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# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Brasilien: Brasilien am Scheideweg
> Die Wahlen in wenigen Wochen ist die bisher wichtigste der
> Landesgeschichte. Siegt Bolsonaro erneut, könnte der Umbau zur Diktatur
> beginnen.
Bild: Wahlplakate mit Bolsonaro und Lula in Brasilia
Im politischen Diskurs sollte man sparsam mit Superlativen sein. Es ist
allerdings nicht übertrieben, die [1][für den 2. Oktober angesetzte
Präsidentschaftswahl in Brasilien] als die wichtigste Wahl in der
Geschichte des Landes zu bezeichnen. Denn nichts weniger als die Demokratie
steht auf dem Spiel. Mit Jair Messias Bolsonaro tritt nicht irgendein
Politiker zur Wiederwahl an. Der ultrarechte Amtsinhaber hat nie einen Hehl
daraus gemacht, wer er ist und wofür er steht: Er ist ein notorischer
Antidemokrat, ein hasserfüllter Rechtsradikaler, ein glühender Bewunderer
brutaler Militärdiktaturen.
In den dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit hat Bolsonaro eine Spur der
Zerstörung im größten Land Lateinamerikas hinterlassen. Seine Angriffe
gegen die Umwelt, internationale Konventionen [2][und demokratische Normen
haben Brasilien durchgerüttelt]. Bolsonaro hat alte Wunden aufgerissen,
neue hinzugefügt.
Für Typen wie Bolsonaro sind Wahlen nur ein Mittel zum Zweck. Viele
Analyst*innen sind sich sicher: Der ultrarechte Staatschef hätte längst
geputscht, wenn er könnte. Doch Brasiliens Institutionen haben sich in den
letzten Jahren als überraschend widerstandsfähig erwiesen und vielen
autoritären Sehnsüchten des Pöbelpräsidenten getrotzt.
## Weiterhin greift Bolsonaro die Medien und die Justiz an
Es ist nicht gelungen, einen offenen Bruch zu provozieren. Ein Grund zur
Beruhigung ist das trotzdem nicht. Denn Bolsonaro hat andere Wege gefunden,
um das demokratische System auszuhöhlen: mit Attacken auf Medien und die
Justiz, durch staatlich legitimierte Gewalt, Eingriffe im Bildungsbereich
und den Aufbau von klaren Feindbildern. Wie auch in anderen Ländern
geschieht die Erosion der brasilianischen Demokratie in vielen kleinen
Schritten, die oft nicht direkt wahrnehmbar sind.
In ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ schreiben die Harvard-Professoren
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: „Aber es gibt noch eine andere Art des
Zusammenbruchs, die zwar weniger dramatisch, aber genauso zerstörerisch
ist. Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren
gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder
Ministerpräsidenten, die ebenjenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht
gebracht hat.“
In Europa wird viel über das Konzept der „illiberalen Demokratien“
diskutiert, in denen eine demokratische Fassade aufrechterhalten wird, um
ihre Substanz von innen aufzulösen. Auch hier verschwinden Demokratien
meist nicht mehr über Nacht, mit einem großen Knall. Es sind Entwicklungen,
oft langfristig angelegte Projekte. Der brasilianische „Autoritarismus über
Wahlen“ steckt noch in seiner Anfangsphase. Und in vielen Punkten wurden
Bolsonaro Grenzen aufgezeigt, vor allem von der Justiz.
## Die junge Demokratie steht auf der Kippe
Der Blick in andere Länder offenbart aber auch: Wenn ein Kandidat
wiedergewählt wird, öffnet das die Türen für einen autoritären Staatsumbau.
Die Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Türkei sollten deshalb eine
Warnung für Brasilien sein. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre ein
schwerer Schlag für Brasiliens junge Demokratie.
So hat er bereits erklärt, den Obersten Gerichtshof umbauen zu wollen. Eine
Mehrheit zugunsten konservativer Richter*innen könnte das Gefüge von
Staat und Gesellschaft nachhaltig verrücken. Ähnlich wie in den USA, wo
unlängst der Supreme Court das Recht auf Abtreibung kippte, könnten dann
auch in Brasilien Grundsatzurteile fallen. Was außerdem Sorgen bereiten
sollte: Bolsonaro hat angedeutet, rechte Fanatiker in ein mögliches neues
Kabinett zu holen.
Und er wird wahrscheinlich versuchen, autoritäre Projekte wie eine Reform
des Antiterrorgesetzes voranzupeitschen. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros
wäre auch für die Umwelt eine Katastrophe. Der Raubbau am Regenwald hat
bereits jetzt verheerende Auswirkungen. Die Prozesse, die unter Bolsonaro
an Fahrt aufgenommen haben, werden sich nur schwer zurückdrehen lassen.
Vier weitere Jahre unter „Kapitän Kettensäge“ könnten für das Weltklima
dramatische Folgen haben. Somit ist die Wahl im Oktober nicht nur eine
Richtungsentscheidung über die Zukunft des Landes, sondern eine über den
gesamten Planeten.
## Gute Chancen für Lula
Gerade sieht es so aus, als könnte es tatsächlich gelingen, Bolsonaro bei
der Wahl zu schlagen. Sein Widersacher, [3][der sozialdemokratische
Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva], führt in allen Umfragen. Der
schulterzuckende Umgang mit der Coronapandemie, die wirtschaftliche Flaute,
sein ungehobelter Ton: Bolsonaro hat in den letzten Jahren viel Unmut auf
sich gezogen. Selbst Konservative wendeten sich bestürzt von ihm ab.
Dennoch stehen rund 30 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite – nicht
trotz, sondern wegen der ständigen Tabubrüche, Provokationen und
menschenfeindlichen Politik.
Für Bolsonaro ist es deshalb nicht möglich, sich zu mäßigen. [4][Denn außer
seiner Wählerbasis hat er nicht viel vorzuweisen.] Jede Abweichung von
seinem radikalen Kurs wird hart bestraft. Und so setzt Bolsonaro auch in
diesem Wahlkampf auf die totale Konfrontation und versucht den
demokratischen Prozess zu delegitimieren. Bolsonaro erklärte, kein anderes
Ergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren. Er nährt Zweifel am elektronischen
Wahlsystem, obwohl dieses erst kürzlich einen Sicherheitstest bestanden
hat. „Nur Gott“ könne ihn von der Präsidentschaft entfernen, verkündete …
einmal.
## Hoffnung auf die Institutionen
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bolsonaro im Januar 2021 mit
keinem Wort die Stürmung des US-Kapitols durch fanatisierte
Trump-Anhänger*innen verurteilte und Trumps Lüge einer Wahlfälschung
sekundierte. Es gilt als sicher, dass auch Bolsonaro die Wahlergebnisse im
Falle einer Niederlage anzweifeln wird. Viele rechnen mit Gewalt.
Entscheidend wird es deshalb sein, wie das Militär und die Polizei
reagieren werden. Fühlen sie sich eher der Verfassung oder dem Präsidenten
verpflichtet?
Noch wichtiger ist jedoch, dass Brasiliens Institutionen und die
Zivilgesellschaft klare Kante gegen den Autoritarismus Bolsonaros zeigen –
bevor es dafür zu spät ist.
2 Sep 2022
## LINKS
[1] /Erste-TV-Debatte-vor-Wahlen-in-Brasilien/!5874834
[2] /Brasiliens-neuer-Praesident-vereidigt/!5562476
[3] /Brasiliens-Ex-Praesident/!5853183
[4] /Brasiliens-angeschlagener-Praesident/!5799342
## AUTOREN
Niklas Franzen
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Brasilien
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