| # taz.de -- Fatih Akins „Rheingold“: Durch die Wand, Bruder | |
| > Fatih Akin hat einen mitreißenden Film über den Gangsta-Rapper Xatar | |
| > gemacht. „Rheingold“ macht sich dabei nicht mit seinem Protagonisten | |
| > gemein. | |
| Bild: Ich-Erzähler im Knast: Xatar (Emilio Sakraya) in „Rheingold“ | |
| Er mache [1][Filme über unmoralische Menschen, weil die nicht langweilig | |
| seien, wird Fatih Akin] im Presseheft zu seinem neuen Film zitiert. „Ich | |
| arbeite schließlich in der Unterhaltungsindustrie.“ Das ist ein ziemlich | |
| tief gehängtes Statement und beugt allen höheren ethischen Ansprüchen vor, | |
| die man prinzipiell an einen Film über einen einstigen notorischen | |
| Kriminellen stellen könnte, der zwar im Nachhinein geläutert ist, aber mit | |
| Rapsongs über seine illegale Vergangenheit ziemlich krass Kohle verdient. | |
| Xatar, der sich in der deutschen HipHop-Szene als Musiker und Produzent | |
| einen Namen gemacht hat und eigentlich Giwar Hajabi heißt, hat 2015 eine | |
| Autobiografie veröffentlicht. Auf Basis dieses Buchs führte Fatih Akin | |
| während der Lockdown-Zeit lange Zoom-Interviews mit dem Autor, um dessen | |
| Erinnerungen mit konkreten Details zu füllen. | |
| Und man muss absolut nicht Hip-Hop-affin sein – oder latente Sympathien für | |
| kriminelle Milieus hegen –, um das filmische Ergebnis dieser Annäherung im | |
| Kino mit angehaltenem Atem zu verfolgen. „Rheingold“ ist eine Wundertüte | |
| von einem Film. Sein Protagonist wird kongenial (in verschiedenen | |
| Lebensphasen) gespielt vom Brüderpaar Emilio Sakraya und Ilyes Raoul, die | |
| sehr überzeugend in ihren Rollen sind und ja nichts dafür können, dass | |
| beide viel besser aussehen als der echte Xatar. | |
| Mit einem Feuerwerk an Effekten hebt die Saga über das Leben des Giwar | |
| Hajabi an, der 1981 als Sohn eines kurdischstämmigen MusikerInnenpaars im | |
| Iran geboren wurde. Sein Vater, Eghbal Hajabi, war dort ein angesehener | |
| klassischer Komponist. Nach der islamischen Revolution, noch vor Giwars | |
| Geburt, waren seine Eltern gezwungen, ihre Berufe aufzugeben und in den | |
| Widerstand zu gehen. | |
| ## Blut spritzt auf der Leinwand | |
| Das erläutert die entspannte Stimme eines Ich-Erzählers, der unsichtbar im | |
| Off (beziehungsweise während der Rahmenhandlung in einem unwirtlichen | |
| türkischen Gefängnis) sitzt, während auf der Leinwand Blut spritzt, | |
| Musikinstrumente zerstört werden, Menschen panisch um ihr Leben rennen und | |
| Gebäude mit großem Wumms in die Luft fliegen. | |
| Es ist eine rasante Abfolge von verstörenden Sequenzen, die in ihrer | |
| surreal übersteigerten Wirkung etwas Märchenhaftes haben. Doch gleich | |
| darauf weicht der bildmächtige magische Realismus dieses Prologs einer | |
| melancholischen Exilantengeschichte. Nach der Flucht aus dem Iran landet | |
| die Familie – der Junge ist drei Jahre alt – in einem irakischen Gefängnis. | |
| Der Vater wird gefoltert. | |
| Irgendwann dürfen sie nach Frankreich ausreisen und landen Jahre später in | |
| Deutschland, in Bonn. Dort kann Eghbal Hajabi wieder als Musiker arbeiten, | |
| und Giwar, der inzwischen eine kleine Schwester bekommen hat, muss | |
| Klavierunterricht nehmen. Als der Vater die Familie wegen einer anderen | |
| Frau verlässt, ist der Sohn im besten Halbstarkenalter, und ein klassisches | |
| Sozialdrama nimmt seinen Lauf. | |
| ## „Xatar“, der Gefährliche | |
| Der Teenager beginnt zu dealen, um Geld zu verdienen, und lernt auf | |
| dreckige Art zu boxen, um auf der Straße unbesiegbar zu sein. „Xatar“, der | |
| Gefährliche, wird sein Schlägername. Sein Weg in eine echte Karriere als | |
| Krimineller scheint unaufhaltsam. Und schon wieder sind wir in einem | |
| anderen Film gelandet, einer Gaunerkomödie diesmal, die von einem | |
| sagenhaften Coup erzählt, der zur Folge hat, dass der inzwischen recht | |
| zweifelhafte Held der Geschichte Deutschland vorübergehend verlassen muss. | |
| Nach weiteren Irrungen-Wirrungen endet die Rahmenhandlung – die, wie | |
| erwähnt, in einem türkischen Gefängnis begann – damit, dass der Protagonist | |
| auf mehrere Jahre in einen deutschen Knast einfährt. Und mit dem Ende | |
| dieser Rahmenhandlung, die Giwar Hajabis kriminelle Laufbahn gleichsam um- | |
| und abschließt, beginnt wieder etwas ganz Neues: [2][Xatars Karriere als | |
| Musiker]. | |
| Der Hip-Hop spielt eine eher nebengeordnete Rolle in diesem Film, der von | |
| vielerlei Art von Musik durchzogen und getragen wird wie von goldenen | |
| Fäden. „Rheingold“, sein vieldeutig schillernder Titel, bezieht sich zum | |
| einen auf die Musik Richard Wagners und eine Schlüsselszene in der Oper von | |
| Bonn, in der Vater und Sohn Hajabi gemeinsam einer Orchesterprobe zuhören. | |
| Dahinter eröffnet die Goldmetapher einen weiten Kosmos von | |
| Bedeutungsmöglichkeiten und -nuancen. | |
| Echtes, materielles Gold hat zentrale Bedeutung in der kriminellen Karriere | |
| Giwar Hajabis; doch zugleich ist es ein vordergründiges Symbol für das | |
| andere Gold, das mythische „Rheingold“, das als kreatives Funkeln | |
| vielleicht in jeder guten Kunst verwoben, aber ebenso schwer zu finden ist | |
| wie das verschwundene Gold aus dem spektakulären Raub, für den Xatar im | |
| Gefängnis gesessen hat. | |
| ## Allerlei Geraune über Gold | |
| Die Musik Richard Wagners und die Musik Eghbal Hajabis (dessen frühe | |
| Kompositionen eigens für den Film vom Sinfonieorchester Aachen eingespielt | |
| wurden) klingen fast leitmotivisch immer wieder an. Dann aber werden sie | |
| nach und nach kontrastiert und durchwirkt von jener völlig anderen Musik, | |
| die nicht vom Grund des Rheins stammt, sondern von der Straße. Auch das | |
| „echte Leben“ hat einen Gastauftritt im Film: in Gestalt der [3][Rapperin | |
| Schwesta Ewa], die von Xatar produziert wird und sich hier selbst spielt. | |
| Wer vor diesem Film rein gar nichts über den Protagonisten wusste und sich | |
| zu Recherchezwecken ein wenig ins Internet vertieft, findet auch dort, in | |
| Xatars Musik und dem medialen Echoraum drumherum, allerlei Geraune über | |
| Gold. Das edle Metall scheint in der Tat ein Leitmotiv von Giwar Hajabis | |
| Leben zu sein; spätestens nach jenem sensationellen Coup, der ihn so lange | |
| ins Gefängnis brachte, der aber – vor allem, weil er im Knast begann, | |
| ernsthaft Musik zu machen und sein Leben zu vertexten – auch seinen | |
| folgenden Ruhm begründete. | |
| Hajabi und seine Mittäter haben, unterstützt von unbedarften Bloggern und | |
| Szenejournalisten, den Goldraub geschickt als Schelmenstück zu vermarkten | |
| gewusst und ihr Verbrechen damit im Nachhinein erhöht und vergoldet. In | |
| diese Falle geht Fatih Akin nicht. | |
| Er wechselt in den Goldraub-Szenen permanent die Perspektive, lässt nicht | |
| nur eine unbeteiligte Kamera erzählen, was passiert, sondern schneidet | |
| Bilder der Selbstinszenierung hinein, aufgenommen mit einer Handykamera, | |
| die einen Haufen testosterontrunkener, sich selbst geil findender Typen | |
| zeigen. Das ist schon ziemlich lustig, aber gleichzeitig nur bedingt | |
| sympathisch. | |
| ## Flucht- und Familiengeschichte | |
| Das Angebot zur Identifikation mit dem Protagonisten ist ohnehin begrenzt. | |
| Zu deutlich zeigt der Film die Brutalität des Schlägers, die | |
| Gedankenlosigkeit des Dealers, die Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Mentalität | |
| dieses gelernten harten Typen, der sich selbst immer wieder neu erfunden | |
| hat. Hat erfinden müssen? Kann sein. Wer weiß. | |
| Aber eben: Langweilig ist das alles definitiv nicht, denn mit seinem | |
| Protagonisten muss sich auch Akins Film immer wieder neu erfinden. Und weil | |
| er uns zuerst durch Giwar Hajabis Flucht- und Familiengeschichte geschickt | |
| hat, steht die ganze Zeit implizit eine „Was wäre, wenn“-Frage unsichtbar | |
| mit auf der Leinwand. | |
| Was hätte wohl sein können, wenn es keine islamische Revolution im Iran | |
| gegeben hätte? Was wäre aus einem wie Giwar Hajabi geworden? Vielleicht ein | |
| klassischer Perkussionist im Teheraner Symphonieorchester? Das ist zwar | |
| schwer vorstellbar. Aber es wäre im Grunde fast weniger unglaublich als die | |
| Geschichte, die wir gerade gesehen haben. | |
| 27 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berlinale-Der-goldene-Handschuh/!5568976 | |
| [2] /Gangsta-Rap-aus-Bonn/!5010479 | |
| [3] /Frankfurter-Rapperin-Schwesta-Ewa/!5024914 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
| ## TAGS | |
| Film | |
| Fatih Akin | |
| Rapper | |
| Gangsterfilm | |
| Autobiografie | |
| HipHop | |
| Familiengeschichte | |
| Exil | |
| GNS | |
| Coming-of-Age-Film | |
| Rapper | |
| Deutscher Film | |
| HipHop | |
| wochentaz | |
| Buch | |
| Rap | |
| Brasilien | |
| Musik | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Fatih Akins neuer Spielfilm „Amrum“: Eine deutsche Kindheit | |
| Basierend auf Erinnerungen von Hark Bohm hat Fatih Akin einen berührenden | |
| Film gedreht. „Amrum“ spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. | |
| Deutsche Rap-Szene: Rapper Xatar mit 43 Jahren gestorben | |
| Er war einer der markantesten Köpfe des Deutsch-Rap: Jetzt wurde Xatar | |
| leblos in einer Kölner Wohnung gefunden. Die Todesumstände werden | |
| untersucht. | |
| Thriller „Schock“ auf DVD: Schutzräume kann es nicht geben | |
| Ein Arzt gerät zwischen die Fronten zweier rivalisierender Gruppen: | |
| „Schock“ ist ein glaubhafter deutscher Gangsterfilm. | |
| Neues Album mit Jazz und HipHop aus Köln: Die Freiheit umarmen | |
| Der Kölner Rapper Retrogott trifft auf die Jazzband Perfektomat. Das Album | |
| „Zeit Hat Uns“ ist vielschichtig und hat einen eigenen Groove. | |
| Anatolische Folkmusik: Charme des Anadolu-Rock | |
| Derya Yildirim und Graham Mushnik veröffentlichen in „Hey Dostum, Çak!“ | |
| anatolische Folksongs, die Kinder fröhlich stimmen. Und Erwachsene ebenso. | |
| Ursprünge des HipHop: Die drei Säulen des HipHop | |
| Wovon Kanye West keine Ahnung hat: Wild Style und die frühe New Yorker | |
| Graffiti-Szene in den Fotografien Martha Coopers. | |
| „Rheingold“ im Kino und auf TikTok: Wie ein Siegtor in der 95. Minute | |
| Das Xatar-Biopic „Rheingold“ von Regisseur Fatih Akın begeistert vor allem | |
| auch migrantische Jugendliche. Sie definieren das Kinoerlebnis neu. | |
| Rapper Emicida über Brasilien: „Es ist keine normale Wahl“ | |
| Der brasilianische Rapstar Emicida über gesellschaftliche Polarisierung und | |
| die Präsidentschaftswahl in seiner Heimat Brasilien am Sonntag. | |
| Rap in Deutschland und Frankreich: Gefühle aus Frankreich | |
| Deutschsprachiger Rap ist ohne Einflüsse aus dem Nachbarland gar nicht | |
| denkbar. Zeit für eine vorläufige Bilanz. | |
| Soziologe über Gangstarap: Kampfansage an Ackermann | |
| Im Buch „Soziologie des Gangstarap“ analysiert Martin Seeliger das Genre | |
| als gesellschaftliche Suche zwischen Ungleichheitskritik und Regression. |