sie wird immer auf die Füße fallen“ –
Shirin erhält ihr Zeugnis.
„Und am Schluss ein ganz besonderer Schüler, der Jahrgangsbeste, er ist
Klassensprecher und Schülersprecher, mehr kann man sich nicht einbringen“ –
Latif tritt verlegen nach vorn. Die Schulleiterin selbst überreicht ihm das
Zeugnis. Sie schüttelt ihm die Hand und fragt: „Kommen noch mehr von deiner
Familie?“
„Leider nein“, sagt Latif. „Aber mein Kind, das schicke ich an die
Hector-Peterson.“
## Dardans Traum wird wahr
Manche Schüler vergleichen die Zeugnisse untereinander, andere schauen sie
nur kurz an und stecken sie ein.
Drei Schüler der 10a2 haben keinen Abschluss geschafft.
Benita Bandow ist trotzdem zufrieden. „Im Großen und Ganzen sind die fit“,
sagt sie und schaut zu ihrer Klasse. Ihre Schüler seien zwar schlecht im
Auswendiglernen. Aber das Arbeiten an Projekten und in der Gruppe hat sich
ausgezahlt: Die Jungen und Mädchen wissen, wie man Informationen
selbstständig recherchiert. Sie wissen, wie man lernt. Und wie man es
schafft, Misserfolge als Chance zu sehen.
September 2018: Latif besucht die gymnasiale Oberstufe einer Sekundarschule
in Friedrichshain. Er ist einer von fünf arabischen Schülern in der Klasse.
Das Niveau sei höher, sagt er, aber er habe sich gut eingelebt. Als
künstlerisches Fach hat er Darstellendes Spiel gewählt.
Shirin und Rabia haben sich als Einzelhandelsverkäuferinnen beworben, aber
keine Lehrstelle gefunden. Zu einem Gespräch wollen sie nicht noch einmal
kommen. Shirin schreibt per Whatsapp, sie seien beide an einem
Oberstufenzentrum und hätten weder Lust noch Zeit.
Yusuf und Dardan sind keine Freunde mehr. Yusuf wiederholt die zehnte
Klasse und will an einer anderen Schule den Mittleren Schulabschluss
machen. Dardan hat einen Lehrvertrag als Kanalbauer. Seine Ausbildung
begann im August.
21 Sep 2018
## AUTOREN
Anna Lehmann
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