# taz.de -- Retrospektive Carlo Mollino in München: Der Kurvenstar | |
> Architekt, Designer, Fotograf, Freimaurer, Autorennfahrer und Pilot: All | |
> das war der Italiener Carlo Mollino. Das Münchner Haus der Kunst gibt | |
> Einblick in sein Gesamtwerk. | |
Bild: Warum nicht einen Pudding an die Wand nageln - zumal wenn anschließend K… | |
Einen Pudding an die Wand zu nageln gilt immer noch als ziemlich schwierig: | |
Die weiche Masse entzieht sich geschickt allen Versuchen, sie dauerhaft an | |
einer Vertikalen zu befestigen. Der Einzige, dem man ein solches | |
Unterfangen zutraut, ist der katalanische Koch Ferran Adrià vom El Bulli - | |
nach entsprechender molekularer Vorbehandlung, versteht sich. | |
Wenn man Leben und Werk Carlo Mollinos auf einen Punkt bringen möchte, ist | |
das ähnlich aussichtslos wie das Befestigen einer Nachspeise an einer Wand. | |
Der 1905 geborene italienische Architekt, Designer und Fotograf, der auch | |
als Ski-, Autorennfahrer und Pilot reüssierte, hat sich bis zu seinem Tod | |
1973 trotz aller von ihm geschaffenen Objekte und herausgegebenen | |
Publikationen ganz gezielt immer wieder entzogen: potenziellen | |
Auftraggebern, der Vermarktung seiner Werke, der Öffentlichkeit allgemein. | |
Nicht zuletzt wandelte er als notorischer Junggeselle durchs Leben - im | |
familienfanatischen Italien nicht der Normalfall. In der Ausstellung "Carlo | |
Mollino. Maniera Moderna" im Münchner Haus der Kunst begibt man sich nun | |
auf die erste das Gesamtwerk umspannende Spurensuche des mit der Aura des | |
Geheimnisvollen umgebenen Turiners, der nicht nur Freimaurer war, sondern | |
sich auch dem Okkultismus verbunden fühlte. | |
Anders als in der ebenfalls zur Zeit geöffneten Ausstellung über Mollino in | |
der Kunsthalle Wien, die seinen erotischen Fotografien gewidmet ist, betont | |
man in München die Vielseitigkeit des Oeuvres des exzentrischen Dandys. Die | |
Auswahl der Objekte in der letzten von Chris Dercon produzierten Schau im | |
Haus der Kunst illustriert demgemäß das vielschichtige, zuweilen | |
rätselhafte Werk: Abbildungen und Zeichnungen vollendeter und nicht | |
verwirklichter Bauten, Originalmöbelstücke, Fotografien und nicht zuletzt | |
die in Zeitschriften veröffentlichten Texte Mollinos nehmen einen Großteil | |
der Ausstellungsfläche ein. | |
## Psychedelische Schwingungen | |
Carlo Mollino ist zeitlebens finanziell unabhängig und folgt keinem Lehrer | |
oder Vorbild, er ist eher genialer Dilettant als Multitalent. Bemerkenswert | |
ist seine intellektuelle Unabhängigkeit. Während in seinem ersten | |
Auftragswerk, dem Hauptquartier der Federazione Agricoltori Cuneo Anfang | |
der dreißiger Jahre, noch Anklänge einer faschistischen Formensprache | |
ablesbar sind, wird sich Mollino danach politischen Ideologien konsequent | |
verweigern. | |
Mehr als knapp ein Dutzend Bauten wurden nie realisiert. Mollino kombiniert | |
Gegensätzliches, vereinigt Elemente des Barock, des Surrealismus und eines | |
alpenländischen Baustils. Schon sein zweites ausgeführtes Bauwerk Ende der | |
dreißiger Jahre für einen Turiner Reitklub zeigt die für Mollino typische, | |
dynamische und kurvenreiche Ausdrucksweise: Innentreppen und Fensterfronten | |
des 1960 abgerissenen Gebäudes scheinen beim längeren Betrachten der in der | |
Ausstellung gezeigten Fotografien und Baupläne in psychedelische | |
Schwingungen zu geraten. | |
Ein von Mollino mitentworfener roter Rennwagen für das 24-Stunden-Rennen | |
von Le Mans ist ebenso von Rundungen geprägt wie die zahlreichen in der | |
Ausstellung auf weißen Sockeln präsentierten Möbel oder | |
Inneneinrichtungsgegenstände. Stühle, Sessel, Schreibtische: der zumeist | |
nachts arbeitende Mollino bringt Holz oder Metallrohre in sehr organische, | |
gebogene Formen. Das Streben nach einer Schönheit, die immer wieder auf den | |
menschlichen Körper Bezug nimmt und Bewegung zu veranschaulichen sucht, | |
kennzeichnet diese Arbeiten, die in der letzten Zeit auf Auktionen zum Teil | |
horrende Preise erzielt haben. Man kann das als Antwort eines exzentrischen | |
Freigeistes auf die funktional ausgerichteten Formenzwänge seiner Zeit | |
lesen, als konsequente Choreografie eines Einzelgängers. Oder als | |
Postmoderne avant la lettre? Sind manche Objekte hier eher Vorläufer der | |
Nierentische? Ist Mollino ein entfernter älterer Verwandter von Collani? | |
Abseits solcher Einordnungsfragen bringen die Kuratoren Wilfried Kuehn und | |
Armin Linke in der Ausstellung Mollino als autonomen Künstler ins Spiel, | |
der sich eben nicht Auftraggebern und Marktgesetzen unterworfen, sondern | |
mit Materialien experimentiert und neue Verarbeitungsmethoden entwickelt | |
hat, die er auch zum Patent anmeldet, beispielsweise eine Methode zur | |
Kaltverleimung von Holz. | |
## Verruchte Räume | |
Die Ausstellungsmacher vermeiden das Risiko, sich gestalterisch dem | |
Außenseiter zu nähern. Die im Haus der Kunst gewählte Präsentation im hell | |
ausgeleuchteten White-Cube-Design ist maximal weit entfernt vom | |
Hi-Fi-Low-Fi-Stilmix, der die von Mollino entworfenen und teilweise von ihm | |
selbst benutzten Häuser beziehungsweise Apartments markiert. Dunkle, | |
morbide und irgendwie verruchte Räume hat er geschaffen, egal ob es sich um | |
die 1936 erbaute Casa Miller oder die in den sechziger Jahren errichteten, | |
aber nie von ihm bewohnten Zimmer in der Turiner Via Napione, der heutigen | |
Casa Mollino, handelt. | |
Hier hatte sich Mollino eine Bühne für seine theatralischen | |
Selbstinszenierungen geschaffen, die nicht einmal seine besten Freunde | |
kannten. Hier entstanden auch seine mit einer Polaroid-Kamera gemachten, | |
amateurhaft wirkenden Aktfotografien von Prostituierten, die nie | |
veröffentlicht werden sollten. Die etwas verschämt auf der Rückseite einer | |
Zwischenwand gezeigte Auswahl aus mehreren tausend Bildern belegt die | |
Einsamkeit des Unabhängigen, der den bewussten Teil-Rückzug aus der Welt | |
mit seinen voyeuristischen Fantasien tapeziert. | |
Für einen Teil der gegenwärtigen Generation von Künstlern erweist sich | |
Mollinos Schaffen als ungeheuer attraktiv. Insbesondere der | |
interdisziplinäre Charakter seines Werks und konkret die Verwendung von | |
Vorgefundenem zusammen mit neuen Technologien verweisen auf die Aktualität | |
seiner Arbeiten. Hier kann man sich orientieren an einem, der das | |
existenzielle Geworfensein in die Welt mit einem lässigen Return | |
beantwortet: La vie cest moi. Warum nicht einen Pudding an die Wand nageln | |
- zumal wenn anschließend Kurven entstehen. | |
19 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
K. Erik Franzen | |
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