# taz.de -- Soziologin über Klassengesellschaft: „Man rennt dauernd gegen Sc… | |
> Viel Applaus – wenig Veränderung. Die Göttinger Soziologin Nicole | |
> Mayer-Ahuja über die Situation der verkannten Leistungsträger:innen. | |
Bild: Theoretisch gewürdigt, praktisch immer noch nicht: die Arbeitskräfte, d… | |
taz: Wer sind die verkannten Leistungsträger:innen, über die Sie in Ihrem | |
Buch schreiben, Frau Mayer-Ahuja? | |
Nicole Mayer-Ahuja: Das sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten, | |
wie Angela Merkel das so schön gesagt hat. Die mit der Reproduktion von | |
Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen befasst sind – sei es in der | |
Pflege oder Erziehung, bei der Zurverfügungstellung von Lebensmitteln, beim | |
Transport von Paketen, bei der Reinigung von Gebäuden. | |
Inwiefern sind sie verkannt? | |
Weil sie gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten und dafür [1][mit | |
relativ geringen Löhnen und einigermaßen zweifelhaften Arbeitsbedingungen] | |
abgespeist werden. Sie haben unsichere Verträge und Erwerbsbiografien, in | |
denen sie sich von einem Job zum anderen hangeln und keine Lebensplanung | |
entwickeln können. Und ein großes Thema ist die geringe Anerkennung für die | |
Tätigkeiten. | |
Es sind Tätigkeiten, die uns aus unseren Alltagsbedürfnissen vertraut sind, | |
anders als etwa die einer Hedgefondsmanagerin. Warum werden gerade die | |
verkannt? | |
Ich glaube, dass sich die Bedeutung ein Stück weit in der Pandemie | |
herumgesprochen hat. In einem Interview, das ziemlich eingeschlagen hat, | |
sagte ein Betriebsrat von VW: Wenn wir zwölf Wochen keine Autos bauen, dann | |
merkt das kein Mensch; wir sind nicht systemrelevant. Die Tätigkeiten, über | |
die wir gerade gesprochen haben, hingegen schon. | |
Warum bleiben sie dann prekär? | |
Leistung wird inzwischen an anderen Kriterien festgemacht. Zum Beispiel | |
spielt der gesellschaftliche Nutzen einer Tätigkeit eine sehr viel | |
geringere Rolle als die Möglichkeit, damit Gewinne zu erzielen. Und der | |
Aufwand, den man mit einer Tätigkeit treibt, der früher immer ein ganz | |
klassisches Kriterium für die Leistungsbeurteilung war, spielt jetzt eine | |
viel geringere Rolle. Im Grunde genommen geht man davon aus, wenn jemand | |
Geld und hohes gesellschaftliches Ansehen hat, dann wird er oder sie schon | |
etwas geleistet haben. | |
Wie ist die Selbsteinschätzung der verkannten Leistungsträger selbst? | |
Sie haben durch die Bank einen sehr hohen Anspruch an ihre Arbeit. Sie | |
haben auch ein Gefühl dafür, dass es ein Missverhältnis gibt zwischen dem, | |
was sie leisten und dem, was sie vom Unternehmen an gesellschaftlicher | |
Anerkennung zurückbekommen. Teilweise sind die Interviews im Buch | |
[2][anrührende Geschichten von Frauen], die sich verantwortlich fühlen für | |
die Kunden, aber vom Unternehmen so enge Vorgaben bekommen, was | |
Arbeitszeitkontingente oder Personalbemessung angeht, dass sie ihre eigenen | |
Standards von guter Arbeit gegen das Unternehmen durchsetzen müssen. | |
Was hält sie bei der Stange? | |
Ich fand den Bericht von Susanna Höfer über eine junge Frau sehr | |
interessant: Die nimmt als Auszubildende im Sicherheitsgewerbe sehr | |
unattraktive Arbeitszeiten und eine sehr geringe Bezahlung in Kauf, weil | |
sie diese Berufsausbildung will und damit alle möglichen Hoffnungen | |
verbindet: auf Aufstieg, auf mehr Anerkennung durch den Kunden. Sie will | |
die Fachkraft sein, die der Gesellschaft Sicherheit bringt. Und | |
gleichzeitig sieht man, dass die Strukturen, in denen sie sich bewegt, | |
diese Hoffnungen enttäuschen müssen. | |
Inwiefern? | |
Es gibt nicht genug Arbeitsplätze für ausgebildete Sicherheitsfachkräfte. | |
Sie quält sich jetzt drei Jahre und wird anschließend mit hoher | |
Wahrscheinlichkeit zu den selben Bedingungen arbeiten wie diejenigen, die | |
die Ausbildung nicht gemacht haben. Deswegen heißt unser Buch im Untertitel | |
„Berichte aus der Klassengesellschaft“. Das ist die Erfahrung, durch die | |
sozioökonomische Position, die man hat, ein Stück weit festgebunden zu | |
sein. Man versucht weiter zu kommen und rennt doch andauernd gegen | |
Klassenschranken. Womit wir dann über politische Maßnahmen der letzten | |
Jahrzehnte reden müssen, die dazu geführt haben. | |
Nämlich? | |
Dass die Unternehmen oft nicht mehr den Preis für soziale Sicherung zahlen, | |
dass sie flexibel befristen und kündigen können. Dieses Machtverhältnis | |
wird nicht verändert; im Gegenteil, wir haben eine Vermögenssteuer, die | |
seit sehr vielen Jahren nicht erhoben wird. | |
Wenn Sie von Klassen sprechen, denkt man historisch an eine organisierte | |
Arbeiterschaft, die für ihre Interessen kämpft. Gibt es bei den verkannten | |
Leistungsträger:innen Ansätze, sich zu wehren? | |
Insgesamt sind die Bedingungen, sich zusammenzuschließen, in diesen Teilen | |
der Arbeitswelt besonders schlecht. Wir haben einen hohen Anteil von Frauen | |
und migrantischen Beschäftigten, die es traditionell schwerer gefunden | |
haben, sich zu organisieren. Es gibt strukturelle Probleme, etwa bei | |
Putzkolonnen: wir haben Reinigungsfirmen, die 10.000 Beschäftigte haben, | |
die sich im Arbeitsalltag aber nie treffen, weil man in einzelnen Objekten | |
arbeitet oder es hohe Fluktuation gibt. Da tut man sich schwer, sich mit | |
Kolleg:innen zusammenzuschließen. Am anderen Ende des Spektrums haben | |
Sie die Pflege, wo es in den letzten Jahren gelungen ist, mit der | |
liebgewordenen Annahme, dass Pflegende nicht streiken, zu brechen. | |
Wie kam es dazu? | |
Man hat immer gesagt, dass Leute in personenbezogenen Dienstleistungen | |
nicht streiken, weil sie mit einem Streik das Gegenüber, also hier die | |
Patient:innen, treffen würden. Seit dem [3][Streik an der Berliner | |
Charité] sieht die Argumentation völlig anders aus: Die Kolleg:innen | |
dort haben gesagt: „Mehr von uns ist besser für alle“, das heißt: wir | |
müssen unsere Arbeits- und Lohnbedingungen verbessern, damit wir die | |
Pflegequalität sicherstellen können. | |
Wie ist Ihre Prognose – wird sich auch in anderen Bereichen etwas ändern? | |
Ich komme gerade von einer Veranstaltung für die IG BAU Reinigung, wo die | |
Kolleg:innen erzählen, dass die Frauen nicht streiken, weil sie sich mit | |
dem Objekt, mit dem Kunden identifizieren und sagen: „Ich kann doch hier | |
die Räume nicht dreckig lassen“, zumal in einem Krankenhaus. Da wäre so | |
eine Umwertung wie in der Pflege unheimlich wichtig. Wir sehen aber in | |
anderen Bereichen Arbeitskämpfe, etwa bei den Lieferdiensten, wo viele | |
junge Leute, größtenteils mit migrantischem Hintergrund, nur für eine kurze | |
Zeit arbeiten. Sie organisieren sich, obwohl die Lage objektiv sehr | |
schwierig ist. Aber teilweise gelingt es. | |
3 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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