| # taz.de -- Urteil zur Arbeitszeiterfassung: Stechuhr für die Gesundheit | |
| > Die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit wird Arbeitnehmer*innen | |
| > helfen. Die vielen Überstunden machen krank. | |
| Bild: Muss ja nicht eine Stechuhr sein, so wie diese im Hamburger Hafen 1970 | |
| Die Anfrage für diesen Text habe ich außerhalb meiner Arbeitszeit bekommen. | |
| Ein kurzes Telefonat, eine kleine Recherche im Internet und ein Blick in | |
| den Terminkalender – schon ist wieder eine Stunde meines freien Tages | |
| vergangen. Auch diese Zeilen schreibe ich nicht im Rahmen meiner | |
| redaktionellen Dienstzeit. Den kurzen Einstieg schon mal aufs Papier | |
| bringen – das dauert doch nicht lange. | |
| Am Dienstag hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass es in | |
| Deutschland eine Pflicht [1][zur Erfassung der Arbeitszeit gibt]. Das ist | |
| nicht überraschend, denn diese besteht offiziell bereits seit der als | |
| „Stechuhr-Urteil“ betitelten Feststellung des Europäischen Gerichtshof | |
| (EuGH) vom Mai 2019. Darin wurde festgelegt, dass alle EU-Mitgliedstaaten | |
| ein „verlässliches und zugängliches System“ einrichten müssen, mit dem s… | |
| die Arbeitszeit von Arbeitnehmer*innen erfassen. Dadurch sollen | |
| Ruhezeiten und begrenzte Höchstarbeitszeiten sichergestellt und der | |
| Gesundheitsschutz gestärkt werden. Mit der Umsetzung wurde in Deutschland | |
| allerdings bislang getrödelt. Gesetzlich festgeschrieben ist, dass | |
| Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden müssen. Auch das | |
| passiert nicht überall. Oft aufgrund fehlender Kontrollen. | |
| Natürlich gibt es in einigen Berufsfeldern und Betrieben eine exakte | |
| Arbeitszeiterfassung. In den Fokus rücken nach dem Urteil des BAG eher die | |
| Berufszweige, in denen es diese nicht gibt und das Stresslevel und die | |
| Burn-out-Gefahr besonders hoch sind. Dazu gehören zum Beispiel die (freie) | |
| Sozialarbeit oder auch die Start-up-Szene. Das Versprechen vieler hipper | |
| Jungunternehmen: Arbeiten, wann und wo man will. Flexibilität. Freiheit. | |
| Inklusive der Freiheit zur Selbstausbeutung. | |
| Mehr als drei Jahre ist in der [2][nationalen Gestaltung des EuGH-Urteils] | |
| nichts passiert. Das ist fatal. Die politischen Ausreden, die | |
| argumentieren, dass es keinen zeitlichen Rahmen für die Umsetzung gebe und | |
| die Frage des „Wie“ ungeklärt sei, grenzen an Arbeitsverweigerung. Die | |
| Große Koalition und auch die aktuelle Bundesregierung machten bislang nur | |
| vage Ankündigungen. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung steht, dass „im | |
| Dialog mit Sozialpartnern“ geprüft werden solle, „welcher Anpassungsbedarf | |
| angesichts [3][der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs] zum | |
| Arbeitsgericht“ gesehen wird. Geht es noch uneindeutiger? | |
| Insofern ist das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts zu begrüßen. Nun | |
| muss der Gesetzgeber handeln. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) | |
| kündigte zumindest an, Vorschläge zur Umsetzung des Urteils vorzulegen. Er | |
| betonte aber direkt, dass es möglichst „unbürokratisch“ laufen solle. Noch | |
| im Februar dieses Jahres hatte die FDP mit Verweis auf schlechte | |
| Umsetzbarkeit verhindert, dass im Gesetz zum angehobenen Mindestlohn zum 1. | |
| Oktober auch eine strengere Regelung zur Arbeitszeiterfassung beschlossen | |
| wird. | |
| ## 180.000-mal Diagnose Burn-out | |
| Klar, es gibt auch Arbeitnehmer*innen, die das Urteil fürchten. Sie denken | |
| an Bürokratie, Zettelwirtschaft, und die Stechuhr löst bei vielen ein | |
| unangenehmes Gefühl von Kontrolle aus. Sie denken an die Chefin, die sieht, | |
| dass man den Rechner schon zehn Minuten früher herunterfährt. Bedeutet | |
| dieses Urteil nicht noch mehr Druck bei der Arbeit? | |
| Doch in den wenigsten Berufen starren Menschen auf einen quälend langsam | |
| tickenden Zeiger der Uhr. Stattdessen machen sie nicht selten noch „kurz | |
| was nach Feierabend“, oder die Ärztin lässt ihre Mittagspause ausfallen, | |
| weil die Notaufnahme voll war. Nicht umsonst ist das Thema Burn-out | |
| omnipräsent. Nach Statistiken der AOK waren unter gesetzlich versicherten | |
| Beschäftigten 2020 in Deutschland rund 180.000 von Burn-out betroffen. | |
| Psychische Erkrankungen sind inzwischen einer der Hauptgründe für | |
| Krankheitstage. Dass die Coronapandemie in diesem Punkt nicht für | |
| Verbesserungen gesorgt hat, ist bekannt. | |
| Als größtes Problemkind beim Thema [4][Arbeitsbelastung gilt der | |
| Gesundheitssektor.] Überstunden und ständiges Einspringen an freien Tagen | |
| sind in vielen Kliniken und Pflegestätten an der Tagesordnung. Wochenlange | |
| Streiks, wie [5][etwa der im Juli erfolgreich abgeschlossene an den | |
| Unikliniken in NRW], zielen nicht auf bessere Bezahlung, sondern auf mehr | |
| Arbeitsschutz ab. | |
| Niemand würde bestreiten, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten | |
| für Lkw-Fahrer*innen sinnvoll sind. Ein übermüdeter Mensch hinterm Steuer | |
| ist eine Gefahr für sich und viele andere. Warum sollte der gleiche Ansatz | |
| – die Sicherstellung der Gesundheit – nicht auch für die Hebamme, die | |
| Erzieher*in und den/die Programmierer*in gelten? | |
| Kritiker*innen der Arbeitszeiterfassung fürchten, dass mit ihr | |
| Freiheiten für Arbeitnehmer*innen wegfallen könnten. Dass es mehr | |
| Kontrolle gebe statt Vertrauensarbeitszeit – und dass dadurch auch das | |
| inzwischen in vielen Branchen übliche Homeoffice schwieriger werden könnte. | |
| Die Arbeitgeberseite verschiebt indes gezielt den Diskurs, wenn sie darauf | |
| abhebt. DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sieht eine „Gespensterdebatte“. | |
| Denn den gesetzlichen Rahmen zu schaffen, in dem verschiedene | |
| Arbeitsmodelle berücksichtigt werden, ist überfällige Aufgabe der | |
| Regierung. Auch im Homeoffice und bei einer Vertrauensarbeitszeit können | |
| Arbeitgeber*innen den vorgeschriebenen Arbeitsschutz einhalten, indem | |
| sie etwa – in Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat, wenn vorhanden – ein | |
| dafür passendes Modell entwickeln. Reichen könnte unter Umständen schon | |
| eine einfache Excel-Tabelle. Schneller umsetzbar dürfte in vielen | |
| Unternehmen eine elektronische Zeiterfassung sein, wie sie bereits zum | |
| Einsatz kommt. | |
| Es wird auch argumentiert, dass Arbeitnehmer*innen ihre | |
| Arbeitgeber*innen um Arbeitszeit „betrügen“ könnten. Die Zahlen des | |
| Statistischen Bundesamts von 893 Millionen unbezahlten Überstunden im Jahr | |
| 2021 in Deutschland sprechen allerdings gegen diese Annahme. | |
| Besonders Menschen, die ihren Job gerne machen oder sehr ehrgeizig sind, | |
| arbeiten länger und schreiben nicht alle Überstunden auf. Selbstausbeutung | |
| wird so zur Normalität, Arbeit gilt als identitätsstiftend, die Grenzen | |
| zwischen privatem Interesse und Arbeit verschwimmen. Mit einer | |
| Arbeitszeiterfassung können Überstunden leichter geltend gemacht werden. | |
| Besonders anfällig für Selbstausbeutung sind Berufsanfänger*innen: Sie sind | |
| aufgrund von falschem Ehrgeiz oder Unwissen um eigene Arbeitsrechte | |
| gefährdet, zu viel zu arbeiten. Die eigene Gesundheit im Auge zu behalten, | |
| ist ein Lernprozess. Begünstigt werden „freiwillige Überstunden“ durch | |
| befristete Arbeitsverträge, Leistungsdruck durch Vorgesetzte oder | |
| Kolleg*innen. Gestrebt wird nach Lob, man will unbedingt als „belastbar“ | |
| gelten. Und ist eigentlich doch hoffnungslos überarbeitet. | |
| Dass das Arbeitspensum zu hoch ist, merken die meisten Menschen erst, wenn | |
| die körperliche Erschöpfung schon eingetreten ist. Das Urteil des | |
| Bundesarbeitsgerichts kann Anlass sein, wieder mehr über die Gesundheit im | |
| Arbeitsalltag zu sprechen. Und über die Verantwortung der | |
| Arbeitgeber*innen. | |
| 17 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Urteil-zur-Arbeitszeiterfassung/!5878166 | |
| [2] /Kommentar-Arbeitszeiterfassung/!5591637 | |
| [3] /EU-Richtlinie-zur-Arbeitszeit/!5592736 | |
| [4] /Streik-des-Klinikpersonals-in-NRW/!5864963 | |
| [5] /Arbeitsbedingungen-in-der-Pflege/!5869272 | |
| ## AUTOREN | |
| Linda Gerner | |
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