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# taz.de -- Parlamentarismus auf brasilianisch
> Gekaufte Mehrheiten, lokaleLoyalitäten und Parteien ohne Programm
Bild: Im Regierungspalast Planalto
von Lamia Oualalou
Brasilien steckt in einer dreifachen Krise: ökonomisch, politisch und
institutionell. Nach zwölf Jahren Wachstum rutscht der lateinamerikanische
Riese tief in die Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in diesem
Jahr um 3 Prozent sinken. Bei rasant steigender Arbeitslosigkeit (fast 8
Prozent gegenüber 4 Prozent 2014) und einer hohen Inflationsrate (2015
voraussichtlich 9,5 Prozent) ist auch für 2006 ein Minuswachstum zu
erwarten.
Mittlerweile wird Präsidentin Dilma Rousseff nicht einmal mehr von 10
Prozent der Bevölkerung unterstützt. Seit dem Sommer musste sie eine ganze
Reihe von Niederlagen einstecken. Im September trieb das oberste
Wahlgericht (Tribunal Superior Eleitoral) die Ermittlungen zur Finanzierung
ihres Wahlkampfs von 2014 voran. Am 7. Oktober erklärte der Nationale
Rechnungshof den Staatshaushalt von 2014 für ungültig und empfahl dem
Parlament die Ablehnung des Budgets. Eine solche Entscheidung hat es seit
1937 nicht mehr gegeben.
Nach Ansicht der Richter hat die Regierung vorsätzlich die Zahlen
manipuliert, um vor den Wahlen das Ausmaß des öffentlichen Defizits zu
verschleiern. Die rechte Opposition hält den Tatbestand des
„verantwortungslosen Regierens“ für erfüllt. Das ist nach der
brasilianischen Verfassung von 1988 ein hinreichender Grund für die
Amtsenthebung des Staatschefs. Dieses Verfahren muss das Parlament in Gang
bringen – und das stellt sich heute mehr denn je gegen die präsidentielle
Autorität.
Der brasilianische Nationalkongress besteht seit der Unabhängigkeit, die
Brasilien im Jahr 1824 ohne Gewalt und ohne Krieg mit der portugiesischen
Krone erlangte, was für eine weitgehende Kontinuität in den alten
Machtstrukturen sorgte. Der Kongress besteht aus dem Bundessenat (81
Senatoren) und der Abgeordnetenkammer (513 Abgeordnete).
Beide Häuser haben noch niemals wirklich sämtliche Bevölkerungsschichten
repräsentiert. Darauf spielte 1993 der Präsidentschaftskandidat der Partei
der Arbeiter (PT), Luiz Inácio „Lula“ da Silva an, als er bissig
kommentierte: Das Parlament stehe unter Kontrolle einer Mehrheit von
„dreihundert Picaretas“, was Gauner, Betrüger oder Opportunisten beuten
kann.
Lulas Spruch machte Furore. Die Band Os Paralamas do Sucesso rappte: „Luiz
Inácio hat gesagt, Luiz Inácio hat gewarnt / Es sind dreihundert Picaretas
mit Doktorhut.“ Als Luiz Inácio dann 2002 zum Präsidenten gewählt wurde,
entschied er sich für Pragmatismus und lernte, den Geschmähten Honig ums
Maul zu schmieren.
Seit 1993 hat sich nichts geändert: Der typische Parlamentarier ist auch
2014 „ein weißer Mann um die fünfzig an der Spitze eines Unternehmens, mit
Universitätsabschluss und einem Vermögen von mehr als einer Million
Reais“.[1]So formuliert es Edson Sardinha auf der Website Congresso em
Foco, die täglich die Arbeit des Parlaments beobachtet. Und die Studie
„Donos da Mídia“ befand 2008, dass 271 Parlamentarier direkt oder indirekt
mit einem Presseunternehmen verbunden sind, obwohl die Verfassung dies
untersagt.[2]
## DreihundertGauner mit Doktorhut
Das politische System Brasiliens sorgt dafür, dass der Graben zwischen
Bevölkerung und Parlament erhalten bleibt. Laut Verfassung erfolgt die
Aufteilung der 513 Sitze unter die 26 Staaten plus den Bundesdistrikt
Brasília im Prinzip proportional zur Bevölkerungszahl, aber es gibt
Einschränkungen: Ein Bundesstaat darf nicht weniger als 8 und nicht mehr
als 70 Abgeordnete entsenden. Damit ist Roraima mit weniger als 500 000
Einwohnern weit über- und São Paulo mit 44 Millionen weit
unterrepräsentiert. Noch stärker ist die Asymmetrie im Senat, wo jeder
Bundesstaat drei Senatoren stellt. Das System begünstigt also die
bevölkerungsarmen Staaten und die lokalen Kaziken, die in den Parteien vor
Ort das Sagen haben. Sie werden von Interessengruppen angeheuert, verkaufen
sich teuer und wechseln bei Bedarf die Partei, was allerdings seit einer
Reform von 2007 weniger verbreitet ist.
Eine weitere Besonderheit ist das System der Verhältniswahl mit offener
Liste, bei dem der Wähler entweder für einen Kandidaten oder für eine Liste
(Einzelpartei oder Koalition) stimmen kann. Die Zahl der Sitze für jede
Liste ergibt sich aus einer komplexen Berechnung des sogenannten
Wahlquotienten: Die Summe der Stimmen für die Einzelkandidaten und für die
Parteien oder Koalitionen wird durch die Anzahl der Sitze geteilt, die dem
Wahlbezirk zustehen. Auf diese Weise verschafft ein Kandidat, der eine
große Anzahl von Stimmen erzielt, anderen Listenkandidaten mit nur wenigen
Stimmen einen Sitz im Parlament.
Da die Wahlkoalitionen oft rechte und linke Gruppierungen umfassen, kann es
passieren, dass man eine Menschenrechtsaktivistin wählt, aber einen
Homophoben, der die landlosen Bauern vertreiben will, mit in den Kongress
befördert.
Dieses System zwingt die Parteien, bekannte und öffentlichkeitswirksame
Persönlichkeiten als puxadores de voto („Stimmensauger“) zu hofieren. Da in
Brasilien Wahlpflicht besteht und mehr als die Hälfte der Wähler nicht
einmal die mittlere Reife hat, kann ein bekannter Name viel erreichen. Und
zwar umso mehr, als auch über den Präsidenten, den Gouverneur, den Senator,
den Abgeordneten für das Nationalparlament und den Abgeordneten für das
Parlament des Bundesstaats abgestimmt wird. 2010 war der Kandidat, der mit
1,3 Millionen Stimmen das beste Ergebnis erzielte, der Clown Francisco
Everardo Oliveira da Silva alias „Tiririca“, der ohne jegliche politische
Erfahrung, aber äußerst populär war. Dank ihm kamen 24 Kandidaten seiner
Koalition ins Parlament, die es allein niemals geschafft hätten.
So funktioniert das auch mit ehemaligen Sportstars, wie dem Fußballer
Romário de Souza Faria, mit Polizisten, evangelikalen
Fernsehpredigern[3]oder den Kindern bekannter Politikerdynastien. Der
Jurastudent Uldurico Júnior wurde 2014 mit 22 Jahren im Bundesstaat Bahia
als Nachfolger seines Vaters, des Abgeordneten Uldurico Pinto, gewählt. Wie
der gewerkschaftliche Beirat im Parlament, Diap, ermittelt hat, verdanken
211 Abgeordnete ihre Wahl vor allem familiären Beziehungen.
## Rousseffs Kontrollverlust
Da es keine staatliche Finanzierung von Wahlkampfkosten gibt, kann man ohne
eigenes Vermögen oder üppige Spenden praktisch nicht kandidieren. Das
Wahlgericht schätzt die Wahlkampfkosten einer Partei im Jahr 2014 pro
Abgeordneten auf 6,4 Millionen Reais (circa 1,5 Millionen Euro), fast
dreimal so viel wie zwölf Jahre zuvor. Bezahlt werden damit Werbespots, die
Honorare von Spindoktoren und logistische Kosten, die in dem Riesenland
enorm sind. Alle großen Parteien unterhalten eine caixa 2 („Kasse 2“) für
illegale Wahlkampffinanzierung.
Nach einem lange umkämpften Gesetz und einer Entscheidung des obersten
Gerichtshofs ist die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmen seit Oktober
2015 offiziell untersagt. Aber dass die Korruption deshalb tatsächlich
abnimmt, ist keineswegs garantiert.
Da es im brasilianischen Wahlrecht keine Prozenthürden gibt, sind im
Parlament derzeit 28 Parteien und Gruppierungen vertreten – sechs mehr als
in der vorigen Legislaturperiode. Keine Fraktion verfügt über eine
signifikante relative Mehrheit. Die führende PT von Dilma Rousseff hat nur
69 Sitze. Auch ein Präsident, der mit breiter Mehrheit gewählt wurde, muss
wegen der Fragmentierung des Parlament ständig verhandeln, um sich eine
parlamentarische Basis zu besorgen. Während der Präsidentschaft Lulas wurde
die PT 2008 beschuldigt, Abgeordneten anderer Parteien regelmäßig
Bestechungsgelder zu zahlen, um sich deren Stimmen zu sichern. Diese als
mensalāo („Monatszahlung“) bezeichnete Praxis wurde nie offiziell bewiesen,
aber der Skandal illustriert, wie schwer es ist, stabile Mehrheiten zu
bilden.
Laut Verfassung kann die Regierung nicht nur Minister berufen und andere
Posten verteilen, sie entscheidet letztlich auch über die Finanzierung von
öffentlichen Projekten, also den Bau einer Brücke, einer Straße oder eines
medizinischen Zentrums. Wenn sie ein solches Projekt in einem bestimmten
Wahlbezirk genehmigt, kann der lokale Abgeordnete bei seinen Wählern
punkten. Und wird dafür die Regierung unterstützen.
Aber es kann auch anders laufen, erklärt Paulo Peres, Politologe an der
Universität Rio Grande do Sul: „Für die Parteien ist es verlockend, eine
Allianz mit der Regierung zu schließen. Aber wenn diese schwach ist und
kein Talent oder keine Bereitschaft für solche Verhandlungen hat, kann der
Mechanismus zur Falle werden.“ Die „Alliierten“ der Regierung können sie
leicht erpressen und sich damit Geld und Posten auf allen Regierungs- und
Verwaltungsebenen verschaffen. In genau dieser Situation befindet sich die
Regierung Rousseff.
Die brasilianischen Parteien haben ein unklares ideologisches Profil. Die
Positionen der einzelnen Repräsentanten können ganz verschieden sein und
hängen häufig von der lokalen Basis ab. Anfang Oktober bot die Präsidentin
ihrem Koalitionspartner, der politisch diffusen Partei der Brasilianischen
Demokratischen Bewegung (PMDB), zusätzliche Ministerposten an, weil sie
hoffte, die PMDB-Abgeordneten würden dann das gegen sie eingeleitete
Amtsenthebungsverfahren blockieren. Aber dann konnte sie nur die Vertreter
des Bundesstaats Rio de Janeiro auf ihre Seite ziehen. Deren PMDB-Kollegen
aus dem Staat Santa Catarina sind dagegen für den Austritt aus der
Regierung, da sie befürchten, dass Rousseffs Unbeliebtheit ihnen bei den
Kommunalwahlen im nächsten Jahr schadet. Die Loyalität der Abgeordneten
gilt oft nicht ihrer Fraktion, sondern einem Politiker, der nicht unbedingt
dem Parlament angehört, etwa einem Gouverneur oder Bürgermeister.
Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit hatte Rousseff die Funktionsweise dieses
Systems ignoriert und Eduardo Cunha, den Chef der PMDB-Fraktion, gründlich
düpiert. Im Februar 2015 versuchte sie, dessen Wahl zum Parlamentspräsident
zu verhindern –und schuf sich damit einen mächtigen Feind. Zahlreiche
Abgeordnete, auch außerhalb der PMBD-Hochburg Rio de Janeiro, stehen zu
Cunha, der ihnen Wahlkampfzuschüsse befreundeter Unternehmen verschafft
hatte.
Als Herr über die Tagesordnung im Parlament hat Cunha zahlreiche
konservative Gesetzentwürfe begünstigt, die zum Beispiel Arbeitnehmerrechte
beschränken und die Strafmündigkeit auf 16 Jahre herabsetzen. Zudem
torpediert er die Einsetzung eines parlamentarischen
Untersuchungsausschusses über einen großen Skandal, der Betrügereien und
Unterschlagungen im System der Krankenversicherungen betrifft.
Cunha setzt sich nicht immer durch, aber er lässt auch nie locker. Und
stets erinnert er „seine“ Abgeordneten daran, dass sie ihm verpflichtet
sind. Eine Untersuchung der Universität von Campina Grande hat vor Kurzem
herausgefunden, dass 140 Parlamentarier, ein Viertel der Abgeordneten,
Cunhas Empfehlungen folgen, obwohl seine Partei nur 65 Sitze innehat. Diese
Abgeordneten nennt man im Parlamentsjargon die bancada Cunha, („Cunhas
Bankreihe“).
Ursprünglich bezeichnete Bancada die Zugehörigkeit zu einer Fraktion (etwa
zur Bancada der PT oder der PMDB), aber der Begriff hat seine Bedeutung in
dem Maß verloren, wie die Macht der Lobbygruppen zunahm. Im zersplitterten
Parlament von heute vertreten die neu definierten Bancadas partikulare
Interessen. Die können sich auf ganz unterschiedliche Themen beziehen, auch
auf zivilgesellschaftliche, moralische, ökologische oder
geschlechtsspezifische Forderungen, erläutert Antonio de Queiroz von der
Diap.
Die beiden größten Gruppen sind jedoch die Repräsentanten des
agroindustriellen Komplexes (153 Abgeordnete) und der Unternehmerschaft
(217). Nach de Queiros gibt es „Bancadas der Evangelikalen, der
Gewerkschafter, der Frauen und der Vorkämpfer für die Sicherheit; Vertreter
von Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Verkehrsinfrastruktur sind da
weniger engagiert“. Die evangelikalen Abgeordneten versammeln sich am
Dienstagabend zu einer Arbeitssitzung und am Mittwoch früh zur Andacht; die
Interessenvertreter der Krankenversicherungen koordinieren ihre Aktionen
nur vor wichtigen Abstimmungen. Diese Zusammenschlüsse haben einen Teil
ihrer Macht eingebüßt, seit der Bundesgerichtshof 2007 die „Anhängertreue�…
eine Art milden Fraktionszwangs, festgeschrieben hat. Seitdem können die
Parteien von ihren Abgeordneten geschlossenes Abstimmen verlangen,
Abweichungen sind nur im Ausnahmefall erlaubt.
Eduardo Cunha hat überall die Hände im Spiel: Er organisiert die
Aktivitäten der Evangelikalen, zu denen er zählt, aber auch die der
Sicherheits-Bancada, die für repressive Maßnahmen kämpft, und natürlich die
seiner eigenen Partei. Da er in den Korruptionsskandal um den Staatskonzern
Petrobras verstrickt ist,[4]wird er demnächst wahrscheinlich seinen Posten
als Parlamentspräsident verlieren. Dennoch dürfte er seine Macht behalten
und auch die Wahl seines Nachfolgers beeinflussen. Sein Ausscheiden aus der
ersten Reihe wird der Präsidentin nicht unbedingt nützen. Sie hat den
Fehler gemacht, die Streitereien innerhalb der PMDB zu schüren, und sich
damit noch mehr Feinde gemacht
Rousseff kann wohl auch nicht mehr mit der Unterstützung der sozialen
Bewegungen rechnen, die von ihrer Sparpolitik und der Annäherung an die
konservativsten Kräfte des Landes irritiert sind.[5]„Wenn die Regierung
will, dass man sie auf der Straße verteidigt, soll sie uns dafür Gründe
liefern“, erklärt Guilherme Boulos, Anführer der Bewegung der obdachlosen
Arbeiter.
Boulos, ein Hoffnungsträger der Linken, fordert die Präsidentin auf, ihre
Strategie fragwürdiger Absprachen mit den Abgeordneten aufzugeben: „Sie
muss über das Parlament hinaus denken und auf die soziale Mobilisierung
setzen. Sonst bekommen wir die reaktionärste Regierung der neueren
Geschichte.“
Aber im linken Lager ist der Optimismus eher gedämpft. Man erinnert sich,
dass auch Lula nicht einmal auf dem Höhepunkt seiner Popularität die
Konfrontation mit dem Parlament gewagt hat, um eine echte politische Reform
durchzudrücken.
1↑ Eine Million Reais entsprien knapp 250 000 Euro.
2↑ donosdamidia.com.br.
3↑ Vgl. Lamia Oualalou, „Brasilien liebt Jesus. Der Vormarsch der
Evangelikalen in Politik, Gesellschaft und Medien“, Le Monde diplomatique,
Oktober 2014.
4↑ Im Prozess um die Petrobras-Affäre beschuldigte der Angeklagte Júlio
Camargo Eduardo Cunha, 5 Millionen US-Dollar Schmiergeld für einen Deal
zwischen Petrobras und dem Schiffsbauunternehmen Toyo Setal gefordert zu
haben.
5↑ Siehe Breno Altman, „Rousseffs Kehrtwende“, Le Monde diplomatique, Apr…
2015.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Lamia Oualalou ist Journalistin in Rio de Janeiro.
12 Nov 2015
## AUTOREN
Lamia Oualalou
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