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# taz.de -- Rapper Emicida über Brasilien: „Es ist keine normale Wahl“
> Der brasilianische Rapstar Emicida über gesellschaftliche Polarisierung
> und die Präsidentschaftswahl in seiner Heimat Brasilien am Sonntag.
Bild: Öfter mal wieder Ockerfarbe tragen: Emicida am Mikrofon
taz: Emicida, Sie treten unmittelbar vor den Wahlen in Brasilien in einigen
europäischen Metropolen auf, darunter in Berlin. Was gefällt Ihnen an der
deutschen Hauptstadt?
Emicida: Ich bin aus São Paulo, Berlin ist ganz anders, ich fahre gerne mit
dem Fahrrad durch die Stadt und kaufe Comics und Designbücher, über das
Bauhaus zum Beispiel. Da einige Freunde in Berlin leben, ist jeder
Aufenthalt emotional und endet mit einem großen Fest.
Über Ihre neue, in Brasilien gefeierte Show „AmarElo“ gibt es nun auch eine
preisgekrönte Netflix-Doku …
Die Show an sich ist schon etwas Besonderes. Aber noch schöner ist es, dass
wir überhaupt die Tournee fortsetzen können, die von der Coronapandemie
unterbrochen wurde. Mein Eindruck ist, dass jetzt alle sensibler und
offener bei Konzerten reagieren. Das macht Liveauftritte momentan so
magisch.
„AmarElo“ ist auch Titel Ihres aktuellen Albums – in dessen Songtexten
Themen wie Mitgefühl, Solidarität und Freundschaft im Mittelpunkt stehen.
In Brasilien gibt es das Sprichwort, dass die einzige Gewissheit im
[1][Leben] der Tod sei. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn Leben ist
eine ebenso unleugbare Realität. Leben ist das Zentrum, um das meine Poesie
kreist. Ich bin zwar nicht religiös, aber ich mag es, an etwas zu glauben
und die Hoffnung nicht zu verlieren. Genau das ist im Moment von
entscheidender Bedeutung für die Welt.
Andererseits, sehr populär auf dem Album ist der Song „9nha“. Er klingt
fast wie ein Liebeslied, ist aber eine Kritik am Waffenfetischismus vieler
junger Menschen.
In Brasilien glauben nicht nur junge Leute daran, dass Gewalt es ist, was
uns alle gleich macht. Aber sich berufen zu fühlen, Schmerz zu erzeugen,
kann kein Ansatz für eine bessere Gesellschaft sein. Ich mag
Doppeldeutigkeiten und „9nha“ ist ein gutes Beispiel dafür; es ist ein
Songtext, der von zwei Dingen spricht, von Liebe und von Waffen. Ich
unterschätze die [2][Intelligenz] der Hörer:Innen nicht. Sie können so
immer neue Details an der Musik entdecken.
Der Titeltrack „AmarElo“ geht auf ein Gedicht des Schriftstellers Paulo
Leminski zurück, einem Vertreter der „poesia marginal“, der „randständi…
Poesie“.
Das Werk Leminskis hat mich verzaubert. „Amarelo“ bedeutet ja eigentlich
Gelb – in Leminskis Schreibweise („AmarElo“) meint es aber die Wörter Li…
(„amar“) und Verbindung („elo“), woraus er macht: „O amor é o elo en…
azul e o amarelo“. „Die Liebe ist die Verbindung zwischen Blau und Gelb“.
In den letzten Jahren haben Sie sich über Musik hinaus engagiert. Unter
anderem spüren Sie dem Erbe von Rassismus und Kolonialismus im heutigen
Brasilien nach, haben sich aber auch an der Förderung der psychischen
Gesundheit und des Wohlbefindens in der Schwarzen Gemeinschaft gekümmert …
Mir ging es dabei nie nur um die Schwarze Gemeinschaft, auch wenn sie für
mich im Vordergrund steht. Inzwischen glaube ich, dass es keinen Sinn hat,
aus dem Leiden einen Wettbewerb machen zu wollen. Die Welt bringt viel
Schmerz hervor, und ich möchte zur Heilung derjenigen beitragen, die davon
betroffen sind. Ich glaube, wenn ich meine Stimme dafür erhebe, tue ich
etwas Ähnliches wie Frantz Fanon: Damit die Menschheit voranschreiten kann,
ist es notwendig, einen neuen Humanismus zu schaffen. Und das geht nur,
indem das große Missverständnis, das das Konzept von Rasse darstellt,
überwunden wird.
Zurück zu den Wahlen in Brasilien. Es heißt, es seien die wichtigsten seit
Jahrzehnten. Sehen Sie das auch so?
Ja, es ist keine normale Wahl. Das sieht man an den gewalttätigen Angriffen
von Anhängern Bolsonaros und der extremen Rechten auf die politischen
Gegner. Leider verhält sich ein Großteil der heimischen Presse
unverantwortlich und tut so, als ob beide Seiten das Gleiche tun. Dabei
können wir täglich sehen, dass es einen großen Unterschied zwischen ihnen
gibt. Die einen machen sich für das [3][Recht auf] kostenloses Essen stark
und für freien Universitätszugang, die anderen wünschen Homosexuellen den
Tod. Zahlreiche Medien behaupten aber, dass es auf beiden Seiten Extreme
gibt.
Eine gesellschaftliche Polarisierung durch populistische
Politiker:innen gibt es in vielen Ländern. Was ist Ihrer Meinung nach
der Grund dafür?
Faschismus ist ein Gespenst, das die Menschheit bereits lange heimsucht.
Schon Victor Hugo hat gesagt, dass Unzufriedenheit der menschlichen
Erfahrung innewohnt und dass wir sehr wenig dagegen tun können. Ich glaube,
dass wir schon eine Menge gegen das Elend unternehmen können. Wenn das
Licht der Hoffnung allerdings erlöscht, regiert das faschistische Gespenst
in dem Schatten, der dann wächst. Und durch die Pandemie, die vielen
Kriege, die Ungleichheit, die Klimakrise und den Abgrund, in den uns die
digitalisierten Beziehungen geführt haben, ist dieser Schatten größer
geworden als das Licht, das wir erzeugen.
Wir müssen sowohl unsere Chakren wieder ins Gleichgewicht bringen, als auch
unsere gesamte Existenz in Einklang mit allem, was auf diesem Planeten
lebt. Gerät diese Balance ins Ungleichgewicht, regiert die Angst! Und wo
Angst herrscht, gewinnt der Faschismus.
Gehen Sie davon aus, dass der frühere Vorsitzende der Arbeiterpartei PT,
Lula, am Sonntag gewinnt – und damit zum dritten Mal Präsident Brasiliens
wird?
Ich hoffe es, aber ich glaube nicht, dass tiefgreifende Transformationen
allein durch Wahlen erreicht werden. Es ist wie mit einer Zwiebel – die hat
viele Schichten, die alle geschält werden müssen.
Lula ist mit 76 Jahren bereits ein älterer Mann. Gibt es charismatische
Personen im linken Lager, die sein Erbe antreten könnten?
Ja, es stimmt, die Linke muss sich dringend um eine Nachfolge Lulas
kümmern, und ich denke, dass es auch geeignete Kandidat:innen gibt.
Guilherme Boulos etwa, Sprecher der Bewegung der wohnungslosen Arbeitenden
(MTST), und den Menschenrechtsaktivisten Douglas Belchior. Beide sind jung,
engagiert und kompetent.
Und was sollten soziale Bewegungen tun, wenn Bolsonaro gewinnt?
Sich organisieren und Widerstand leisten. Selbst bei einem Sieg Lulas ist
das notwendig. Ein Wahlsieg ist nur der erste Schritt.
29 Sep 2022
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## AUTOREN
Ole Schulz
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