# taz.de -- taz-Serie „Was macht eigentlich …?“ (1): Solidarität? Fehlan… | |
> Im zweiten Coronajahr ist von der seit Beginn der Pandemie so | |
> beschworenen Solidargemeinschaft nicht viel übrig. Drei Lehren aus 2021. | |
Bild: Pflegekraft und Patientin auf einer Berliner Intensivstation, Mai 2021 | |
Kaum ein Begriff wurde während der Pandemie derart bemüht wie der der | |
Solidarität. Nicht nur in linken Kreisen hatte das Aufkommen des | |
Coronavirus ursprünglich neben Ängsten auch einige Hoffnungen geweckt. In | |
Zeiten der Krise würden unmögliche Dinge plötzlich möglich, verkündete etwa | |
die prominente Kapitalismuskritikerin Naomi Klein gleich zu Beginn der | |
Pandemie. | |
Da ist es schon irre, dass, während dieser Text entsteht, vor dem Haus des | |
Verfassers einige versprengte Coronaleugner:innen umherziehen. Sie | |
demonstrieren gegen Impfungen, gegen Maskenpflicht und alle anderen | |
Coronaregeln – und treten damit für eine verdrehte, kapitalistische | |
Vorstellung von Freiheit ein; nämlich die, auf jegliches | |
Aufeinander-Acht-Geben verzichten zu dürfen. Solidarität? | |
Fehlanzeige! Es ist, als wären sie von Margret Thatcher und ihrem Ausruf | |
„There is no such thing as society“ befeuert worden, ein Grundrecht auf | |
Egoismus einzufordern. Dabei scheint sie nicht einmal zu stören, dass sich | |
vielerorts Neonazis und andere Rechtsextreme an die Spitze der Proteste | |
stellen. | |
Doch es ist ja nicht so, als wären Berlin und Deutschland abgesehen von den | |
Coronaleugner:innen eine einzige große Solidargemeinschaft. Während | |
in Berlin Gastronomie-Unternehmer:innen immer wieder auf Coronahilfen | |
warten mussten, wurden Konzerne wie Lufthansa oder VW vom Bund mit | |
Steuergeldern vollgepumpt. Kunst und Kultur hatte der dagegen fast völlig | |
vergessen, weshalb in der Hauptstadt der linke Kultursenator Klaus Lederer | |
einspringen musste. Arbeitslos gewordene oder in Kurzarbeit gesteckte | |
Berliner:innen mussten weiter Miete zahlen, während der | |
Immobilienkonzern Vonovia allein im ersten Halbjahr 2021 [1][fast 2,7 | |
Milliarden Euro Gewinn] erzielte. Der Bezirk Lichtenberg ließ in der | |
Rummelsburger Bucht trotz klirrender Kälte ein Obdachlosencamp räumen, dort | |
entsteht nun ein touristisches Aquarium. | |
## Dem Kapitalismus gehts gut | |
Kurz: Gerade in der Krise geht es dem Kapitalismus ganz hervorragend. Wie | |
es angesichts dessen um die Solidarität steht? Nun, beschissen. Doch | |
zynisch soll dieser Text nicht werden. Nicht zu Beginn eines neuen Jahres, | |
wo man ja neue Kraft für neue Kämpfe sammeln soll. Zu resignieren wäre auch | |
gar nicht richtig, denn tatsächlich wird Solidarität ja weiterhin | |
tagtäglich geübt. | |
Da wäre an allererster Stelle etwa die Berliner Krankenhausbewegung zu | |
nennen. Vermessen wäre es aber, sie mit irgendeiner | |
gesamtgesellschaftlichen Solidarität in Verbindung zu bringen, die in der | |
Pandemie noch gewachsen wäre. Pflegenden applaudieren: Das taten | |
Politiker:innen und Klinikleitungen zwar gerne, gerade dann, wenn sie | |
wussten, dass andere zusahen. Ihnen tatsächlich zu helfen, war dagegen | |
lange keine Option. | |
Von Ende August bis Mitte Oktober dieses Jahres mussten die Beschäftigten | |
der kommunalen Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes streiken, | |
bereits im Mai hatten sie den Tarifkampf ausgerufen. In all diesen Monaten | |
haben sich weder die damals noch rot-rot-grüne Regierung noch die | |
Klinikleitungen wesentlich bewegt. Im Gegenteil: Vivantes hatte sogar | |
versucht, die ersten Streiks mit einstweiligen Verfügungen gerichtlich | |
[2][verbieten zu lassen]. Und leitende Angestellte etwa der | |
Vivantes-Tochter Labor Berlin machten [3][gewerkschaftlich aktive | |
Beschäftigte vor versammelter Mannschaft zur Schnecke], offensichtlich in | |
der Hoffnung, den Arbeitskampf im Keim zu ersticken. | |
Doch die Beschäftigten standen solidarisch zusammen – und erstritten so | |
Lohnerhöhungen und einen Entlastungsvertrag. Ihr Erfolg ist nicht weniger | |
als ein Meilenstein auf dem Weg ins entökonomisierte Gesundheitssystem. Die | |
erste Lehre in Sachen Solidarität, die aus dem Jahr 2021 gezogen werden | |
kann, lautet also: Im Kapitalismus ist Solidarität nichts, was von oben | |
kommt. Sie muss an der Basis erkämpft werden. Wenn Menschen solidarisch | |
agieren und tatsächliche Veränderungen einfordern, sind sie auf | |
Sympathiebekundungen nicht länger angewiesen. | |
## Unsolidarische Gewerkschaft | |
Wer trotz Pandemie – wie auch die Pflegenden – nicht im Homeoffice arbeiten | |
konnte, das waren die unterbezahlten und höchst prekär beschäftigten Rider | |
der Lieferdienste. Insbesondere die Mitarbeitenden des | |
Fahrradlieferdienstes Gorillas hatten die Zustände in ihrem Unternehmen | |
satt. Da sich aber nicht einmal die Gewerkschaft Verdi solidarisch zeigte, | |
[4][die ihren Streik hätte übernehmen können], blieb den Ridern nichts | |
anderes übrig, als in „[5][wilden Streiks“] spontan die Arbeit | |
niederzulegen. Firmenchef Kağan Sümer reagierte mit Massenentlassungen. | |
Lehre Nummer zwei lautet daher: Im Kapitalismus ist Solidarität manchmal | |
illegal. Doch gerade dann ist sie notwendig. | |
Über den Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit wurden auch Berlins | |
Mieter:innen allerspätestens im vergangenen Jahr belehrt. Erst kippte | |
das Verfassungsgericht den Mietendeckel, dann [6][das Verwaltungsgericht | |
das bezirkliche Vorkaufsrecht]. Die Kompromisslosigkeit der | |
Richter:innen ließ zuweilen den Eindruck entstehen, dass ein echter | |
solidarischer Wandel auf dem Wohnungsmarkt [7][nicht gewünscht] und auch | |
gar nicht erlaubt wäre. | |
Auch wegen des Gefühls der Machtlosigkeit, das dies mit sich bringt, | |
stimmten wohl über [8][eine Million Berliner:innen] für die Enteignung | |
großer Immobilienkonzerne – eine beispiellose Demonstration | |
stadtgesellschaftlicher Solidarität. Die Umsetzung des Entscheids | |
durchzusetzen, wird in den kommenden Jahren die Aufgabe derer sein, die | |
sich eine solidarischere Stadt wünschen. Es ist bitter, dass ihnen vor | |
allem die SPD entgegensteht, die sich gemeinsam mit CDU, FDP und AfD hinter | |
die Interessen der Immobilienwirtschaft gestellt hat. | |
Wem angesichts dieser Kräfteverhältnisse schwindelig wird, den wird | |
vielleicht Lehre Nummer 3 aufbauen: Wenn Menschen solidarisch agieren, | |
können sie fast alles erreichen. Schon Rio Reiser hat’s gewusst: Alles, was | |
uns fehlt, ist die Solidarität. | |
28 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://reports.vonovia.de/2021/q2/de/zwischenabschluss/gewinn-und-verlustr… | |
[2] /Arbeitskampf-des-Klinikpersonals/!5791153 | |
[3] /Tarifkampf-der-Krankenhausbeschaeftigten/!5786616 | |
[4] /Arbeitskampf-bei-Lieferdiensten/!5804352 | |
[5] /Protest-bei-Lieferdienst-Gorillas/!5775031 | |
[6] /Urteil-des-Bundesverwaltungsgericht/!5814508 | |
[7] /Berliner-Mietendeckel-gekippt/!5763152 | |
[8] /Enteignungsvolksentscheid-in-Berlin/!5803784 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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