# taz.de -- Streik des Klinikpersonals in NRW: Zu lange beim Burnout zugesehen | |
> Das Personal von sechs Unikliniken streikt mittlerweile seit mehr als | |
> zehn Wochen. Die Forderung: ein Tarifvertrag, der spürbare Entlastungen | |
> bringt. | |
Bild: Die Bezahlung kritisieren sie auch, aber aktuell geht es um Entlastung | |
„Ich bin gerade wieder AU“, schreibt mir meine Freundin. Als ich gerade | |
„Oh, nein, gute Besserung“ tippen will, erscheint eine zweite Nachricht: | |
„Zum Glück.“ AU – arbeitsunfähig, krankgeschrieben. Inzwischen ist sie … | |
häufiger. Sie hat Probleme mit den Knien und mit dem Rücken. Ihren | |
Arbeitsalltag als Pflegerin im Krankenhaus kann sie so nicht durchhalten. | |
Noch vor einem Jahr hat sie es dennoch versucht, ihren Patient*innen | |
zuliebe. Inzwischen freut sie sich offen über jede längere Krankschreibung | |
und denkt über eine Umschulung nach. Sich als Kindertagesbetreuerin | |
selbstständig zu machen, ist für sie auch eine Option. Zu den körperlichen | |
Belastungen sind bei ihr vermehrt Stresssymptome aufgetreten: Schwindel, | |
Panikattacken. Als sie vor sechs Jahren mit der Ausbildung fertig war, hat | |
sie ihren Job aus voller Überzeugung gemacht. Davon ist nicht mehr viel | |
übrig. | |
Die Coronapandemie [1][erhöhte die Belastung in ihrem Arbeitsalltag] | |
merklich. Aber auch zuvor machte sie Überstunden, war körperlich extrem | |
gefordert, hatte oft Arbeitstage ohne richtige Pause. „Ich kann mich um | |
niemanden gut kümmern, wenn es mir nicht gut geht“, sagte sie mal. | |
Der Alltag im Krankenhaus ist für die meisten Menschen erst dann richtig | |
präsent, wenn sie selbst oder Angehörige gesundheitliche Versorgung | |
dringend benötigen. Dann will man die ausgeruhte Ärztin, den freundlichen | |
Krankenpfleger, das gut gekochte Kantinenessen und die sauberen Toiletten. | |
Hin und wieder liest man die Schlagzeilen von zu hoher Arbeitsbelastung, | |
von akutem und steigendem Personalmangel, von Notbetrieb in Kliniken. Aber | |
das eben schon seit Jahren, das ist keine Neuigkeit. | |
## Der Druck ist enorm | |
Auch das von Verdi organisierte [2][Bündnis „Notruf NRW“] nahm man eher am | |
Rande wahr. Dabei ist das ein inzwischen historischer Arbeitskampf. Schon | |
seit dem 4. Mai läuft an den Klinikstandorten Köln, Bonn, Aachen, | |
Düsseldorf, Essen und Münster ein unbefristeter Streik. Und die | |
Beschäftigten fordern nicht mehr Geld. Sie wollen gemeinsam mit Verdi einen | |
„Tarifvertrag Entlastung“ abschließen. | |
Dieser soll für alle Arbeitsbereiche und Stationen konkret regeln, wie | |
viele Beschäftigte notwendig sind, um die Arbeit ohne Überlastung | |
durchführen zu können. Verkürzt zusammengefasst: Sie wollen nicht länger | |
ausbrennen. Sie brauchen mehr Kolleg*innen. Zuvor hatte ein im Januar | |
gestelltes [3][100-Tage-Ultimatum an die NRW-Landesregierung] und den | |
Arbeitgeberverband des Landes (AdL) keine Wirkung erzielt. | |
Dass das kein unerreichbares Ziel ist, wurde an der Berliner Charité | |
vorgemacht. Die Belegschaft erstreikte erst im [4][vergangenen Jahr einen | |
erweiterten Tarifvertrag] zur Entlastung. In Deutschland haben bislang 19 | |
Großkrankenhäuser Vereinbarungen zur Entlastung getroffen. Inzwischen sind | |
die NRW-Uniklinikmitarbeiter*innen in der elften Streikwoche. Das | |
ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, [5][wie viel Druck bereits | |
auf sie ausgeübt] wurde. | |
Statt sich an den Verhandlungstisch zu setzen, versuchten die Bonner | |
Unikliniken den Streik gerichtlich verbieten zu lassen. Ihr Eilantrag wurde | |
zweifach abgelehnt, das Gericht sieht die [6][Forderungen der Streikenden | |
hinreichend begründet]. Einziges Resultat: das juristische Vorgehen gegen | |
ihren Notruf machte das Personal verständlicherweise noch wütender. | |
## Mehr Druck auf das Personal | |
Auch versuchen Klinikleitende den Druck durch die Öffentlichkeit zu | |
erhöhen. Gegenüber der Presse sprechen sie von „[7][akut bedrohlichen | |
Situationen“]. In einem offenen Brief werfen [8][Ärzt*innen und leitende | |
Uniprofessor*innen den Beschäftigten vor], dass sie den Streik „auf | |
dem Rücken von verunfallten Patienten sowie dem ärztlichen Personal“ | |
austragen. Als wären die Streikenden nicht gerade an der besseren | |
Versorgung kranker Menschen interessiert. | |
Auch einige Medienberichte können emotionalen Druck auf die Streikenden | |
ausüben. Etwa kürzlich der über die wegen des Streiks verschobene | |
Chemotherapie des zweijährigen Emils. [9][In der Rheinischen Post sieht man | |
Bilder] von ihm und seinen Eltern. Natürlich wünscht man ihm die | |
bestmögliche Behandlung. Doch bei den Forderungen der Streikenden geht es | |
auch um die bessere Versorgung von kranken Kindern wie Emil. Aufgrund des | |
Streiks – aber auch aufgrund des hohen [10][Krankheitsstands wegen Corona] | |
– werden gerade viele Operationen verschoben. Doch ändert sich an den | |
Arbeitsbedingungen nichts, wird immer mehr Personal fehlen. | |
Schon jetzt haben zahlreiche Menschen im Gesundheitswesen gekündigt, um | |
ihre eigene Gesundheit wahren zu können. Jahrelang wurden die Belastungen | |
angekreidet. Geändert hat sich zu wenig. Beim Burnout wurde zugesehen. | |
Der Intensivpfleger Ricardo Lange, der sich während der Coronapandemie | |
häufig in Talkshows zur Belastung der Pflegekräfte geäußert hat, | |
kommentiert [11][auf seinem Twitterprofil] zum Streik der Unikliniken in | |
NRW: „Für mich ist der monatelange Streik des medizinischen Personals eine | |
Art Offenbarungseid: Es wird einmal mehr deutlich, wie sehr auf Patienten | |
und Mitarbeiter gepfiffen wird!“ | |
## Licht am Ende des Tunnels? | |
Vonseiten der Politik gab es in den vergangenen Jahren zu oft nur ein | |
„Danke“ und warme Worte in Richtung der Pflegekräfte. | |
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigte jetzt an, dass er | |
zum 1. Januar 2024 eine neue Pflegepersonal-Regelung (PPR 2.0) einführen | |
werde. | |
Die solle dazu führen, dass Kliniken so viele Pflegekräfte einstellen | |
müssen wie benötigt. Sanktionen bei Nichterfüllung werde es jedoch erst | |
ab 2025 geben. Wie die aussehen werden, ist noch unklar. Der | |
Gesundheitsminister hofft darauf, dass mit dieser Regelung Pflegekräfte in | |
den Job zurückkehren, die diesen wegen der belastenden Arbeitsumstände ganz | |
oder teilweise verlassen haben. | |
Dazu sind laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland rund | |
300.000 ehemalige Vollzeitkräfte bereit. Allerdings gab es die Pläne, die | |
Lauterbach jetzt umsetzen will, bereits seit 2020. Vier Jahre müssen also | |
ins Land ziehen, um Arbeitsbedingungen zu verbessern. Wen kann da ein | |
Streik verwundern? | |
Vor der Landtagswahl in NRW sagte der dort nun wiedergewählte | |
Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU): „Es ist ganz klar, es wird | |
diesen Tarifvertrag geben.“ Ende Juni sagte er im Namen der schwarz-grünen | |
Regierungskoalition dann auch die strittige Übernahme der Kosten für die | |
Bereiche, die nicht von Krankenkassen übernommen würden, zu. Ein möglicher | |
Türöffner für eine baldige Einigung? | |
Bis zum Redaktionsschluss konnte sich Verdi-Verhandlungsführerin Katharina | |
Wesenick dazu noch nicht äußern. Noch bis Freitagnacht sollte | |
weiterverhandelt werden. Das Angebot, das bislang unterbreitet wurde, | |
dividierte das Personal auseinander. Die Klinikvorstände boten eine | |
pauschale Regelung mit bis zu sieben Entlastungstagen pro Jahr für | |
pflegende Berufe an. Dabei wären einige in der Belegschaft leer | |
ausgegangen. | |
Es macht Mut zu sehen, wie solidarisch die Streiks in den | |
nordrhein-westfälischen Unikliniken mit dem gesamten Krankenhauspersonal | |
sind. „Krankenhaus ist Teamarbeit. Nur wenn alle Bereiche zusammenarbeiten | |
und funktionieren, können wir unsere Patient*innen gut versorgen. Doch | |
überall fehlt es an Personal“, wird die Servicekraft Elli zitiert. | |
Pflegende, Köch*innen, Reinigungskräfte streiken zusammen. Für eine bessere | |
Gesundheitsversorgung für alle. | |
15 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Personalnotstand-in-Krankenhaeusern/!5864029 | |
[2] https://notruf-entlastungnrw.de/ | |
[3] /Streiks-an-Uni-Kliniken-in-NRW/!5857236 | |
[4] /Entlastung-fuer-Krankenhauspflegekraefte/!5847246 | |
[5] /Arbeitskampf-in-NRW/!5861284 | |
[6] /Arbeitskampf-an-NRW-Unikliniken/!5861398 | |
[7] https://www.spiegel.de/wirtschaft/essens-uniklinik-chef-jochen-werner-strei… | |
[8] https://www.ukm.de/fileadmin/user_upload/Medizin/Kliniken/Unfallchirurgie/D… | |
[9] https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/duesseldorf-kinderkrebsklinik-… | |
[10] /Personalnotstand-in-Krankenhaeusern/!5864029 | |
[11] https://twitter.com/RicardoLange4?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7… | |
## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
## TAGS | |
Universitätsklinikum | |
Bundesministerium für Gesundheit | |
Streik | |
Nordrhein-Westfalen | |
GNS | |
Pflege | |
Pflegenotstand | |
Fachkräftemangel | |
Personal | |
Klinik | |
Burnout | |
Arbeitswelt | |
Streik | |
Notbetreuung | |
Sozialverband | |
psychische Gesundheit | |
Pflegekräftemangel | |
Pflegeberufe | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Universitätsklinikum | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Pflegekräftemangel | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Klasse | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Studie über Arbeitssucht: Lasst uns Spielverderber*innen sein | |
Jede zehnte erwerbstätige Person ist arbeitssüchtig. Anstatt das offen zu | |
problematisieren, wird die ungesunde Einstellung zum Job weiter | |
idealisiert. | |
Tarifverhandlungen für Bund und Kommunen: Warnstreik an Kliniken gestartet | |
Seit den früheren Morgen streiken Angestellte von Krankenhäusern. Gemeinsam | |
mit Verdi fordern sie 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro mehr Lohn. | |
Debatte nach Unfall in Berlin: Rettung für den Rettungsdienst | |
Nach einem Busunfall wird über die desolate Situation von Feuerwehr und Co. | |
diskutiert. Ein Bündnis fordert nun deutschlandweite Verbesserungen. | |
Studie zur Pflege von Angehörigen: „Die Pflege macht arm“ | |
Wenn Angehörige pflegebedürftig werden, ist das oft auch eine finanzielle | |
Belastung. Der Sozialverband VdK fordert mehr staatliche Unterstützung. | |
Urteil zur Arbeitszeiterfassung: Stechuhr für die Gesundheit | |
Die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit wird Arbeitnehmer*innen | |
helfen. Die vielen Überstunden machen krank. | |
Auswirkungen der hohen Inflation: Warnung aus der Altenpflege | |
Private Anbieter warnen vor einem starken Kostenanstieg in der Altenpflege. | |
Sie fordern einen „Inflationszuschuss“ von 25 Prozent. | |
Zahlen des Statistischen Bundesamts: Mehr Ausbildungen in der Pflege | |
Rund 56.300 Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr eine | |
Ausbildung in der Pflege begonnen. Das sind fünf Prozent mehr als im Jahr | |
zuvor. | |
Corona-Politik der FDP: Hauptsache, Leistung | |
FDP-Politiker*innen wollen die Pflicht zur Corona-Isolation aufheben. Dabei | |
schränken sich vulnerable Gruppen sowieso schon enorm ein. | |
Arbeitsbedingungen in der Pflege: Einigung in NRW-Klinikstreit | |
Das Personal der Unikliniken Nordrhein-Westfalens setzt sich durch, nach | |
elf Wochen Streik. Die Arbeitsbedingungen sollen verbessert werden. | |
Entwicklungen in der Coronapandemie: Corona-Inzidenz bei 744,2 | |
In Deutschland steigt laut dem Robert Koch-Institut die Zahl der bekannten | |
Infektionen auf über 29,8 Millionen. Viele Fälle werden nicht mehr erfasst. | |
Streiks an Uni-Kliniken in NRW: Gegen den alltäglichen Skandal | |
Pflegende und Therapeut:innen der sechs Uni-Kliniken in NRW streiken. | |
Für Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen. | |
Karlsruhe zur Impfpflicht in der Pflege: Der gerechtfertigte Piks | |
Es bleibt dabei: Wer in Kliniken und Heimen arbeiten will, muss geimpft | |
sein. Eine entsprechende Beschwerde lehnten die Karlsruher Richter:innen | |
ab. | |
Soziologin über Klassengesellschaft: „Man rennt dauernd gegen Schranken“ | |
Viel Applaus – wenig Veränderung. Die Göttinger Soziologin Nicole | |
Mayer-Ahuja über die Situation der verkannten Leistungsträger:innen. |