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# taz.de -- Debatte Koedukation an Schulen: Stimmbruch, Schweiß, Schwimmbad
> Schwimmunterricht ist verpflichtend, so der Europäische
> Menschenrechtsgerichtshof. Ob Koedukation zu mehr Gleichberechtigung
> führt, ist offen.
Bild: Schöner schwimmen ohne Jungs. Zumindest in der Pubertät kann es gut fü…
Am Dienstag dieser Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
beschlossen: Zwei Schweizer Schülerinnen dürfen sich aufgrund ihrer
Religion nicht dem Schwimmunterricht entziehen. Die erwartbare Reaktion der
Mehrheit auf diesen Einzelfall: Gut so, denn der gemeinsame Unterricht von
Jungen und Mädchen, [1][die Koedukation, ist schließlich eine
Errungenschaft des Westens]. Erst die Modernisierung des Schulsystems
machte gemischtgeschlechtliche Klassen möglich.
Doch Mädchen und Jungen werden an deutschen Schulen ohnehin oft im
Sportunterricht getrennt. Auf einem Dresdner Gymnasium konnte sich die
Autorin dieses Textes nur bei Schulfesten mit den Jungs im Kugelstoßen
messen – und musste vermutlich gerade Rhythmische Sportgymnastik betreiben,
als die kleinen Herren Kraftübungen machen durften. Auch vor Raumtrennern
in der Turnhalle schreckte seinerzeit niemand zurück.
## Eingeübte Rollenklischees
Aber zurück zur Koedukation. Bereits in den 1980ern wurde Kritik am
gemeinsamen Lernen von Mädchen und Jungen geübt. Einerseits zeigen Studien,
dass Mädchen in reinen Mädchenklassen in typischerweise als männlich
konnotierten Fächern besser abschneiden – also Informatik, Physik,
Mathematik; you name it. Die Gründe dafür sind nicht abschließend geklärt.
Mädchen trauen sich aufgrund früh eingeübter Rollenklischees oft weniger zu
und werden bei falschen Antworten von den Jungs lauter verlacht. Außerdem
stehen sie Lehrer_innen gegenüber, deren unbewusste Erwartungshaltung ist,
dass ein Junge die Basics des Programmierens eben besser lernt.
[2][Männerrechtler] kritisieren wiederum, dass das Bildungssystem Jungs
diskriminiere. Vor allem habe dies mit dem hohen Frauenanteil unter den
Lehrer_innen zu tun. So weit muss man nicht gehen. Aber wer in den letzten
zwanzig Jahren die Schulbank gedrückt hat, weiß, dass typisches
Jungsverhalten in der Schule hart sanktioniert wird – egal ob von Männern
oder Frauen. Wer nicht brav und still hinter dem Tisch sitzt, wird
gemaßregelt. Fleißige Mädchen werden gelobt – und bekommen die besseren
Noten. Weil fleißig sein demnach Mädchenkram ist, finden Jungs solches
Betragen uncool und strengen sich mitunter weniger an.
Es ist nun so: Weil Jungs und Mädchen zusammen lernen, heißt das noch
nicht, dass die Geschlechtersozialisation gleichberechtigter ist. Doch
daraus zu schließen, wir sollten wieder flächendeckend Jungen- und
Mädchenschulen einführen, wäre realitätsfern. Die Welt sieht nun einmal
anders aus und grundsätzlich sind alle Geschlechter mit einem gleich hohen
Nerv- wie Liebespotenzial ausgestattet. Andererseits akkumuliert sich das
Drama der Geschlechter in einem ganz bestimmten Zeitraum, nämlich der
Pubertät.
Die Lösung des Problems könnte ganz einfach sein: Von der 7. bis zur 10.
Klasse gehen Mädchen und Jungen getrennt zur Schule – also auch zum
Schwimmunterricht in der Mittelstufe. In dieser Zeit, zwischen 12 und 16
Jahren, fühlt sich so ziemlich jeder Teenie unwohl in seiner oder ihrer
Haut. Alles ist peinlich. Stimmbruch, Schweiß, Brüste.
## Heimlich tanzende Tampons
Mädchen eignen sich in dieser Zeit eine ausgeklügelte Choreografie an, um
sich gegenseitig mit Tampons zu versorgen. Eine Hand gleitet unauffällig in
die Schultasche, kommt den Tampon dicht umschließend wieder hervor und
trifft auf eine andere umschlossene Hand, die sich nur für den Bruchteil
einer Sekunde für die Übergabe öffnet. Glückt die Choreografie einmal nicht
und der Tampon landet auf dem Fußboden, wird er von den
fasziniert-angeekelten Jungs sofort in Wasser getunkt und fortan als
Wurfgeschoss benutzt. Peinlich.
Auch peinlich: Jungs, die nicht aufstehen können, weil sie mit ihrer
Dauererektion die Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Am Ende fragt noch
eine, wie die denn wohl zustande kam – und wer will da schon zugeben, dass
ein ärmelloses T-Shirt der Ethiklehrerin auslösend war. Kurzum: In der
Pubertät haben alle Geschlechter ihre ganz eigenen Probleme und ziehen sich
deshalb ohnehin in die eigene Girl- oder Boy- Gang zurück. Erst mit 17, 18
Jahren, in der Oberstufe, ist das Gröbste überstanden. Alle fühlen sich
erwachsen und haben größtenteils [3][den Feind im System] statt im
Gegenüber identifiziert.
Für Mädchen, hetero- wie homosexuelle, wäre eine Mädchenklasse auf Zeit
sicherlich keine allzu abschreckende Vorstellung. Für einen schwulen
13-jährigen Jungen? Wahrscheinlich schon. Auf Schulhöfen gilt „schwul“ als
Schimpfwort, dort sind es häufig eher die Mädchen, die Freundschaft mit
diesen Jungs schließen. Doch es gibt Hoffnung: Pädagog_innen haben
berichtet, dass Jungen in Jungsklassen durchaus sensibler ihren eigenen
Gefühlen gegenüber sind, sich eher öffnen.
Könnte die Jungenklasse auf Zeit also ein Schutzraum sein, um neue Formen
von Männlichkeit zu entwickeln? Ohne Mädchen, vor denen irgendwer den
Starken geben muss. Und für welches Lager sollten sich Jugendliche mit
einer Transidentität entscheiden? Es ist das wiederkehrende Problem von
Schutzräumen: Sie müssen definiert werden und können so ungewollte
Ausschlüsse erzeugen.
Doch das hier vorgeschlagene Konzept einer temporären Geschlechtertrennung
kann funktionieren, wenn das erklärte Ziel tatsächlich die
Gleichberechtigung der Geschlechter ist. Die Lehrkräfte müssen dann
allerdings entsprechend ausgebildet werden.
14 Jan 2017
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## AUTOREN
Katrin Gottschalk
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