| # taz.de -- Schwimmen können und das Überleben: Die Untergeher | |
| > Droht Deutschland zum Land der Nichtschwimmer zu werden? Dieses Szenario | |
| > beschäftigt jetzt sogar den Bundestag. | |
| Bild: Schwimmen sollte man zumindest können, wenn man ins tiefe Wasser springt | |
| Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben / Nur in dem Laub der großen Bäume | |
| sausen / Muß man in Flüssen liegen oder Teichen / Wie die Gewächse, worin | |
| Hechte hausen. (Bertold Brecht) | |
| Berlin taz | So kann man es natürlich auch sehen. „Schwimmen ist Fliegen | |
| für Schwere“, hat der Slam-Poet Sebastian Rabsahl einmal gedichtet. Ein | |
| geeigneter Flugkapitän wäre Achim Wiese. Sein weißes Hemd spannt überm | |
| Bauch. Er sieht aus, als könnte er ein paar Gleitflüge im kühlen Wasser | |
| vertragen. Aber der 57-Jährige war schon länger nicht im Becken. Wiese | |
| sitzt zu oft am Schreibtisch und macht Lobbyarbeit für seinen Verein, die | |
| Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, DLRG. Obwohl Wiese, der | |
| Pressesprecher der Retter, kaum noch schwimmt, denkt er eigentlich immer | |
| ans Schwimmen, an Schwimmbäder und an die sogenannte Schwimmfähigkeit der | |
| Deutschen. | |
| Wiese träumt davon, dass ein Volk krault, taucht, gefahrlos im Wasser | |
| tollt. Alle sollen schwimmen können. Einhundert Prozent. Niemand soll | |
| untergehen. Wiese ist ein Demokrat des Sich-über-Wasser-Haltens, auch ein | |
| Idealist, denn die Deutschen können nicht mehr so wie Wiese will. Sie | |
| schwimmen schlechter. Wiese kann das belegen. Das Zahlenwerk, das er und | |
| Detlev Mohr, der Vizepräsident der Lebensretter, in diesen Tagen | |
| präsentieren, ist eindrucksvoll. Mit ihren Zahlen betreiben die beiden | |
| einen Alarmismus der guten Tat. | |
| Der schrille Alarmton ist bis nach Berlin gedrungen, bis in den Bundestag. | |
| Der Sportausschuss hat Wiese, den Schweren, und Mohr, den Drahtigen, in den | |
| Sportausschuss geladen. Die Parlamentarier wollen sich anhören, warum im | |
| vergangenen Jahr 61 Kinder ertrunken sind, dreimal so viele wie im Jahr | |
| 2014, und auch, warum im letzten Sommer 64 Flüchtlinge in deutschen | |
| Gewässern gestorben sind. Das ist eine, gemessen am Bevölkerungsanteil, | |
| extrem hohe Zahl von Ertrunkenen. | |
| Die Flüchtlinge überschätzen sich maßlos, sagen die Funktionäre, „aus ih… | |
| Heimat kennen sie halt diesen Badebetrieb wie in Deutschland nicht, und sie | |
| kennen auch nicht so etwas wie einen Baggersee. Da kommt plötzlich die | |
| nächste Baggerstufe, und weg sind sie.“ | |
| ## Sprung vom Beckenrand | |
| Noch prägnanter hat es Deutschlands Bäderchef, Berthold Schmitt, in einem | |
| Interview formuliert: „Da kommen Hünen von Männern und gehen zum | |
| Beckenrand. Sie sehen den Beckenboden und denken, sie könnten darin stehen, | |
| und springen rein. Zwei Sekunden später springen meine Mitarbeiter | |
| hinterher. Es waren nicht alle kurz vorm Ertrinken, aber sie brauchten | |
| Hilfe, um an den Beckenrand zu kommen.“ | |
| Die Städte organisieren nun oft Schwimmkurse für Flüchtlinge, aber manchmal | |
| erlaubt man sich mit ihnen auch einen derben Spaß wie ein paar Mitglieder | |
| des Vereins der Bundespressekonferenz, der den Bundespresseball | |
| organisiert. „Neue Schwimmkurse im Mittelmeer für Flüchtlinge, festhalten | |
| an Treibgut, tauchen bei hohem Wellengang, springen vom Schlauchbootrand | |
| und Atemtechniken bei Nacht und Kälte“; diese Kurse biete angeblich eine | |
| „Bundesbade-Agentur“ an, war auf Broschüren zu lesen, die beim Presseball | |
| verteilt worden waren. | |
| Eine Satire, sicherlich, aber das Schwimmenkönnen ist nicht nur bei | |
| riskanten Transfers übers Mittelmeer von Vorteil, es ist auch eine nicht | |
| unwichtige Integrationsleistung. Und zwar eine, die mitunter über Leben | |
| oder Tod entscheiden kann. Nichtschwimmer tragen in den hoch entwickelten | |
| Ländern Europas ohnehin ein soziales Stigma, sie leiden, wenn man so will, | |
| an einem Analphabetismus des Körpers: Die einen schwimmen, die anderen | |
| kommen ins Schwimmen. | |
| Aber Schwimmen kann noch mehr sein, viel mehr als nur reine Bewegung und | |
| ein motorischer Algorithmus. Für den britischen Dichter Lord Byron war es | |
| eine ebenso wichtige Körpererfahrung wie die Sexualität. Schwimmen gehört | |
| also auch zum Erwachsenwerden dazu wie die Abnabelung von den Eltern. Wer | |
| es nicht kann, fühlt sich zeitlebens unvollkommen, ist nicht selten | |
| gezwungen, diesen Makel mit blöden Ausreden zu kaschieren. | |
| ## Tiefes Wasser meiden | |
| Darunter leiden viele. Wiese und Mohr sagen, dass fast die Hälfte der | |
| Deutschen nicht richtig schwimmen kann, das heißt sie sind entweder | |
| Nichtschwimmer oder unsichere Schwimmer. Das hat jetzt eine Forsa-Umfrage | |
| ergeben. Jeder Zweite sollte also eher nicht ins tiefe Wasser gehen, ist | |
| das nicht ein bisschen übertrieben? | |
| „Nein“, sagt Wiese, „die Zahlen stimmen.“ Die Deutschen, ein Volk von | |
| Untergehern? 2004 stand es noch ein bisschen besser um die Deutschen, wenn | |
| man einer Umfrage von Emnid Glauben schenkt. Da waren es nur 23 Prozent der | |
| Bevölkerung, die wie bleierne Enten schwammen. Aber es war jetzt eher die | |
| hohe Zahl der schwimmfaulen Kinder, die medial großes Aufsehen erregte. Die | |
| Hälfte der 10-jährigen Kinder sind Nichtschwimmer, lautet der traurige | |
| Befund, den Wiese und Mohr in ihrer Präsentation vor den | |
| Bundestagsabgeordneten mit der dystopischen Frage garnieren: „Droht | |
| Deutschland ein Land der Nichtschwimmer zu werden?“ | |
| „Es geht zumindest langsam aber stetig bergab“, findet Detlev Mohr, der im | |
| Gegensatz zu Wiese noch relativ viel schwimmt und in der Ostsee sogar nach | |
| Schiffswracks schnorchelt. „Es muss etwas getan werden, damit der Trend | |
| gestoppt wird.“ Das ist schwierig, wenn allein zwischen Juli 2007 und | |
| September 2015 sage und schreibe 371 Bäder in Deutschland geschlossen | |
| wurden und in den Schwimmbädern, die noch auf haben, der Sanierungsbedarf | |
| hoch ist. | |
| ## Die Schuldfrage | |
| In ländlichen Regionen ist oft nur ein Spaßbad in der Nähe. Dort wird nicht | |
| geschwommen, sondern nur geplanscht. Und auch die Schulen schieben die | |
| Verantwortung fürs Schwimmenlernen immer mehr an die Eltern ab. Die | |
| DLRG-Funktionäre winden sich zwar etwas, aber sie finden schon, dass es | |
| sich hier um ein Versagen der deutschen Bildungspolitiker handelt. | |
| So ein Versagen will sich Linken-Politiker Jan Korte offenbar nicht | |
| vorwerfen lassen, weswegen seine Fraktion am vergangenen Mittwoch | |
| kurzfristig eine Aktuelle Stunde „zu den Auswirkungen von Privatisierungen | |
| und Schwimmbadschließungen“ im Plenum des Bundestages beantragt hat. Die | |
| Sitzung des Sportausschusses muss deswegen unterbrochen werden, weil beides | |
| gleichzeitig nicht erlaubt ist: Ausschusssitzung und sportive | |
| Parlamentsdebatte. Für Wiese und Mohr, die Schwimmlobbyisten, ist das ein | |
| großer Erfolg. Jetzt wird nicht nur im Sportausschuss unter Ausschluss der | |
| Öffentlichkeit das Thema „Schwimmfähigkeit“ besprochen, sondern auch auf | |
| der großen parlamentarischen Bühne. | |
| Den Regierungsparteien schmeckt diese Aktuelle Stunde nicht. Die paar | |
| Hinterbänkler, die sich zum Thema äußern müssen, finden dieses | |
| Schwimmgedöns irgendwie zu popelig, zu klein für den großen | |
| parlamentarischen Alltag. Josef Rief von der CDU will das Thema erst mal | |
| von der wirtschaftsliberalen Seite angehen: „Wir brauchen Wachstum, um | |
| diese Probleme zu lösen, wir kommen nicht mit Trockenübungen im Bundestag | |
| weiter.“ Er erfreut die Zuhörer mit der bahnbrechenden Erkenntnis, dass | |
| „Technik und Kondition für das Schwimmen essentiell“ seien. Oha. | |
| ## Vereinfachung von Zusammenhängen | |
| Erich Irlstorfer (CSU) wirft Jan Korte eine „gewisse Verteufelung“ vor. Wen | |
| oder was er damit genau meint, bleibt unklar. Ja, sogar die | |
| Grünen-Politikerin Britta Haßelmann gibt Korte und den Schwimmfreunden von | |
| den Linken eine mit: „Das nervt mich, mit welch platter Art das hier | |
| aufgemacht wird.“ Ihr geht wohl die parteipolitische Instrumentalisierung | |
| gegen den Strich und auch die Vereinfachung von Kausalzusammenhängen. | |
| „Mehr Schwimmbäder führen nicht automatisch zu mehr Schwimmkompetenz“, sa… | |
| denn auch Josef Rief, und Jeannine Pflugradt (SPD) rät zu mehr | |
| Privatinitiative: „Ja, es war eine nervenaufreibende Sache, meinem Sohn das | |
| Schwimmen beizubringen, ich habe so manches graue Haar verloren.“ Aber hat | |
| es sich auch gelohnt? Tja, auf diesem kümmerlichen Niveau bewegt sich die | |
| Debatte. Wir erfahren immerhin, dass Eckhard Pols von der CDU fünf Kinder | |
| hat, denen er allen schon vor der Grundschule das Schwimmen beigebracht | |
| hat. Respekt. „Das ist zeitraubend, aber finanziell machbar.“ | |
| Fazit: Liebe Bürger, macht halt mal. Wer will, kriegt’s schon irgendwie | |
| hin. Oder wie der schwimmende Schriftsteller John von Düffel sagt: „Ein | |
| Satz ist fürs Schwimmen immer zutreffend: Die Überwindung mag noch so groß | |
| sein, hinterher ist man entweder tot oder man fühlt sich besser.“ | |
| 25 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Markus Völker | |
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