# taz.de -- Louise Bourgeois im Gropius Bau: Sie wird sie nicht los, die Mutter | |
> Beklemmende Kammerspiele: Eine Retrospektive im Berliner Gropius Bau | |
> zeigt das textile Spätwerk der Bildhauerin Louise Bourgeois. | |
Bild: An die vielen Fäden der Mutterschaft gebunden: Louise Bourgeois' „The … | |
Eine gute Mutter – was ist das überhaupt? Eine, die aufopferungsvoll die | |
kindlichen Bedürfnisse vor die eigenen stellt? Eine, die sich mit vollem | |
Körpereinsatz der Reproduktionsarbeit hingibt? Oder doch eher eine, die | |
zwar bedingungslos liebt, aber auch auf sich selbst achtet? | |
Bei Louise Bourgeois wachsen der guten Mutter („The Good Mother“, 2003) | |
Fäden aus den Brustwarzen, weiß wie nährende Milch, fein säuberlich | |
aufgerollt auf fünf Spulen. Arme hat die kleine rosafarbene Stoffskulptur | |
keine. | |
Auf einem stählernen Podest kniet sie andächtig vor ihren Fadenspulen, | |
blickt demütig nach unten. Gottergeben, pflichtbewusst. Was bleibt ihr aber | |
auch für eine Wahl? Schließlich hängt sie fest an ihren Fäden, eingesperrt | |
ist sie noch dazu, um sie herum befinden sich die gläsernen Wände einer | |
Vitrine. | |
[1][Mutterfiguren] gibt es viele zu entdecken in der Retrospektive, mit der | |
sich der Berliner Gropius Bau in Zusammenarbeit mit der Londoner Hayward | |
Gallery derzeit dem Spätwerk der 1911 in Frankreich geborenen Bildhauerin | |
widmet, weibliche Körper oder Teile davon, Brüste, aufgeblähte schwangere | |
Bäuche. | |
## Bourgeois wuchs zwischen Gewebtem auf | |
Die hier ausgestellten textilen Arbeiten Bourgeois’ fertigte sie ab Mitte | |
der 1990er Jahre bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 an. In den letzten der | |
sieben Dekaden ihrer Karriere wandte sie sich quasi ihren Wurzeln zu. Ihre | |
Eltern restaurierten und verkauften Tapisserien, Bourgeois wuchs zwischen | |
Gewebtem und Geknüpftem auf, half selbst als Kind schon in der Werkstatt | |
mit. | |
Jedes Textil, jedes Kleidungsstück, jeder Faden, aus denen die Arbeiten | |
zusammengesetzt sind, erscheint entsprechend mit Bedeutung aufgeladen, mit | |
Verweisen auf Eltern und Kindheit. Eine schwierige Kindheit, geprägt durch | |
das zwiespältige Verhältnis zum notorisch untreuen Vater und die enge | |
Bindung zur kränkelnden, leidenden Mutter. Diese starb, als die Künstlerin | |
21 Jahre alt war. | |
Die Geschichte, [2][die Zusammenhänge zwischen der Biografie der Künstlerin | |
und ihrer Kunst] mögen vielen Besucher*innen der Ausstellung bekannt | |
sein, notwendig ist das im Grunde aber nicht. Bourgeois’ Kunst wirkt und | |
wirkt nach, so oder so. | |
Wandarbeiten, Collagen und Stoffbücher sind dabei, vor allem aber | |
Skulpturen, die Bourgeois aus Alltagsstoffen, Geschirrtüchern, Bettwäsche, | |
Tapisseriefragmenten oder abgelegter Kleidung anfertigte, sowie ebensolche | |
Assemblagen. | |
Gleich im ersten Raum etwa, steht da eine unbetitelte Arbeit aus dem Jahr | |
1996. Bourgeois hängte dafür zarte Unterkleider, Hemdchen und ein schwarzes | |
Paillettenkleid ihrer Mutter an Rinderknochen wie fragile, brüchig | |
gewordene Stellvertreterinnen an eine stählerne Konstruktion, in den Sockel | |
ritzte sie die Worte „Seamstress, Misstress, Distress, Stress“ (Näherin, | |
Geliebte, Schmerz, Stress). | |
## Mit der Mutter untrennbar verbunden | |
Auch sonst sind es oft Kleider oder Gegenstände der Mutter (oder aber | |
Bourgeois’ eigene), die sie verwendete. Sie wird sie nicht los, die Mutter, | |
will das auch gar nicht. „Do not abandon me“ hat sie mehrere Arbeiten | |
genannt, unter anderem eine Kaltnadelradierung auf Stoff (2000), die Mutter | |
und Tochter untrennbar verbunden mit der Nabelschnur zeigt. | |
Dass es sich bei Bourgeois’ Spinnen, ihren zum Leitmotiv gewordenen | |
„Mamans“, um Oden an die früh verstorbene Mutter Joséphine Fauriaux | |
handelt, hat die Künstlerin oft erklärt. Beide sind beschützende, | |
hilfsbereite Wesen, Weberinnen noch dazu. Eine davon sitzt auf einem Sessel | |
im klaustrophobischen „Lady in Waiting“ (2003), einem engen Raum aus | |
Holztüren und Fenstern, in dem sich alles zum beklemmenden Kammerspiel | |
zusammenfindet – die Spinne, Tapisserien, Fadenspulen. | |
[3][Überhaupt sind es die großen Installationen, Bourgeois’ „Cells“, | |
weswegen man die Schau nicht verpassen sol]lte, theatral arrangierte | |
Kompositionen von nicht nur textilen Objekten in käfigartigen | |
Konstruktionen. Verstörende Schmerzensbilder sind das, alptraumhaft, | |
verwirrend, hochemotional, spannungsreich, dicht inszenierte Mikrokosmen | |
voller Anspielungen nicht nur auf ihre Lebensgeschichte, sondern auf die | |
Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen an sich, auf die Liebe und | |
deren Verlust, auf Sexualität, Lust, Vertrauen und Betrug, körperliche Nähe | |
und Verletzlichkeit. | |
## Der magische Unterton | |
„In der Trostlosigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen, ihrem Chaos, | |
liegt meine Art Ordnung zu schaffen darin, sie zu Gruppen zusammenzufassen | |
und dafür zu sorgen, dass sie einander berühren und nahe beieinander | |
stehen“, erklärte Bourgeois in einem Interview mit dem Kunstkritiker Donald | |
Kuspit, das in deutscher Übersetzung der Piet Meyer Verlag 2011 als Buch | |
herausbrachte. | |
Das Gespräch fand bereits 1988 statt, also noch bevor die textilen Arbeiten | |
der Berliner Schau entstanden. Anschaulich beschreibt Bourgeois darin den | |
„magischen Unterton“, den sie in gefundenen Objekten fand und für ihre | |
Kunst nutzte, ihr Leben als Kind wie als Erwachsene und als alternde Frau, | |
den langen Weg, den sie als Künstlerin gehen musste, bis ihr Anerkennung | |
zuteil kam – 1982 war Bourgeois die erste Frau überhaupt, der das New | |
Yorker MoMa eine Retrospektive widmete. | |
8 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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