# taz.de -- Zwang zur Koedukation in Papenburg: Klasse mit Jungs | |
> Seltsam, dass in Zeiten von Safe Spaces Mädchenschulen ein Auslaufmodell | |
> sind. Auch im Mariengymnasium Papenburg kommen jetzt die Jungs. | |
Bild: Nun offen für alle: das Mariengymnasium in Papenburg | |
PAPENBURG taz | Nach 188 Jahren wird das [1][Mariengymnasium im | |
niedersächsischen Papenburg] im nächsten Schuljahr auch Jungen aufnehmen, | |
und die interessante Frage ist, ob das eine gute oder eine schlechte | |
Nachricht ist. Helene ist Schülerin der 10. Klasse und fand die Idee so | |
schlecht, dass sie im vergangenen Jahr mit ihrer Klasse eine | |
Unterschriftenaktion dagegen startete. 313 von knapp 700 Schülerinnen haben | |
unterschrieben. | |
Helene sitzt in einem Café neben der Schule, um davon zu erzählen, sie hat | |
sich Notizen gemacht, um nichts Wesentliches zu vergessen, obwohl sie nicht | |
so wirkt, als würde sie Wesentliches vergessen. Sie hat die Unterschriften | |
gleich in doppelter Hinsicht nicht für sich gesammelt: Weil sie als | |
Zehntklässlerin nicht davon betroffen ist, dass in den künftigen 5. Klassen | |
Jungs dabei sind. Und weil sie für „schüchterne Mädchen“ den | |
Entwicklungsraum erhalten wollte, den sie bislang hatten, und den sie | |
wichtig findet, weil sie glaubt, dass es mehr schüchterne Mädchen als | |
Jungen gibt. Sich selbst zählt sie nicht dazu, kein Wunder: Kürzlich hat | |
sie an der Mathe-Olympiade teilgenommen, davor war sie in der Technik-AG | |
und hat Programmieren gelernt, nebenbei ist sie noch bei People for Future. | |
Aber die 313 Unterschriften, die zusammengekommen sind, haben nichts | |
genützt, denn bei der Öffnung für die Jungen ging es gar nicht um | |
pädagogische Konzepte – es ging schlicht um Anmeldezahlen. Und die lagen | |
mit 72 für die drei fünften Klassen unter den erforderlichen 75, mit denen | |
man kostendeckend arbeiten und attraktive Kursauswahlen anbieten kann. „Das | |
ist der absolute Kipppunkt“, sagt Thomas Weßler, der Vorsitzende des | |
Stiftungsvorstandes der Schulstiftung im Bistum Osnabrück. Wenn man mit ihm | |
telefoniert, wird schnell klar, dass es hier nicht um eine konzeptionelle | |
Entscheidung geht, um ein Bekenntnis für oder gegen das Prinzip | |
Mädchenschule. „An Monoeduaktion ist an und für sich nichts Verkehrtes, | |
solange sie nachgefragt wird“, sagt Weßler. Und dass dem Mädchengymnasium | |
in Papenburg – dem einzigen der Schulstiftung – ein paar demographisch | |
schwierige Jahrgänge das Genick gebrochen haben. | |
Die Schule hatte sich ein einjähriges Moratorium erbeten, „superschöne | |
Dinge gemacht“, so Weßler, und gezeigt, „was für eine gute | |
Schulgemeinschaft sie hat“ – geholfen hat es nicht. Die Enttäuschung | |
darüber hat Weßler abbekommen, „schön war es nicht“, sagt er, und dass es | |
andererseits kein gutes Zeichen wäre, wenn die Schule nicht gekämpft hätte. | |
„Es hat nicht gereicht“, sagt Michael Bloemer, der Schulleiter in seinem | |
Büro. Das Mariengymnasium hat die betoneckige Nicht-Schönheit aller | |
Schulen, und dass es eine kirchliche ist, ist hier vor allem an einem sehr | |
kleinen Ansteckkreuz an Bloemers Sakko zu sehen. „Im ersten Moment war es | |
schwer, auch für die Kollegen, die die Mädchenbildung verinnerlicht haben“, | |
sagt Bloemer. „Wir haben uns geschüttelt und machen jetzt das Beste | |
daraus.“ Aber viel, so klingt es, ist gerade gar nicht zu tun. Neue | |
pädagogische Konzepte schreibt man im Mariengymnasium nicht. „Es ist ja | |
nicht die Quadratur des Kreises, wir nehmen Jungs auf“, sagt Bloemer. | |
Zunächst wird man sie ganz normal mitlaufen lassen. | |
## Wieso eigentlich kein Role Model? | |
Etwas Jungenerfahrung hat man ohnehin, weil das Mariengymnasium in der | |
Oberstufe mit dem örtlichen Gymnasium gemeinsame Kurse anbietet, wenn man | |
sie aus eigener Kraft nicht stemmen kann. | |
Es ist offenkundig, dass Michael Bloemer zu denen gehört, die die | |
Mädchenbildung verinnerlicht haben. Er zieht einen Flyer hervor, den die | |
Schule im Moratoriumsjahr bei einer Werbeagentur beauftragt hat, auch das | |
hat nicht gereicht. „Es ist ärgerlich“, sagt er, „es gibt keine | |
inhaltlichen Gründe, das bringt einen zum Nachdenken.“ Und zugleich stellt | |
er fest, dass die Mädchenschule ganz generell stirbt, jenseits des | |
Mariengymnasiums, das sei eine deutlich wahrnehmbare Tendenz. | |
Warum eigentlich? Warum ist die Mädchenschule in Zeiten, in denen „safe | |
space“ ein weitestgehend anerkanntes Konzept ist, so komplett Auslaufmodell | |
und so gar nicht Role Model? Weil sie mit der katholischen Kirche verbunden | |
ist, die nicht gerade im Aufwind ist? | |
„Eigentlich“, sagt Thomas Weßler von der Schulstiftung, „haben die | |
katholischen Schulen kein Nachfrageproblem.“ Es scheint also doch am | |
Prinzip Monoedukation zu liegen. Diejenigen, die es erhalten wollen, | |
vermeiden alle Begriffe, die nach Schutzbedürftigkeit oder Rückzug klingen. | |
„Schutzraum?“, sagt Schuldirektor Bloemer, wenn man ihn danach fragt. „Ich | |
weiß nicht, ob das der richtige Begriff ist. Eher ein Ort, wo alle | |
Kompetenzen, die Mädchen besitzen, entwickelt werden.“ Empowerment hätte | |
die Werbeagentur vielleicht auf den neuen Flyer schreiben sollen, aber | |
vielleicht wäre das auch kontraproduktiv gewesen. | |
## Monoedukation gerade kein Thema | |
Für die Forschung zu geschlechtergerechtem Unterricht in Mathematik und | |
Naturwissenschaften, und das ist bemerkenswert, ist Monoedukation zur Zeit | |
kein Thema. „Studien hängen von Auftraggebern ab, und das Thema ist nicht | |
mehr so in“, sagt Andrea Blunck, die eine Professur für Mathematik und | |
Gender an der Uni Hamburg hat. „So etwas würde es heute nicht mehr geben“, | |
sagt sie über ihre eigene Stelle, und es ist auffallend, dass die | |
Mädchenschulen und die Genderprofessuren zu MINT-Fächern zur gleichen Zeit | |
im Abwind sind. Jungen ließen sich in Mathematik eher auf Risiken bei der | |
Suche nach Lösungen ein, Mädchen folgten eher Lösungsschemata und hielten | |
sich bei dem, was man „fragend-entwickelndes Lehrgespräch“ nennt, eher | |
zurück. Ebenso wisse man, dass Jungen häufiger aufgerufen und häufiger | |
gelobt würden. | |
Folgt aus all dem, dass man eine Mädchenschule braucht, um darauf Rücksicht | |
zu nehmen? | |
## Genderstereotype greifen ab der Pubertät | |
Immerhin kommen überproportional viele der Frauen, die Mathematik oder | |
Naturwissenschaften studieren, von Mädchenschulen. Die mathematischen | |
Fähigkeiten unterscheiden sich bei den Geschlechtern erst mit etwa zehn | |
Jahren, und das ist für die Forschung Beleg dafür, dass dafür | |
Genderstereotype verantwortlich sind, die ab der Pubertät greifen. Dann, | |
und das nur als Fußnote, verschlechtert sich auch die Lesekompetenz der | |
Jungen, [2][die inzwischen ingesamt schlechtere Bildungsabschlüsse machen]. | |
„Besonders mit Blick auf die Grundschulen müsste man heute eher eine | |
Förderung der Jungen durch Monoedukation fordern“, sagt Thomas Weßler. Aber | |
die überwiegende Mehrheit der Pädagog:innen fordert ohnehin nicht | |
Monoedukation, sondern eine sogenannte reflektierte Koedukation. Alles | |
andere, so fürchten sie, würde [3][Genderstereotype eher verewigen als | |
aufbrechen]. | |
Andrea Blunck etwa würde die Schüler:innen nur phasenweise trennen und | |
setzt ansonsten auf eine gendersensible Ausbildung der Lehrenden, die sich | |
der unterschiedlichen Zugänge bewusst werden sollen und auch, etwa als | |
Grundschullehrerin, der eventuell vorhandenen eigenen Angst, mathematisch | |
unzulänglich zu sein. Denn diese Angst wird von den Lehrerinnen an die | |
Schülerinnen weitergegeben. Nur: „Genderkompetenz spielt für Lehrkräfte in | |
der Uniausbildung eine geringe Rolle“, sagt Blunck. Der Schwerpunkt liege | |
auf dem Umgang mit heterogenen Gruppen, etwa in Bezug auf | |
Lernschwierigkeiten. | |
Im Mariengymnasium Papenburg, vor dem Plakat der letzten | |
Theateraufführungen, schwärmt Michael Bloemer von den Betriebspraktika bei | |
einer Firma aus Leer, wo die Schülerinnen vor allem programmieren. „Wir | |
hätten gern mehr Mädchen von euch“, hieße es dort immer, „die bleiben | |
konzentriert bei einer Sache, während die Jungen daddeln.“ „Die Jungen sind | |
Anwender, die Mädchen sind Entwickler“, sagt Bloemer, ohne seinen Stolz zu | |
verbergen. | |
Helene, die Schülerin aus der 10. Klasse, hätte sich mehr von der | |
Unterschriftenaktion erhofft. Immerhin darf künftig jemand aus der | |
Schülerverwaltung Beisitzerin im Sitzungsrat des Bistums sein. Ihr Zorn ist | |
weitgehend verraucht. „Ich sehe es etwas gelassener“, sagt sie, „vielleic… | |
ist es ein bisschen zeitgemäßer und wir kommen immer näher ans Berufsleben, | |
an die Kooperation mit Jungs.“ | |
Aber eigentlich will sie etwas anderes: die Wahlfreiheit, dass sich auch | |
künftig Mädchen für reine Mädchenschulen entscheiden können, ohne dass das | |
ein großes Ding wäre. | |
1 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://mgpapenburg.de/ | |
[2] /Geschlechterungleichheit-an-Hamburger-Schulen/!5323093 | |
[3] /Kampf-gegen-Genderstereotype/!5851369 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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