# taz.de -- Wohnatelier in Turin: Eine Wohnung wie ein Drehbuch | |
> Die Casa Carol Rama ist seit November zu besichtigen. Sie ist das wohl | |
> erstaunlichste Werk der gleichnamigen Künstlerin. | |
Bild: Neben Fotografien und Zeichnungen gehören auch Puppenfüße und Glasauge… | |
Wo anfangen? Wohin zuerst schauen? Zu den luftleeren Fahrradschläuchen | |
vielleicht, die über einem Metallgestell hängen. Auf die Sammlungen von | |
Puppenfüßen und Glasaugen. Auf die vielen Filzstifte, Spraydosen, | |
Nagellackfläschchen. Oder vielleicht auf die beiden kleinen steinernen | |
Frösche, auf die afrikanischen Schnitzarbeiten, die Schuhe und hölzernen | |
Leisten. | |
An den dunklen Wänden entlang, die mit Fotografien, Zeichnungen, Gemälden, | |
Kunstwerken von Man Ray, [1][Andy Warhol], Felice Casorati oder der | |
Künstlerin selbst mit Briefen, Schriftstücken, Zeitungsausschnitten | |
tapeziert sind. Auf Carol Ramas Bett, den kleinen Holztisch, wo zwischen | |
Vasen, Dosen und Figurinen der Goldene Löwe der [2][Biennale von Venedig] | |
steht, den Rama im Jahr 2003 für ihr Lebenswerk bekam. | |
Ihr Lebenswerk entstand größtenteils genau hier. 70 Jahre hat Carol Rama in | |
ein und derselben Wohnung verbracht. Jedes Objekt dort ist arrangiert nach | |
einem System, das ihr, der 2015 verstorbenen Künstlerin entsprach. In einem | |
Interview mit der Zeitschrift Elle Decor hatte sie einmal erklärt,die Dinge | |
in ihrer Wohnung würden, sobald sie ihren vorbestimmten Platz bekommen | |
hätten, zu Geschichten. Die Wohnung sei nicht länger eine Wohnung, sondern | |
ein Drehbuch, ein Storyboard für einen Film. Ausgang offen. | |
Carol Rama, geboren 1918 in Turin, gehört zu jener Riege herausragender | |
zeitgenössischer Künstlerinnen, die ihr Ruhm erst spät erreichte. Erst 1998 | |
machte sie eine große Werkschau im Amsterdamer Stedelijk Museum, kuratiert | |
von Maria Cristina Mundici, bei einem größeren internationalen Publikum | |
bekannt. 2003, da war die Künstlerin 85, folgte der Goldene Löwe. Und das, | |
obwohl Rama mit dem Malen bereits mit 14 Jahren begonnen hatte. | |
## Ihre Kunst verletze die guten Sitten | |
Schon ihre erste Einzelausstellung 1945 löste einen Skandal aus – noch vor | |
der Eröffnung wurde sie von der Polizei geschlossen und die Werke | |
beschlagnahmt, sie würden die guten Sitten verletzen. Rama war Vorreiterin | |
in vielerlei Hinsicht, etwa was die Art und Weise betrifft, wie sie sich | |
schon in den 1930ern und ’40ern in ihrer Kunst mit Körpern und Sexualität | |
auseinandersetzte und dabei Themen der 1960er und ’70er vorwegnahm oder mit | |
ihrer eigenen Biografie, mit der psychischen Erkrankung der Mutter und | |
ihrem Klinikaufenthalt, mit dem Bankrott des Unternehmens ihres Vaters und | |
dessen Selbstmord. | |
Und nicht zuletzt, wie sie mit Materialien umging, wie sie eingangs | |
genannte Fahrradschläuche und Glasaugen, aber auch Zähne, Fingernägel und | |
Weiteres in Arbeiten einfügte, für die ihr Freund, der Dichter Edoardo | |
Sanguineti, den Begriff Bricolage prägte. Ihr größtes Kunstwerk, ihre | |
vielschichtigste, erstaunlichste Bricolage ist seit November dieses Jahres | |
zu besichtigen: ihre Turiner Wohnung. | |
Wer sie sehen will, muss sich vorher anmelden. Hinein kommt man nur mit | |
einer Führung in einer Kleingruppe von maximal vier Personen. 40 Euro | |
kostet der Besuch, das kleine private Museum bekommt keine Förderung. Die | |
Wohnung in ein Museum umzuwandeln war nur durch Unterstützung der | |
Fondazione Sardi per l’Arte möglich, die den Erb*innen den gesamten Inhalt | |
abkaufte und dem Archivio Carol Rama als Dauerleihgabe zur Verfügung | |
stellt. | |
Es ist ein fantastischer Schatz, der sich in das einreiht, was das | |
Kunstmagazin Frieze Masters kürzlich als „Renaissance des Hausmuseums“ | |
beschrieb. Die Idee, Lebensgeschichten durch Besitztümer zu lesen, wie sie | |
bereits im georgianischen England und während des Ancien Régime beliebt | |
gewesen sei, so schreibt es dort Rosanna McLaughlin, lebe in diesen fort | |
als eine Art kuratierte Antwort auf Biografie und zeitgemäße Form des | |
kulturellen Tourismus. | |
## Der okkulte Ruf von Turin | |
Freilich kommt es dabei sehr darauf an, von wem und welchen Besitztümern | |
die Rede ist. Nicht alle Privatgemächer verstorbener Persönlichkeiten geben | |
so viel Stoff wie die einer Carol Rama. Im Text nannte die Autorin unter | |
anderem die Casa Cerrutti – die Villa für die Privatsammlung eines | |
italienischen Fabrikanten – sowie die Casa [3][Carlo Mollino] – von der | |
später noch die Rede sein wird – als Belege für ihre These. Beide befinden | |
sich interessanterweise ebenfalls in Turin. | |
Vielleicht ist ja doch etwas daran am okkulten Ruf der norditalienischen | |
Stadt, die – so heißt es zumindest in entsprechenden Zirkeln – als einzige | |
der Welt sowohl auf dem Dreieck der weißen Magie (wie auch Prag und Lyon) | |
und dem der schwarzen Magie (wie auch London und San Francisco) liege. | |
Weiße Magie hin, schwarze her, die Präsenz des Geistes Ramas könnte man | |
durchaus zu verspüren meinen in der engen Dachgeschosswohnung in der Via | |
Napione. | |
Fast fühlt es sich zwischen all dem Krims und Krams so an, als könnte die | |
Künstlerin mit ihrem ikonischen weißen geflochtenen Zopf, den sie wie ein | |
Stirnband um den Kopf gewickelt trug, gleich um die Ecke kommen. Um die | |
dunkle Ecke. Düster ist es nämlich in der Mansarde. Rama hatte sich | |
zeitlebens bemüht, die Sonne mit dunklen Vorhängen abzuschirmen, und die | |
Wände in sattem Grau gestrichen. Die Welt draußen, pflegte sie zu sagen, | |
sei viel zu schön. | |
Hinein kam die dafür mit den Besucher*innen, die sie regelmäßig zu Soireen | |
einlud. Von ihrem Bett wie von einem Thron aus empfing Rama Gäste, illustre | |
Gäste. Davon erzählen unter anderem die vielen Fotografien, die in der | |
Wohnung verteilt sind, wenn sie nicht doch, wie die meisten von ihnen, vor | |
allem in der Küche, Rama selbst abbilden. | |
## Fotografien von Minelli, Ray und Oppenheim | |
Sie zeigen die Künstlerin in verschiedenen Situationen, mal allein, mal mit | |
anderen, mit Sanguineti, mit Andy Warhol und Man Ray, mit Liza Minelli, mit | |
der Kuratorin Lea Vergine, die sie 1980 in ihrer bahnbrechenden Ausstellung | |
„Die andere Hälfte der Avantgarde“ in Mailand und Paris präsentiert hatte, | |
mit Louise Bourgeois und Meret Oppenheim, ihren Schwestern im Geiste, mit | |
dem Architekten und Designer Carlo Mollino, bei Essen, Eröffnungen und | |
Empfängen. | |
Carol Rama. Carol Rama. Carol Rama. Immer ein wenig anders. „Die Frau mit | |
den sieben Gesichtern“ hat Man Ray sie 1974 auf einer Papierarbeit genannt, | |
die neben ihrem Bett hängt. Immerzu Carol Rama, als wollte oder müsste sie | |
sich ihrer Existenz vergewissern sogar in ihren eigenen vier Wänden. Auf | |
andere, aber nicht weniger denkwürdige Art und Weise erzählt die Casa Carlo | |
Mollino von demjenigen, der sie einmal eingerichtet hat. Zufällig oder | |
nicht, befindet es sich schräg gegenüber von Ramas Wohnung. Mehr als | |
naheliegend ist es, gleich alle beide zu besichtigen. | |
Auch für die Casa Mollino braucht man dafür einen Termin, den Leiter Fulvio | |
Ferrari selbst vergibt, Website oder Werbung gibt es nicht. Ein wenig | |
Recherche gehört dazu. Ferrari leitet das Museum; allein um ihn zu | |
treffen, ihm zuzuhören, wie er von Mollino erzählt, lohnt sich der Besuch, | |
aber auch, um das unglaublich schöne Arrangement an Objekten, Möbeln und | |
Kunst zu sehen, und wegen der unglaublichen Geschichte der Wohnung, die | |
Mollino nämlich nicht etwa für sich errichtete, sondern für seinen Geist. | |
Insgesamt also dreifach, mindestens. | |
Anscheinend wusste selbst Rama, die enge Freundin und Nachbarin, nichts von | |
Mollinos Projekt. Wahr oder nicht, das spielt eigentlich keine Rolle. Worin | |
sich beide, Rama wie Mollino, gleichen, ist, wie sich über ihren Tod hinaus | |
ihre Legenden weiterstricken, ihre Filme weiterdrehen. | |
30 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-in-Hamburg/!5633057 | |
[2] /58-Biennale-Venedig/!5594560 | |
[3] /Retrospektive-Carlo-Mollino-in-Muenchen/!5111665 | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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