# taz.de -- Wahl in Brasilien: Bis aufs Messer | |
> In Brasilien könnte der linke Kandidat Lula bei der Präsidentschaftswahl | |
> triumphieren. Aber würden Bolsonaros Anhänger eine Niederlage | |
> akzeptieren? | |
Bild: Lula da Silva bei einer Wahlkampfveranstaltung in Curtibia | |
Alle Köpfe drehen sich zur Eingangstür. Applaus, Jubel, jemand ruft: „Mein | |
Präsident!“ Umringt von einer Menschentraube kommt ein kleiner Mann in den | |
Saal marschiert, verteilt Umarmungen, Küsse auf Wangen, winkt. Es ist einer | |
der letzten Auftritte von Luiz Inácio „Lula“ da Silva vor der Wahl in | |
Brasilien an diesem Sonntag. Eine Wahl, bei der nicht einfach nur ein neuer | |
Präsident gewählt wird – es ist [1][eine Richtungsentscheidung über die | |
Zukunft des Landes]. | |
Die Arbeiterpartei PT hat an diesem grauen Septembermorgen in ein schickes | |
Hotel in São Paulo geladen. Lula soll hier Sportler*innen treffen – | |
einige sind bekannt, viele nicht. Eine Hoffnung teilen alle: dass Lula den | |
rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro schlägt. Und es sieht | |
tatsächlich so aus, als könnte ihm das gelingen. In allen Umfragen führt er | |
mit dickem Vorsprung. | |
Lula regierte das Land bereits von 2003 bis 2010. Seine Amtszeiten liegen | |
eine gefühlte Ewigkeit zurück, doch noch immer elektrisiert der 76-Jährige | |
wie kaum ein zweiter Politiker in Lateinamerika. | |
## Anekdoten und Selbstironie | |
„Wisst ihr, ich war mal Fußballspieler“, beginnt er seine Rede. Mit einer | |
markanten Kratzstimme erzählt er eine Anekdote aus seiner Jugend. Ein | |
Fußballspiel, irgendwo am Stadtrand São Paulos, sein Team kassierte eine | |
heftige Klatsche. Der ganze Saal lacht. Lulas rhetorische Fähigkeiten sind | |
legendär. Er versteht es, knallharte Kritik und emotionale Appelle mit | |
Alltagsanekdoten und Selbstironie zu verbinden. Alles in einfacher Sprache, | |
die jede*r versteht. Selbst einige seiner schärfsten Kritiker*innen | |
geben zu: Lula ist ein politisches Genie. Sein Charme verführt, sein | |
Werdegang bewegt. | |
Lulas Geschichte ist die Geschichte vieler Brasilianer*innen. Als siebtes | |
Kind einer armen Familie wuchs er im sertão auf, dem trockenen, von Hunger | |
geplagten Hinterland im Nordosten. Lula war sieben, als seine Mutter ihre | |
Habseligkeiten packte und sich mit ihren Kindern auf die Ladefläche eines | |
klapprigen Lastwagens setzte. Nach 13 Tagen Fahrt kamen endlich die | |
Hochhäuser der neuen Heimat São Paulo in Sicht. Als kleiner Junge verkaufte | |
Lula Kekse aus Maniokmehl, sah nur für kurze Zeit ein Klassenzimmer von | |
innen. | |
Mit 14 fing er an, als Dreher in einer Kupferfabrik im Industriegürtel São | |
Paulos zu arbeiten. Der redegewandte Lula brachte es schnell zum | |
Gewerkschaftsführer, organisierte Streiks, hielt flammende Reden vor | |
Werkstoren. Anfang der 1980er Jahre gründete er die Arbeiterpartei PT mit. | |
In seinem vierten Anlauf wurde er schließlich zum Präsidenten gewählt. | |
Während seiner Amtszeit leitete Lula eine durch einen Rohstoffboom | |
begünstige Umverteilung ein. Millionen von Brasilianer*innen entflohen | |
der Armut, Schwarze konnten erstmals Universitäten besuchen, | |
Hausangestellte bekamen Rechte zugesprochen. Als er nach zwei Amtszeiten | |
nicht mehr zur Wahl antreten konnte, ging er mit einer rekordhaften | |
Zustimmungsrate von 87 Prozent. So ist es nicht verwunderlich, dass Lula | |
heute bei vielen Brasilianer*innen das Gefühl von saudade, einer | |
Sehnsucht nach besseren Zeiten, weckt. | |
Auf Lula folgte seine politische Ziehtochter Dilma Rousseff, die aber 2016 | |
nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wurde. | |
Im folgenden Jahr wurde Lula dann wegen passiver Korruption und Geldwäsche | |
verurteilt. Das Urteil stützte sich auf Indizien, Beweise konnte die | |
Staatsanwaltschaft nicht präsentieren. Trotzdem kam er in Haft – damit war | |
der Weg frei für Bolsonaro. | |
Doch Brasiliens serienreife Geschichte nahm weitere Volten: 2019 kam Lula | |
aus der Haft, und im März 2021 wurden alle Urteile gegen ihn annulliert. | |
Nun plant er ein fulminantes Comeback. | |
Als Lula seine Rede in dem Hotel in São Paulo beendet, gibt es kein Halten | |
mehr. Gedrängel, Gebrüll, Geschubse. Wo immer er hinkommt, löst er eine | |
regelrechte Manie aus. Von seinen Anhänger*innen wird er gerne mal mit | |
Jesus, Superman oder Nelson Mandela verglichen. Aus europäischer | |
Perspektive mag der Personenkult befremdlich wirken. Doch in Brasilien ist | |
die Politik schon immer extrem personalisiert. Parteien sind eher | |
unbedeutend, Charisma ist wichtiger als ein stringentes Wahlprogramm. | |
Und das gilt auch für Lulas Gegenspieler. | |
Brasília, Oktober 2021. Langsam rollt eine Limousine heran und hält vor | |
einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair | |
Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung | |
stehen rund 30 Menschen. Wie fast jeden Tag trifft der Präsident in der | |
Hauptstadt seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der | |
offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies mit | |
ihm. Ein Präsident zum Anfassen. | |
Seine Fans sind an diesem Tag aus dem ganzen Land angereist. Tausende | |
Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. | |
Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt | |
Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die | |
fast sektenhafte Züge trägt. Ein regelrechter Führerkult. | |
Dabei hat Bolsonaro in den dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit eine Spur der | |
Zerstörung hinterlassen. Sein schulterzuckender Umgang mit dem Coronavirus | |
stürzte das Land ins Pandemiechaos, wegen seiner Kahlschlagpolitik im | |
Regenwald gilt Brasilien längst als Paria im Ausland, Korruptionsskandale | |
kratzen am Saubermann-Image. Und Bolsonaro hat eine Kultur des Hasses | |
etabliert, demokratische Normen beschädigt. | |
Im Wahlkampf wiegt vor allem eine Sache schwer: die wirtschaftliche Misere. | |
33 Millionen Brasilianer*innen hungern. In den sozialen Medien machen | |
verstörende Fotos die Runde. Sie zeigen Menschen, die im Müllwägen nach | |
Essensresten suchen. | |
Viele ehemalige Gefolgsleute Bolsonaros haben sich abgewendet, die | |
Enttäuschung ist groß. Doch er kann sich auf den harten Kern seiner | |
Unterstützer*innen verlassen. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner | |
ständigen Provokationen und der menschenverachtenden Politik feiern sie ihn | |
wie einen Popstar. Mit dem Bolsonarismus gibt es eine schlagkräftige | |
Bewegung, die von Hass, Wahn und Verschwörungsglauben angetrieben wird und | |
dem Präsidenten fast blind hinterherläuft. Verstärkt wird das durch die | |
Echokammern in den sozialen Medien. | |
Von den bolsonaristas wird der Pöbelpräsident als einsamer Kämpfer verehrt. | |
Jemand, der dem Establishment den Kampf angesagt hat und die Eliten das | |
Fürchten lehrt. Und Bolsonaro macht seit jeher ausschließlich Politik für | |
seine radikalisierte Basis. Die Medien, das Ausland oder Expertenmeinungen | |
sind ihm herzlich egal. Mit Massenprotesten sendet er immer wieder die | |
unmissverständliche Botschaft aus: Das Volk steht hinter mir. | |
Auch Lula setzt auf Bilder vom Bad in der Menge. Und er spielt den großen | |
Versöhner, der das tief gespaltene Land wieder zusammenbringen wird. Die | |
Bekämpfung der Armut will der Sozialdemokrat zur Chefsache machen. Deshalb | |
stehen die Armen an seiner Seite. | |
Doch auch Lula schlägt heftige Ablehnung entgegen. Seine Partei gilt bei | |
vielen als Inbegriff für Korruption und Misswirtschaft. Auch viele Linke | |
sind enttäuscht von ihm, denn während seiner Amtszeit ließ Lula Staudämme | |
bauen, die indigene Gebiete zerstörten. Er holte umstrittene Megaevents wie | |
die Olympischen Spiele 2016 ins Land und kumpelte mit dem Finanzkapital. | |
Dennoch sagen die meisten heute: Wenn es einer richten kann, dann Lula. | |
Er hat ein breites Bündnis geschmiedet, um an die Spitze Brasiliens | |
zurückzukehren – auch mit konservativen Kräften. Sollte er Präsident | |
werden, wird er viele Zugeständnisse an seine Partner*innen machen und | |
im stark zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Die | |
goldenen Zeiten sind vorbei. Die Fronten sind verhärtet, die Gesellschaft | |
gespalten, wirtschaftlich geht es dem Land schlecht. Und der Bolsonarismus | |
ist gekommen, um zu bleiben. | |
Was diese Wutbewegung zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen | |
Seite zu stehen. Eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. | |
Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei | |
Kategorien: für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Bolsonaro | |
nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den | |
demokratischen Institutionen provoziert – auch im Wahlkampf. | |
So verbreitet er Lügen über das elektronische Wahlsystem und erklärte, „nur | |
Gott“ könne ihm die Präsidentschaft entziehen. Die meisten Analyst*innen | |
gehen davon aus: Je knapper die Wahl ausfallen wird, desto größer wird die | |
Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro die Wahl nicht anerkennt. Trotz | |
[2][konstanter Putschdrohungen] dürfte ihm für einen offenen Bruch mit der | |
Verfassung allerdings die nötige Rückendeckung fehlen. | |
Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien, und die | |
demokratischen Institutionen funktionieren immer noch halbwegs. Auch im | |
Militär ist Bolsonaro nicht unumstritten – und das, obwohl er selbst | |
Hauptmann der Reserve ist und Tausende Militärangehörige in den | |
Staatsapparat geholt hat. | |
Kaum jemand bezweifelt aber, dass es zu weiterer Gewalt kommen wird. Die | |
Bilder vom [3][Sturm aufs Kapitol in Washington] könnten als Blaupause | |
dienen. Viele Bolsonaristen sind bis an die Zähne bewaffnet, auch weil | |
Bolsonaro die Waffengesetze gelockert hat. | |
Welche Folgen das haben kann, zeigte sich am 24. September im nordöstlichen | |
Bundesstaat Ceará. Dort betrat ein Mann eine Bar und fragte in die Runde: | |
„Wer ist hier ein Wähler von Lula?“ Als ein Mann antwortete: „Ich“, ra… | |
er ihm ein Messer in den Bauch. Der Lula-Anhänger starb an seinen Wunden. | |
2 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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