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# taz.de -- Präsidentschaft in Brasilien: Zwei Welten gehen wählen
> Bolsonaro oder Lula? Rechtsextremer Waffennarr oder nostalgischer
> Ex-Gewerkschafter? Die Stichwahl zeigt: Brasilien steckt in der
> Sinnkrise.
Bild: Ein kleiner Altar im Haus von Rosangela da Silva
Für Rubens Horst Liesenberg ist die Sache klar: Wenn die Linke zurückkommt,
geht alles bergab. Dann werden Kirchen geschlossen, Drogen legalisiert,
Abtreibungen erlaubt. Er zupft die Hosenträger seiner Lederhose zurecht,
nimmt einen großen Schluck Bier und sagt: „Lula will den Kommunismus in
Brasilien einführen.“
Liesenberg, 50, ist ein Brasilianer mit deutschen Wurzeln, ein breiter Mann
mit moosgrünen Augen, gepflegtem Bart und leichtem Silberblick. Den Filzhut
hat er vor sich auf dem Tisch abgelegt. An diesem Vormittag ist das
„Kulturzentrum 25. Juli Blumenau“ gut besucht. Auf einer Bühne wird
Blasmusik gespielt, fast alle tragen Trachten, Bierkrüge werden in die Höhe
gestemmt – „Prosit!“
Blumenau liegt im Süden Brasiliens, im Bundesstaat Santa Catarina. Die
Stadt hat 300.000 Einwohner. [1][Bekannt ist Blumenau vor allem als
Mittelpunkt deutscher Kultur in Brasilien.] Man sieht dort Fachwerkhäuser
und Bierbrauereien, überall hängen Deutschlandfahnen. Mitte Oktober hat
hier das Oktoberfest begonnen, das zweitgrößte der Welt. Vor dem „Deutschen
Dorf“, wo das Fest stattfindet, verkaufen Händler Maßkrüge und
Lebkuchenherzen. Auf dem Festivalgelände drängen sich Menschenmassen um
riesige Bühnen und Bierstände.
In sozialen Medien zirkuliert ein Video der Eröffnungsfeier, von oben
gefilmt, ein prall gefüllter Saal, bierschwangere Stimmung. Nach der
Nationalhymne schallt es „Mito, mito, mito“ im Chor. Mito, also Mythos,
wird Jair Bolsonaro von seinen Anhängern gerufen. An kaum einem Ort hat
Brasiliens Präsident treuere Anhänger als in Blumenau.
[2][Nun findet an diesem Sonntag die Stichwahl um das brasilianische
Präsidentenamt statt.] Jair Messias Bolsonaro gegen Luiz Inácio „Lula“ da
Silva. Amtsinhaber gegen Ex-Präsident. Rechtsradikaler gegen
Sozialdemokrat. Es ist eine Wahl der harten Kontraste, es kommt zum großen
Showdown zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Trotz aller politischen Differenzen haben sie aber auch einiges gemeinsam:
Beide elektrisieren die Massen, wecken Emotionen, werden gleichermaßen
verehrt wie verachtet. Ein Riss geht durch das größte Land Lateinamerikas.
Brasilien ist in zwei Lager gespalten.
Bei der Wahl 2018 inszenierte sich Bolsonaro als Saubermann und
Anti-Establishment-Kandidat. Mit einem geschickten Wahlkampf in den
sozialen Medien gelang es ihm, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu
schüren und zu bündeln, bestehende Ressentiments weiter anzufachen. Die
Rechnung ging auf, der Außenseiter Bolsonaro gewann die Wahl.
In den fast vier Jahren seiner Amtszeit hat der ultrarechte Präsident tiefe
Spuren hinterlassen. Sein schulterzuckender Umgang mit dem Coronavirus
[3][stürzte das Land ins Pandemiechaos], wegen seiner Kahlschlagpolitik im
Regenwald gilt Brasilien als Paria im Ausland, Korruptionsskandale kratzen
an seinem eigenen Saubermann-Image. Viele haben sich mittlerweile von
Bolsonaro abgewendet, bei einigen gilt er als Hassfigur schlechthin: Wenn
er im Fernsehen spricht, klopfen sie aus Protest auf Kochtöpfe.
[4][Einiges deutet darauf hin, dass sein Konkurrent Lula die anstehende
Stichwahl gewinnen wird.] In der ersten Wahlrunde lag er 6 Millionen
Stimmen vor Bolsonaro. Doch der Rechtsaußen schnitt besser ab, als alle
Demoskopen prognostiziert hatten.
## Freund oder Feind – wir gegen die
Das hat auch mit Bolsonaros treuen Anhängern zu tun. Als Präsident hat er
es tatsächlich geschafft, [5][eine Massenbewegung hinter sich zu scharen] –
und das nicht nur im Netz. Der Bolsonarismus setzt sich aus ganz
unterschiedlichen Gruppen zusammen, Christen, Neoliberalen, Landwirten,
Waffenfans. Was sie zusammenhält: die Überzeugung, auf der richtigen Seite
zu stehen, und die Haltung, sich nach außen hermetisch abzuschirmen. In
ihrer Welt gibt es nur zwei Kategorien: für Bolsonaro oder gegen ihn.
Freund oder Feind. Wir gegen die.
Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität noch, indem er ständig Konflikte
mit den demokratischen Institutionen provoziert. Von seinen Anhängern, den
bolsonaristas, wird der Pöbelpräsident als einsamer Kämpfer verehrt, der
das Establishment das Fürchten lehrt. Bisweilen trägt der Bolsonaro-Kult
fast religiöse Züge.
Insbesondere die weiße Mittel- und Oberschicht hält ihm weiterhin die
Treue. Doch es wäre zu einfach zu sagen: Die Reichen wählen Bolsonaro, die
Armen Lula. Auch viele Schwarze aus den prekären Vorstädten unterstützen
den Rechtsradikalen. Das liegt vor allem am Einfluss der ultrakonservativen
Pfingstkirchen. [6][Schon in zehn Jahren könnten die Evangelikalen die
Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen, sagen Schätzungen]. Und
die evangelikalen Kirchen sind besonders in den Armenvierteln präsent –
[7][also gerade dort, wo der Staat es nicht ist].
Wenn man auf die Karte dieses gigantischen Landes schaut, wird dennoch
klar: Bolsonaro ist in den weißeren und reicheren Regionen
überdurchschnittlich stark. Also in Städten wie Blumenau. In der ersten
Wahlrunde stimmten dort 66,74 Prozent für Bolsonaro, nur 22,76 Prozent für
Lula. Dass diese Region traditionell rechts wählt, hat auch mit ihrer
Geschichte zu tun.
Am 22. Juni 1867 betrat eine Familie aus dem niedersächsischen Schöning ein
Schiff im Hamburger Hafen. Ziel war Brasilien. Nach drei Monaten Reise
traten die Liesenbergs zum ersten Mal auf brasilianischen Boden. Ihr neues
Zuhause war ein Städtchen im Tal des Itajaí-Açu-Flusses. Hier hatte Hermann
Blumenau, ein Apotheker aus dem Harz, im Jahr 1850 zusammen mit 17 Siedlern
eine Kolonie gegründet: Blumenau.
[8][Zehntausende folgten dem Ruf der deutschen Pioniere:] Lasst die Misere
des alten Kontinents hinter euch! Kommt in die neue Welt, nach Brasilien!
Auch die Ururgroßeltern von Rubens Horst Liesenberg wanderten mit diesem
Gedanken aus.
Liesenberg erzählt gern die Geschichte seiner Familie. Mit seiner Frau und
den beiden Söhnen wohnt er etwas außerhalb von Blumenau, dort, wo bereits
sein Großvater lebte. Er arbeitet als Buchhalter, geht oft in das deutsche
Kulturzentrum, sonntags in die Kirche, ist ein offener Mensch, hört
aufmerksam zu, lacht viel. Der 50-Jährige ist kein rechter Fanatiker – und
doch ein typischer Bolsonaro-Wähler. Die großen Medien verfolge er schon
lange nicht mehr, sagt er. Die steckten doch alle unter einer Decke, hingen
an der „Zitze der Linken“. Woher er seine Informationen bekomme? „Aus
WhatsApp-Gruppen. Und von Telegram.“
Wie Liesenberg informieren sich viele Brasilianer ausschließlich über
Messengerdienste. In kaum einem Land ist es gelungen, die Internetaffinität
der Bevölkerung so geschickt für politische Zwecke zu missbrauchen wie in
Brasilien. Das liegt auch an den Logiken der sozialen Medien: In den viel
zitierten Filterblasen werden die Benutzer in ihren Ansichten bestärkt,
können sich als Teil einer gigantischen Gemeinschaft fühlen, belohnt durch
Likes und Shares. Andere Meinungen kommen in dieser parallelen Realität
nicht vor.
Auch Rubens Horst Liesenberg teilt auf Facebook fleißig Beiträge, die
keinen seriösen Faktencheck bestehen würden. So werden in kurzen
Videoschnipseln etwa Bolsonaros Aussagen über angebliche Wahlfälschungen
sekundiert. [9][Seit Monaten verbreitet der Rechtsradikale Lügen] über das
elektronische Wahlsystem. „Nur Gott“ könne ihm die Präsidentschaft
entziehen, sagt der Mann.
Viele Politanalysten gehen davon aus: Je knapper die Stichwahl ausfallen
wird, [10][desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro das Ergebnis
nicht anerkennt.] Einige befürchten sogar einen Putschversuch. Doch für
einen offenen Bruch mit der Verfassung dürfte Bolsonaro dann doch die
nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft in
Brasilien, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen
funktionieren immer noch, zumindest halbwegs.
Es geht zum Tanz: In voller Tracht stapft Liesenberg jetzt nach vorn. Auf
der Bühne stellen sich mehrere Paare auf, Liesenberg hakt sich bei seiner
Frau ein. Ein Walzer erklingt. Vor einer Fototapete mit Berglandschaft
schwingen die Paare im Takt. Liesenberg tanzt schon seit 35 Jahren. Die
deutsche Kultur ist für ihn mehr als ein Hobby – sie ist seine Identität.
„Ich fühle mich als Brasilianer“, sagt er, „aber einen Fuß habe ich imm…
in Deutschland.“
Die Vergangenheit ist in Blumenau omnipräsent. Viele sind stolz auf die
harte Arbeit ihrer Vorfahren. Und stolz ist man auch darauf, dass es dieser
Region heute im Vergleich besser geht als dem Rest des Landes. Es
existierte sogar einmal eine Unabhängigkeitsbewegung in der Gegend. Auch
Liesenberg konnte früher etwas mit dem Gedanken anfangen, sich abzuspalten.
Heute sei er sich in dieser Frage nicht mehr sicher, sagt er, aber man
merkt: Die Abgrenzung gegen ärmere Landesteile ist ihm immer noch wichtig.
„Es ist nicht Teil unserer Identität, Dinge vom Staat zu bekommen.“ Im
Nordosten sei das anders. Das erkläre auch die Beliebtheit Lulas in jener
Region: „90 Prozent der Lula-Wähler wollen nicht arbeiten.“
## Im „Texas von Brasilien“ ballert man gern herum
Am Stadtrand Blumenaus führt ein Kopfsteinpflasterweg einen Hang hinauf.
Schon von Weitem ist die riesige Brasilienfahne zu sehen, die an der
Fassade eines weißen, kastenförmigen Gebäudes hängt. Darunter ein
Schriftzug: „Jagd- und Schießklub Concórdia“. Vor 105 Jahren gründete ein
Deutscher den Verein. Heute wird er von Moisés Lazzari geführt. Der
49-Jährige trägt ein hellblaues Polohemd, Jeans, hat eine selbstbewusste
Art – Typ Kleinunternehmer. Neben den Deutschen siedelten auch viele
Italiener in der Region, Lazzaris Vorfahren kamen aus Venetien nach
Brasilien. Das Wappen seiner Familie, sagt Lazzari, zeige einen Hund, der
ein Kaninchen jagt. „Wir waren schon immer Jäger.“
Der Bundesstaat Santa Catarina gilt als das „Texas von Brasilien“, Waffen
im Wohnzimmerschrank haben Tradition. Lazzari betont, dass die Mordrate
nirgends niedriger sei als hier. Das Schießen sei für viele vor allem eins:
ein Sport. Er selbst besitzt 14 Waffen, musste sie aber noch nie zur
Verteidigung benutzen, sagt Lazzari. Und er hoffe auch, dass das so bleibt.
Wie so viele Waffenfans ist auch Lazzari ein Anhänger von Bolsonaro. Der
rechtsradikale Präsident hat aus seiner Liebe für Waffen nie einen Hehl
gemacht. Seine Geste, beide Hände zu Pistolen zu formen, ist zum Symbol des
Bolsonarismus geworden. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt brachte er
mehrere Dekrete auf den Weg, um die Waffengesetze zu lockern. Zwar machte
ihm der Oberste Gerichtshof bei vielen Initiativen einen Strich durch die
Rechnung. Doch Bolsonaro konnte durchaus einige Erfolge feiern und den
Erwerb von Schusswaffen erleichtern. Das schlägt sich in den Statistiken
nieder: Immer mehr Waffen sind in Brasilien im Umlauf, [11][Experten
schlagen Alarm, warnen vor einer Zunahme der Gewalt].
Lazzari sieht die Sache anders: „In den allermeisten Fällen werden Waffen
für etwas Gutes verwendet.“ Mit einem Finger drückt er auf einen Sensor,
eine Tür öffnet sich. Ein kahler Gang. Dann noch eine Tür. Dahinter steht
ein Mann mit Schutzbrille und Lärmschutzkopfhörer an einem Schießstand.
Bum, bum, bum.
Wird hier mit scharfer Munition geschossen? Lazzari grinst, zieht eine
Pistole aus seinem Hosenbund, lässt ein geladenes Magazin in seine Hand
fallen und sagt: „Waffen sind ein Symbol der Freiheit.“ Die Klubmitglieder
kämen aus allen Gesellschaftsschichten, vom Anwalt bis zum Müllsammler sei
alles dabei. Ein Monatsbeitrag fällt an, jeder bringt seine eigene Waffe
mit, montags ist Frauentag.
[12][Die brasilianische Bevölkerung könne nur frei sein, wenn sie bewaffnet
sei], sagt Lazzari. Es ist das Mantra Bolsonaros. Was passiert, wenn der
Amtsinhaber die Wahl verliert? „Dann werden wir das akzeptieren. Es wird
nicht ein Schuss fallen.“ Brasilien sei schließlich eine Demokratie, betont
der Freizeitschütze.
Doch nicht alle bolsonaristas klingen so maßvoll. Manche rufen in sozialen
Medien schon zu einem regelrechten Endkampf auf, sollte nicht Bolsonaro,
sondern Lula die Wahl gewinnen, die wildesten Gerüchte und
Verschwörungsmythen kursieren. Besonders gefährlich dürfte es werden, wenn
Bolsonaro das Wahlergebnis nicht anerkennt und seine Anhänger in
Trump-Manier aufstachelt. Viele Beobachter halten das für möglich.
## Bolsonaro galt anfangs als farbloser Typ
Jair Messias Bolsonaro wuchs im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo
auf. Seine Vorfahren waren Bauern, die aus dem Norden Italiens nach
Brasilien eingewandert waren. Die Familie war nicht arm, führte aber ein
einfaches Leben. 1973 schrieb sich der junge Bolsonaro in einer
renommierten Militärakademie ein, die er 1977 als Leutnant der Artillerie
abschloss. Danach ließ er sich zum Fallschirmjäger ausbilden und diente bis
1988 in der Luftlandebrigade. Dann wurde er in den Stadtrat von Rio de
Janeiro gewählt, und zwei Jahre später zog er in das brasilianische
Parlament ein.
Dort blieb Bolsonaro zunächst lange Zeit farblos. Er war als
Interessenvertreter des Militärs und der Waffenlobby aktiv. 2015 kam er als
Parlamentsabgeordneter nach Blumenau, und Moisés Lazzari hatte die
Möglichkeit, ihn persönlich kennenzulernen. Er finde nicht alles gut, was
Bolsonaro sagt, meint Lazzari. Und: [13][Ja, manchmal vergreife sich der
Mann im Ton.] „Aber den einzigen perfekten Menschen haben wir ans Kreuz
genagelt.“ Bolsonaro sei eben ein Hauptmann der Reserve, verhalte sich oft
noch wie ein Militär. Brasilien brauche jemanden, der auch mal auf den
Tisch haue, glaubt Lazzari: „Denn wir steuern auf den Kommunismus zu.“
[14][Der fast schon paranoide Antikommunismus in Brasilien] ist nicht nur
ein Relikt des Kalten Kriegs. Für das Weltbild rechtsextremer Figuren wie
Bolsonaro ist ein fiktives Bedrohungsszenario fundamental. Überall
halluzinieren sich die heutigen Neuen Rechten eine kommunistische Bedrohung
herbei. Donald Trump behauptete etwa, eine staatliche Gesundheitsversorgung
sei ein trojanisches Pferd des Marxismus. Bolsonaro wiederum wird nicht
müde zu behaupten, die Arbeiterpartei PT plane einen kommunistischen
Umsturz. Dabei handelt es sich bei der PT bloß um gemäßigte
Sozialdemokraten.
Der theatralische Antikommunismus dient vor allem der Abgrenzung: Alles,
was als bedrohlich empfunden wird, kann zu einem einzigen, teuflischen
Feind verdichtet werden – mit Ex-Präsident Lula als prominente Hassfigur.
„Eine Rückkehr würde eine Katastrophe für Brasilien bedeuten“, glaubt
Lazzari.
Im Nordosten Brasiliens sehen das die meisten Menschen ganz anders. Eraldo
Ferreira dos Santos schiebt einen Schlüssel ins Schloss einer Holztür,
stemmt seinen Oberkörper dagegen, knarrend gibt sie nach. Dahinter ist es
stockdunkel, es riecht muffig. In einer Ecke der Lehmhütte liegen mit Stroh
gefüllte Matratzen, in der Küche rosten altertümliche Gerätschaften vor
sich hin. Elektrisches Licht gibt es nicht. Santos, 68, ein kleiner Mann
mit blauen Augen, großer Nase und Cowboyhut, klopft auf einen Balken: „Von
hier kommt der wichtigste Politiker in der Geschichte Brasiliens.“
Caetés heißt die Ansammlung von Hütten. Das Dorf liegt im staubigen
Hinterland des nordöstlichen Bundesstaats Pernambuco, mit dem Auto dauert
es eine halbe Stunde in die nächste größere Stadt Garanhuns. Am 27. Oktober
1945 erblickte Luiz Inácio in Caetés das Licht der Welt. Unter dem
Spitznamen „Lula“ wurde das siebte von acht Kindern einer bitterarmen
Familie Jahre später weltbekannt.
Eigentlich stand das Geburtshaus des berühmt gewordenen Dorfbewohners ein
paar Meter weiter oben. Doch das Land wurde verkauft. Deshalb ließ Santos
einen originalgetreuen Nachbau der Hütte hier aufbauen. Es war ihm wichtig,
denn der große Lula ist sein Cousin.
## Lula stand schon mit 14 an der Werkbank
Wohl kein Politiker prägte die brasilianische Politik in den letzten
Jahrzehnten so stark wie jener Lula. Die Faszination, die von ihm ausgeht,
hängt auch damit zusammen, dass seine Geschichte die Geschichte vieler
Brasilianer ist. Lula war sieben, als seine Mutter ihre Habseligkeiten
packte und ihre Kinder auf die Ladefläche eines Lastwagens setzte. Nach 13
Tagen Fahrt kam die Skyline von São Paulo in Sicht. Wie Millionen von
Landarbeitern ließ auch diese Familie den verarmten Nordosten hinter sich,
um im industriellen Süden ein neues Leben zu beginnen.
Früh musste Lula lernen, Verantwortung zu übernehmen: Als Kind verkaufte er
Kekse aus Maniokmehl, arbeitete als Bote und sah nur für kurze Zeit ein
Klassenzimmer von innen. Mit 14 fing er an, als Dreher in einer
Kupferfabrik zu arbeiten. An der Werkbank formte er nicht nur
Metallplatten, sondern auch eine außergewöhnliche Karriere: Der
redegewandte junge Mann brachte es schnell zum Gewerkschaftsführer,
organisierte Streiks, hielt flammende Reden vor Werkstoren.
Bald wurden die Schergen der rechten Militärdiktatur auf ihn aufmerksam,
nahmen ihn fest. 31 Tage verbrachte er im Gefängnis. Auch sein Cousin war
damals dabei. „Sie haben uns wie Tiere behandelt“, sagt er. „Da wir die
Diktatur am eigenen Leib erlebt haben, macht Bolsonaro uns große Angst.“
Anfang der 1980er Jahre gründete Lula mit einigen Mitstreitern eine Partei,
die Brasilien nachhaltig verändern sollte: die Partido dos Trabalhadores,
die Arbeiterpartei. In den dunklen Jahren der Militärdiktatur war sie ein
Sammelbecken für oppositionelle Gewerkschaftler, sozialistische Katholiken
und soziale Bewegungen, und Lula wurde ihr bekanntestes Gesicht. Sein
Interesse an Politik, erklärte er später einmal, erwachte bei einem Besuch
im brasilianischen Kongress: Von den 433 Abgeordneten kamen nur zwei aus
der Arbeiterklasse.
Das wollte Lula ändern. Dafür musste er nach ganz oben. Dreimal zog er als
Spitzenkandidat für die PT in den Wahlkampf. Dreimal unterlag er. Vor der
Wahl 2002 schlug Lula moderatere Töne an und signalisierte: Mit ihm als
Präsidenten werde es keinen radikalen Bruch geben. Revolution? Sozialismus?
Klassenkampf? Begriffe der Vergangenheit! So schrieb der Politiker mit der
unverkennbaren Kratzstimme vor 20 Jahren Geschichte: Der Metallarbeiter
wurde zum Präsidenten des größten Landes Lateinamerikas gewählt.
## Für die Armen begann eine neue, bessere Zeit
Für die Armen sollte mit Lulas Wahlsieg eine neue Zeit beginnen. Mit den
Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft konnte die Regierung Sozialprogramme
finanzieren, 30 Millionen Brasilianer entkamen der Armut, der Hunger konnte
fast komplett beseitigt werden. Schwarze Vorstadtkids schrieben sich nun an
Universitäten ein, Hausangestellte bekamen erstmals einige Arbeitsrechte
zugesprochen.
Die Früchte des Booms wurden etwas gerechter verteilt, doch an den
grundsätzlichen Strukturen wurde nicht gerüttelt. Trotzdem weckt Lula heute
bei vielen Brasilianern das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach
besseren Zeiten.
Besonders im Nordosten gilt er noch immer als Lichtgestalt. Am Stadtrand
von Garanhuns lebt Rosângela da Silva mit ihren Töchtern und Enkeln. Die
hiesigen Häuser wurden während der Regierungszeit der PT gebaut. Lulão,
großer Lula, nennen sie die Siedlung liebevoll. Silva ist 59, hat lange
graue Haare und ist so klein, dass ihre Füße nicht den Boden berühren, als
sie sich auf die Couch setzt.
Durch das dunkle Wohnzimmer rennen Kinder, draußen gackern Hühner, drinnen
ist es stickig heiß. 20 Personen wohnen hier, in drei Zimmern. An den
Wänden hängen Heiligenbilder. In ihrer Nachbarschaft, sagt Silva,
unterstützten alle Lula. In der Tat stimmten in Garanhuns 72 Prozent in der
ersten Wahlrunde für den bekannten Sohn dieser Gegend.
Während Lulas Amtszeit habe sich vieles verbessert, sagt Silva. Wohnungen
wurden gebaut, Universitäten gegründet, Kanalisationssysteme errichtet. Der
abgehängte Nordosten blühte auf. Die Silvas erhielten Sozialhilfe, konnten
sich plötzlich Dinge wie einen Fernseher leisten. Und noch wichtiger: Die
arme, schwarze Familie habe zum ersten Mal so etwas wie Würde verspürt.
Silva drückt das so aus: „Gott im Himmel, Lula auf Erden.“
Weil die brasilianische Verfassung keine dritte Amtszeit in Folge zulässt,
schied Lula 2011 aus dem Amt – mit einer Zustimmungsrate von 83 Prozent.
Barack Obama nannte ihn den „beliebtesten Politiker der Erde“.
Lulas „politische Ziehtochter“ Dilma Rousseff wurde zur Präsidentin
gewählt, und die Mehrheit der Bevölkerung blickte damals mit schier
grenzenlosem Optimismus in die Zukunft. Brasilien wurde als aufstrebender
Global Player gefeiert, galt als Musterschüler der Finanzmärkte, alles
schien möglich.
Doch es kam anders.
Denn es dauerte nicht lange, und der einstige Popstar der brasilianischen
Politik wurde für viele zur Hassfigur. Auf Demonstrationen brüllten sie
„Lula: ladrão“, „Lula: Dieb“ und hielten Puppen des Ex-Präsidenten in
Häftlingsuniform in die Luft. Die einst so stolze und populäre
Arbeiterpartei wurde eine Projektionsfläche für die Enttäuschung einer
ganzen Nation. Was war passiert?
## Ein Korruptionsskandal machte alles zunichte
Nicht nur der weltweite Boom der nuller Jahre war geendet, in Brasilien kam
zudem ein gigantisches Korruptionsnetz ans Licht – und damit schlitterte
das Land ab 2013 immer weiter in den Krisenmodus. Die größten Baufirmen
Brasiliens hatten ein Kartell gebildet, das seit vielen Jahren Aufträge des
halbstaatlichen Petrobras-Konzerns unter sich aufteilte und zu überhöhten
Preisen durchführte. Für die Vermittlung der Aufträge waren Milliarden auf
die Konten von Politikern, Staatsbeamten und Managern geflossen.
Zwischenzeitlich stand die Hälfte der Kongressmitglieder unter Verdacht,
sich bereichert zu haben.
Der ambitionierte Richter Sérgio Moro übernahm die Ermittlungen in diesem
Skandal und machte ihn zum Medienspektakel: Festnahmen wurden live im
Fernsehen übertragen, Erkenntnisse reißerisch in sozialen Medien
präsentiert, Ermittler traten wie Fußballstars in Pressekonferenzen auf.
Mit der Zeit kamen einigen Beobachtern Zweifel an der Unvoreingenommenheit
der Justiz – denn es wurde vor allem gegen die PT und ihre
Koalitionspartner ermittelt. Die großen Medien zeichneten das Bild einer
durch und durch korrupten linken Partei. Bestechungen, in die rechte
Parteien verstrickt waren, wurden hingegen kaum beachtet. Bald fragte
keiner mehr, wer tatsächlich angeklagt war, stattdessen brannte sich bei
vielen ein diffuses Bild einer durchweg korrupten Regierung ein.
So galt Lula plötzlich als Kopf eines kriminellen Netzwerks. [15][2016
wurde seine Nachfolgerin Dilma Rousseff nach einem juristisch fragwürdigen
Amtsenthebungsverfahren abgesetzt.] Im folgenden Jahr verurteilte ein
Gericht Lula wegen passiver Korruption und Geldwäsche. Der Vorwurf lautete
konkret: Der Ex-Gewerkschafter soll einem Baukonzern Staatsaufträge als
Gegenleistung für eine Luxuswohnung verschafft haben. Das Urteil stützte
sich allein auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht
präsentieren. Trotzdem kam der frühere Präsident in Haft und konnte damit,
anders als geplant, 2018 nicht bei der Wahl antreten.
Auf diese Art wurde der Weg frei für Bolsonaro. Den „Star-Richter“ Sérgio
Moro machte er später zum Justizminister. [16][Es war der perfekte Coup] –
zumindest beinahe. Denn Brasiliens serienreife Geschichte nahm weitere
Volten: [17][2019 kam Lula aus der Haft frei, und im März 2021 wurden alle
Urteile gegen ihn annulliert.] Mittlerweile hegte nämlich auch der Oberste
Gerichtshof Zweifel an der Unparteilichkeit von Richter Moro.
## Versöhnung ist das Ziel des „Lulismo“
Im Wahlkampf gibt sich Lula jetzt als großer Versöhner, als Anti-Bolsonaro,
als jemand, der das Land wieder zusammenbringen will. Er zeigt Empathie für
die Coronatoten, zeigt sich staatsmännisch auf Europatour und tut, was er
schon immer am besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken.
Am Vormittag über ein besetztes Gebiet der Landlosenbewegung MST
marschieren, am Nachmittag in einer gläsernen Bankfiliale feinen Kaffee
trinken? Kein Widerspruch für Lula. Schon immer war seine Politik auf
Konsens und Dialog ausgerichtet. Lulismo nennt sich das in Brasilien.
Lula wird nicht müde zu betonen, dass jeder Brasilianer die Möglichkeit
haben muss, Reis, Bohnen und ein Stück Fleisch zu essen. Damit spielt er
auf die aktuelle dramatische Situation vieler Familien an. Zwar ist die
Inflation in den vergangenen Monaten in Brasilien leicht zurückgegangen,
und im kommenden Jahr wird mit einem zaghaften Wirtschaftswachstum
gerechnet, doch die Verarmung hat landesweit zugenommen. Das bekommen auch
die Silvas in ihrem kleinen Haus am Stadtrand von Garanhuns zu spüren.
„Ein Gaskanister kostet heute 120 Reais“, schimpft die 59-jährige
Rosângela. Das sind umgerechnet rund 23 Euro, kaum erschwinglich für die
Familie. Öfter sei der Herd deshalb schon ausgeblieben. Oft gebe es nur
Eier und Hühnerfüße zu essen, manchmal seien sie auch schon hungrig ins
Bett gegangen.
Damit sind die Silvas nicht allein. 33 Millionen Brasilianer sind laut
Studien von sogenannter Ernährungsunsicherheit betroffen. Das heißt nichts
anderes als: Sie hungern. Viele machen dafür Präsident Bolsonaro
mitverantwortlich. Die soziale Not im Land könnte ihn das Amt kosten.
[18][Lula sagt, er wolle „das Glück“ zurück nach Brasilien holen.] Wie
genau er das machen will, verrät er aber nicht. Oft bleibt er schwammig,
viel spricht er über die Vergangenheit, fast schon nostalgisch klingt es
gelegentlich. Die goldenen Zeiten: Sie sind vorbei. Die Fronten verhärtet,
die Gesellschaft gespalten. Und der Bolsonarismus wird sich nicht einfach
in Luft auflösen, selbst wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr
Präsident sein sollte. Mit seinen 77 Jahren ist Lula wahrlich nicht mehr
der Jüngste, auch wenn er im Wahlkampf mal wie ein Rockstar tanzt oder in
Interviews erklärt, verliebt zu sein „wie ein 20-Jähriger“.
## Am Ende hilft womöglich nur: beten
In der ersten Wahlrunde schafften viele rechte Politiker den Einzug in das
Parlament. Bolsonaros Partei wird die stärkste Fraktion stellen. Das heißt:
Lula wird hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Er ist sich der
Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich politisch nun deutlich gen
Mitte. Zuletzt erklärte er gar, gegen Abtreibungen zu sein und polemisierte
gegen Unisex-Toiletten.
Allzu scharfe Kritik von linker Seite bekam er im Wahlkampf aber nicht zu
hören. Es gehe jetzt erst einmal darum, Bolsonaro zu schlagen, sagen Lulas
Parteikollegen. Wenn es einer richten könne – dann Lula!
Im Juli reiste Lula in seine alte Heimat im Bundesstaat Pernambuco. Er
stattete seinem Geburtshaus in Caetés einen Besuch ab und trat danach bei
einer klassischen Wahlkampfveranstaltung in Garanhuns auf. Tausende vor der
Bühne, ein Meer aus Rot, auf T-Shirts und Fahnen, ungezählte in die Luft
gereckte Fäuste. Lula nannte Bolsonaro einen Lügner und gab sich
selbstbewusst, die Wahl zu gewinnen. Auch Rosângela da Silva wollte
eigentlich seine Rede hören. Doch ihre Beine machten an jenem Tag schlapp.
Ihr Traum sei es, Lula irgendwann einmal persönlich kennenzulernen. Sie ist
optimistisch, dass er nun wieder Präsident wird. Und wenn nicht? Dann, sagt
sie, helfe nur noch beten.
29 Oct 2022
## LINKS
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[16] /Vor-der-Stichwahl-in-Brasilien/!5889255
[17] /Brasiliens-linker-Ex-Praesident/!5756387
[18] /Brasiliens-Ex-Praesident/!5853183
## AUTOREN
Niklas Franzen
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