# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Das brasilianische Desaster | |
> Die korrupte Regierung beschließt den Rückzug des Staates. Sie will die | |
> öffentlichen Dienste aushöhlen und alle Sozialprogramme abschaffen. | |
Bild: Protest in Rio de Janeiro gegen die Korruption und Kürzungspläne der Re… | |
Nach 14 Jahren, in denen die brasilianische Arbeiterpartei (PT) viermal die | |
Wahlen gewonnen hatte, gelang es den konservativen Kräften 2016, sich neu | |
aufzustellen, die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff zu stürzen und durch | |
den Vizepräsidenten Michel Temer zu ersetzen. | |
Dieser [1][juristisch überaus zweifelhafte Coup] wäre sicherlich nicht so | |
leicht geglückt, wenn die PT zuvor nicht derart viele Fehler gemacht hätte. | |
Sie schloss wiederholt Bündnisse mit rechten Parteien und Fraktionen und | |
versuchte der Wirtschaftskrise vor allem mit Sparmaßnahmen zu begegnen, | |
obwohl dadurch die [2][Unzufriedenheit in der Gesellschaft und speziell | |
ihrer Wählerschaft wuchs]. Diese Politik hat es den Bürgern nicht gerade | |
erleichtert, der Offensive von rechts Widerstand entgegenzusetzen. | |
Sobald Rousseffs regierungsinterner Widersacher Temer von der kleineren | |
Koalitionspartei PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) | |
an die Macht gelangt war, legte er los. Sein Rezept: hemmungsloser | |
Liberalismus in der Wirtschaft und kämpferischer Konservatismus in der | |
Politik. Nach seinen ersten Entscheidungen zeichnet sich bereits jetzt eine | |
Phase des gesellschaftlichen Rückschritts ab, wie er in den letzten zwanzig | |
Jahren in Brasilien undenkbar gewesen war. | |
Mit der Zusammenstellung seines Kabinetts zeigte Temer, dass Diversität und | |
Geschlechtergerechtigkeit nicht zu seinen Prioritäten zählen. Die | |
Ministerien für Menschenrechte und für Landreform wurden abgeschafft. Gern | |
hätte sich der neue Präsident auch des Kulturministeriums entledigt, gab | |
den Plan aber angesichts heftiger Proteste aus der Kunst- und Kulturszene | |
auf. Keine Frau, kein Schwarzer hat ein Ministeramt inne; es gibt nur alte | |
weiße Männer, die gute Verbindungen zu den heimischen Oligarchien haben und | |
von denen viele zudem unter Korruptionsverdacht stehen. | |
Temers engster Verbündete im Parlament, Senatspräsident Renan Calheiros | |
(PMDB), wurde zwischenzeitlich seines Amts enthoben, da insgesamt 12 | |
Ermittlungsverfahren gegen ihn laufen, dann aber doch wieder eingesetzt. | |
Der einstige Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, ebenfalls | |
PMDB, sitzt sogar seit Oktober 2016 in Untersuchungshaft. Und [3][Temers | |
Stabschef Vieira Lima musste Ende November ebenfalls den Hut nehmen]. | |
## Ohne die Wähler | |
Das Programm des neuen Präsidenten wird zwar von den Banken und | |
Großunternehmen unterstützt, die Wähler hat er aber nie befragt. Bei einem | |
Spitzentreffen mit den brasilianischen Arbeitgebern kündigte Temer an, er | |
werde „nicht als Kandidat zur Wiederwahl“ antreten, und betonte, so könne | |
er sich voll auf „den Schwerpunkt der Haushaltssanierung“ konzentrieren. | |
Mit anderen Worten: Er wird umso stärker durchgreifen, als er nicht Gefahr | |
läuft, den politischen Preis für die Maßnahmen zu zahlen, die er den | |
Bürgern auferlegt – und es werden strenge Maßnahmen sein. | |
Das Wirtschaftsprogramm des Interimspräsidenten stützt sich auf drei | |
Vorhaben: eine Verfassungsänderung, um die Staatsausgaben zu deckeln | |
(abgekürzt PEC 241, später dem Senat als PEC 55 zur Abstimmung vorgelegt), | |
eine Reform der Sozialversicherung und eine Lockerung des Arbeitsrechts. | |
Alle drei nehmen Errungenschaften ins Visier, die hart erkämpft wurden. | |
Mit der Verfassungsänderung sollen die staatlichen Investitionen in allen | |
Bereichen für 20 Jahre eingefroren werden. Wird sie verabschiedet, dann | |
könnte der Bundeshaushalt bis zum Jahr 2037 nicht real, sondern nur im | |
Rahmen des Inflationsausgleichs wachsen – im Gegensatz zum | |
Bevölkerungswachstum, das weiter voranschreitet. Dieses im internationalen | |
Vergleich beispiellose Vorhaben kommt einer weitgehenden Aushöhlung | |
öffentlicher Dienste und der Abschaffung aller Sozialprogramme gleich. | |
Der Vorwand der Regierung lautet, sie müsse das Haushaltsdefizit | |
ausgleichen und die Schulden zurückfahren. Dabei beträgt die | |
Staatsverschuldung lediglich 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), | |
also weitaus weniger als in den meisten EU-Staaten. Nach der | |
Abgeordnetenkammer hat auch der Senat Mitte Dezember der | |
Verfassungsänderung zugestimmt, trotz massiver Proteste von Bürgern und | |
zahlreichen NGOs. Damit greift die neue Regelung bereits für den Haushalt | |
2017. | |
## Die Unterstützung der Wirtschaftseliten | |
Nicht weniger beunruhigend ist die Reform der Sozialversicherungssysteme. | |
Temer greift dafür eine Idee Dilma Rousseffs auf, die bereits die Ausgaben | |
beschneiden wollte, und führt sie noch weiter. Bislang liegen dem Kongress | |
keine Details zum Reformplan vor, aber man weiß schon, dass das | |
Renteneintrittsalter auf 65 Jahre steigen soll, wobei in einigen Regionen | |
des Landes nicht einmal die Lebenserwartung diese Marke erreicht. | |
Im dritten Projekt Temers geht es darum, das Arbeitsrecht zu | |
flexibilisieren und Personalkosten zu senken, indem man in sämtlichen | |
Wirtschaftssektoren Subunternehmen zulässt und Vereinbarungen zwischen | |
Arbeitnehmern und Arbeitgebern Vorrang gegenüber dem Gesetz einräumt. | |
Dieser Punkt stützt sich auf ein Gesetzesvorhaben, das bereits ins | |
Parlament eingebracht wurde: Arbeitsverträge, die nicht mit geltendem Recht | |
vereinbar sind, werden legalisiert, sofern sie zwischen Arbeitgebern und | |
Arbeitnehmern ausgehandelt wurden. | |
Mit diesem Programm gewann Temer schließlich die Unterstützung der – | |
zunächst zögerlichen – Wirtschaftseliten für die Amtsenthebung Dilma | |
Rousseffs, die auf eine Initiative der parlamentarischen Rechten | |
zurückging. Die Präsidentin hatte zuvor selbst versucht, die | |
Wirtschaftsvertreter zu besänftigen, indem sie 2015 die Grundlagen für ein | |
Strukturanpassungsprogramm gelegt und eine Reform der Sozialversicherung | |
angekündigt hatte. Ihre Rechnung ging jedoch nicht auf: Die Maßnahmen | |
verschärften nur die Rezession und die Unzufriedenheit der Bevölkerung; den | |
Unternehmen und Banken dagegen schien Rousseff zu unentschlossen, deshalb | |
entschieden sie sich für Temer. | |
Roussefs Sturz markiert für Brasilien das Ende einer Epoche. Seit 2003 | |
hatten die Regierungen unter Lula da Silva und Dilma Rousseff an einem | |
Arrangement gearbeitet, das soziale Fortschritte und eine Verbesserung der | |
Lebensbedingungen der Ärmsten erreichen konnte, ohne die Interessen der | |
Reichsten zu bedrohen. Die Armut ging zurück, die Profite stiegen | |
sprunghaft an. Lula da Silva war so zum [4][großen Architekten einer | |
„Politik des Ausgleichs“] geworden. | |
## Die Schulden der herrschenden Klasse | |
Die unteren Schichten der Gesellschaft profitierten von der Anhebung des | |
Mindestlohns, der wachsenden Kaufkraft der Arbeiter und von | |
Sozialprogrammen zur Armutsbekämpfung, vom besseren Zugang zu Wohnungen, | |
Gesundheitsversorgung und universitärer Bildung. Die oberen Schichten kamen | |
in den Genuss von Krediten der Brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und | |
großzügigen Steuerbefreiungen; ihre historischen Privilegien wurden nicht | |
angetastet. | |
Trotz rückläufiger Steuereinnahmen wurde an diesem System nichts geändert, | |
genauso wenig wie an der Konzentration von Grund- und Immobilienbesitz in | |
den Händen der Oligarchie. Die PT setzte immer stärker darauf, stets einen | |
Primärüberschuss zu erzielen, um Schulden zu bezahlen, die großenteils von | |
den herrschenden Klassen im Land verursacht wurden. Auch hat sie niemals | |
versucht, den [5][Zugriff des Privatsektors auf die Medien zu beschränken | |
oder die Korruption], den Schmierstoff des übernommenen politischen | |
Systems, zu beenden. | |
Dieses als Win-win-Abkommen präsentierte Modell funktionierte nur, solange | |
die Wirtschaft wuchs, und das war lange der Fall (durchschnittlich 4 | |
Prozent in beiden Amtszeiten Lula da Silvas), vor allem dank günstiger | |
internationaler Bedingungen: steigende Preise für Konsumgüter und Wachstum | |
in China. In dieser Situation konnte der Staat auch ohne die geringste | |
Strukturreform Devisenvorräte anhäufen und immer mehr Sozialprogramme | |
auflegen. | |
Mit der Wirtschaftskrise von 2008 und der veränderten Weltlage brach das | |
Modell zusammen. Die antizyklische Politik Lula da Silvas konnte im Jahre | |
2009 zunächst noch das Wirtschaftswachstum aufrechterhalten und die | |
Katastrophe hinausschieben. Aber unter der Regierung Rousseff zeigte sich | |
2014, dass das Win-win-Abkommen nicht mehr funktionierte. Der | |
Handlungsspielraum zur Vereinbarung derart unterschiedlicher Interessen war | |
zu sehr geschrumpft, und die Antwort der Präsidentin – die Sparpolitik – | |
verschärfte die Krise noch. | |
## Unfähig zur Selbstkritik | |
Die Demonstrationen vom Juni 2013 markierten das Ende des | |
gesellschaftlichen Konsenses, der die Vorherrschaft der PT garantiert | |
hatte. Die Verfahren im Korruptions- und Geldwäscheskandal „Lava Jato“ | |
beschädigten das Image der Partei und verringerten zugleich die | |
Investitionsmöglichkeiten des staatlichen Ölkonzerns Petrobras und der | |
Großkonzerne. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung implodierte, | |
während die Rechte sich wieder zusammenfand. Damit war die strategische | |
Niederlage der PT und ihr institutionelles Scheitern besiegelt. | |
In dieser Situation stehen die brasilianische Linke und die sozialen | |
Bewegungen vor neuen Schwierigkeiten. Der Niedergang der PT hat das gesamte | |
progressive Lager mitgerissen und die Offensive der Konservativen und | |
Liberalen befeuert. Die Korruptionsskandale haben die moralische Autorität | |
derjenigen, die in den Augen der Bevölkerung die Linke verkörpern, stark | |
beschädigt. Und die Unfähigkeit der Partei, echte konstruktive Selbstkritik | |
zu üben und zu analysieren, warum ihre Politik gescheitert ist, verschärft | |
die Krise weiter. | |
Die Arbeiterpartei war 35 Jahre lang die treibende Kraft der | |
brasilianischen Linken. Sie bot ein Forum, in dem sich die Kräfte der | |
sozialen Bewegungen und progressiven gesellschaftliche Gruppen bündeln | |
konnten. Heute kann sie diese Rolle kaum noch übernehmen. Das bedeutet | |
nicht, dass die Partei tot ist, wie manche Leitartikler suggerieren. Lula | |
da Silva verfügt weiterhin über starken Rückhalt in der Bevölkerung; bei | |
den nächsten Präsidentschaftswahlen hätte er trotz des laufenden | |
Gerichtsverfahrens und der Rufmordkampagne der Medien gute Chancen. Die | |
Partei jedoch hat viel von ihrer Energie und Mobilisierungskraft eingebüßt | |
– sie ist gealtert. | |
Wie wird die Linke in dieser Situation reagieren – zumal bislang keine | |
politische Gruppierung aufgetaucht ist, die den Platz der PT einnehmen | |
könnte? Es gibt natürlich einen großen Zorn über die Verfassungsänderung | |
und über die Korruption führender Politiker wie Senatspräsident Calheiros. | |
Die Wohnungslosen haben Massendemonstrationen in den Großstädten | |
organisiert, und eine kleine Gruppe ehemaliger PT-Abgeordneter hat sich | |
zusammengefunden, um mit der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) eine | |
mehr links ausgerichtete Partei zu gründen. Doch all diese Initiativen | |
stellen noch keine Lösung dar. | |
## Bruch und Konfrontation | |
Die Linke steht nämlich vor zwei großen Herausforderungen. Die erste | |
besteht darin, die Proteste gegen die Regierung Temer auszuweiten und den | |
Menschen die schwerwiegende Bedeutung der Regierungsmaßnahmen zu | |
vermitteln. Die zweite wäre, ein neues politisches Lager der Linken zu | |
schaffen, wobei man sich vor Augen halten muss, dass die Zeit des Konsenses | |
vorbei ist. Zur Stunde kann es ohne Bruch oder Konfrontation nicht den | |
kleinsten gesellschaftlichen Fortschritt geben. Die Elite und die Rechte | |
haben das verstanden; ein Teil der Linken zögert immer noch. | |
Die Erneuerung der Linken wird davon abhängen, ob sie in der Lage ist, eine | |
antihegemoniale Lösung anzubieten. Kann sie das nicht, wird die durch die | |
Krise verstärkte soziale und politische Unzufriedenheit von der Neuen | |
Rechten kanalisiert, ähnlich wie es durch Figuren wie Donald Trump in den | |
USA, Nigel Farage in Großbritannien oder Marine Le Pen in Frankreich | |
geschehen ist. Eine solche Entwicklung ist auch in Brasilien vorstellbar. | |
Die Linke muss eine Radikalität wiederfinden, von der sie sich einst | |
bewusst verabschiedet hat: eine demokratische Radikalität mit dem Ziel | |
politischer Partizipation und einer Vertretung der gesamten Vielfalt | |
Brasiliens, eine strategische Radikalität, mit einem ambitionierten | |
Programm für eine Veränderung der Gesellschaft, um den Menschen wieder | |
Hoffnung zu geben. Derzeit ist noch nicht klar, welche institutionelle | |
Gestalt das linke Lager annehmen wird und wie lange es dauern wird, sie zu | |
finden. Aber es wird jeden Tag deutlicher, wie sehr sie gebraucht wird. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
16 Jan 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5300054 | |
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!200148 | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/amerika/michel-temer-der-einsame… | |
[4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!386450 | |
[5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5246983 | |
## AUTOREN | |
Guilherme Boulos | |
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