| # taz.de -- Corona-Politik der FDP: Hauptsache, Leistung | |
| > FDP-Politiker*innen wollen die Pflicht zur Corona-Isolation aufheben. | |
| > Dabei schränken sich vulnerable Gruppen sowieso schon enorm ein. | |
| Bild: Kein Durchblicken mehr in der Coronapolitik | |
| Montagmorgen, Wolfgang Kubicki schnippst mit dem Finger, das Radio geht an. | |
| „Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Wir steigern [1][das | |
| Bruttosozialprodukt] …“ Der FDP-Politiker grinst sein Spiegelbild zufrieden | |
| an, schwingt kurz mit der Hüfte und stellt sich dann [2][unter die eiskalte | |
| Dusche]. Wie Gewinnertypen das eben so machen. Vier Minuten später steht im | |
| Esszimmer das Frühstück bereit. Bisschen was Leckeres, bisschen was | |
| Gesundes. Die Haushaltshilfe hustet. „Gute Besserung“, sagt Kubicki | |
| mitfühlend. „Danke … dieses blöde Corona.“ Kubicki schlägt die Zeitung… | |
| Das Bild einer Pflegerin mit FFP2-Maske ziert die Zeile „Die deutschen | |
| Krankenhäuser geraten durch die aktuelle Coronasommerwelle immer stärker | |
| unter Druck“. Kubicki seufzt. „Ja, ja, weil das gesunde Personal wegen | |
| dieser Isolationspflicht zu Hause sitzt. Da muss man doch was machen!“ | |
| Aber genug des Ausflugs ins Fiktionale. Mehrere FDP-Politiker*innen fordern | |
| gerade mal wieder lautstark, dass die Corona-Isolationspflicht aufgehoben | |
| wird. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, sagte etwa die | |
| FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus dem Redaktionsnetzwerk | |
| Deutschland. Der bereits genannte stellvertretende FDP-Vorsitzende Kubicki | |
| sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, dass „es epidemiologisch als | |
| auch aus Gründen der Eigenverantwortung überfällig“ sei, die Entscheidung | |
| zur Isolation den Menschen wieder „selbst zu überlassen“. | |
| FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sorgt sich außerdem um die | |
| Personalausfälle aufgrund der Isolationspflicht: „Wir werden in | |
| systemrelevanten Bereichen vor enormen Herausforderungen stehen, wenn wir | |
| massenhaft positiv Getestete ohne Symptome in die Isolation schicken“, | |
| sagte er der Rheinischen Post. | |
| ## Pflegerin kann nicht ins Homeoffice | |
| Ach, schön. Erinnern wir uns kurz, welche Berufe im Zuge der Coronapandemie | |
| unter anderem als systemrelevant eingestuft wurden: Ärzt*innen, | |
| Pfleger*innen, Seelsorger*innen, Journalist*innen, Hilfspersonen für | |
| Menschen mit Behinderung, Kitabetreuer*innen, Lehrer*innen … und fast | |
| jede andere Berufssparte. In einigen Berufsgruppen, wo prekäre | |
| Arbeitsverhältnisse herrschen, arbeiten Menschen schon länger wieder trotz | |
| positiver Coronatests. „Krankheit bezahlt mir ja niemand“, sagte mir | |
| neulich ein freier Journalist. Immerhin müsste er ja nicht mehr zwingend | |
| für den Job unterwegs sein. Die Remote-Arbeit macht so vieles leichter. | |
| Eine Pflegerin im Krankenhaus muss allerdings zum Arbeitsplatz fahren. Nach | |
| den aktuellen Regelungen darf sie das bei einem positiven Coronatest nicht, | |
| fünf Tage Isolation sind derzeit noch vorgeschrieben. Trotzdem arbeiteten | |
| in Krankenhäusern auch schon Menschen, bei denen der Test noch positiv | |
| anschlägt. | |
| Etwa am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main, wo abgewogen wurde, was | |
| schlimmer sei: der Personalmangel oder eine mögliche Infektionskette. Mit | |
| Masken und getrennt verbrachten Pausen findet der Ärztliche Direktor Jürgen | |
| Graf das Arbeiten trotz Infektion vertretbar: „Natürlich unter | |
| Berücksichtigung der Freiwilligkeit.“ Klar, die meisten Menschen im | |
| Krankenhaus sind [3][ja bekanntlich so ausgeruht], dass sie gerne auf ein | |
| paar krankheitsbedingte freie Tage verzichten. | |
| Dass ausgerechnet FDP-Politiker*innen wieder fordern, alle Coronaregeln | |
| abzuschaffen, auf Eigenverantwortung pochen, um gleichzeitig wieder die | |
| „Arbeitstugend“ hochzujazzen, verwundert nicht. Das Weltbild, das wie immer | |
| dahintersteht, lautet: Ohne Fleiß, kein Preis. Arbeit ist wichtig, selbst | |
| wenn der Körper damit beschäftigt ist, eine Virusinfektion zu bekämpfen. So | |
| muss das sein in einer gut geölten Leistungsgesellschaft. | |
| Krankheitsausfälle sind zu vermeiden. | |
| Mit diesen Äußerungen stellen sich die FDPler*innen [4][gegen die Linie | |
| von Gesundheitsminister Karl Lauterbach], der twitterte: „Infizierte müssen | |
| zu Hause bleiben. Sonst steigen nicht nur die Fallzahlen, sondern der | |
| Arbeitsplatz selbst wird zum Sicherheitsrisiko.“ Kubicki und Co | |
| [5][unterstützen öffentlich den Kassenärtztechef Andreas Gassen], der in | |
| der Neuen Osnabrücker Zeitung verlauten ließ: „Wer krank ist, bleibt zu | |
| Hause. Wer sich gesund fühlt, geht zur Arbeit.“ Gassen forderte auch schon | |
| im September 2021 einen „Freedom Day“. | |
| War es nicht noch zu Anfang der Pandemie die gesamtgesellschaftliche | |
| Aufgabe, „[6][die vulnerablen Gruppen“ bestmöglich zu schützen?] Und zwar | |
| dadurch, dass wir Ansteckungen vermeiden? | |
| ## Die FDP dreht sich ihre Argumente zurecht | |
| Zu den Menschen, die vor einer Coronainfektion geschützt werden sollten, | |
| zählen weiterhin Kranke, Ältere, Menschen mit Behinderung. Das hat sich | |
| nicht geändert, denn es ist weiterhin gut möglich, dass auf diese Menschen | |
| eben nicht der „milde Verlauf“ wartet, sondern sie Personen sind, | |
| deretwegen die Zahl auf den Corona-Intensivstationen nach oben korrigiert | |
| werden muss. Diese Menschen schränken sich teilweise gerade durch die | |
| ohnehin schon hohen Infektionszahlen in ihrem alltäglichen Leben enorm ein. | |
| Denn Schutzmaßnahmen, wie Masken in Supermärkten, gelten schließlich nicht | |
| mehr. Ulf Dittmer, Virologe am Universitätsklinikum Essen, sagte der dpa, | |
| dass die Coronasommerwelle nicht gebrochen ist. „Weniger gut vor schweren | |
| Verläufen schützen können wir weiter Patienten, die stark immunsupprimiert | |
| sind, zum Beispiel Nierentransplantierte“, so Dittmer. | |
| Die Freiheit für alle, [7][auf die die FDP] mal wieder so pocht, bedeutet | |
| extreme Unfreiheit für andere. Und selbst wenn für viele eine | |
| Coronainfektion keine größeren gesundheitlichen Probleme bedeutet, wird | |
| durch mehr Infektionen auch die Zahl [8][an Long-Covid-Patient*innen] | |
| weiter steigen. | |
| Viele Menschen, die an Long Covid erkrankt sind, berichten von dauerhafter | |
| Erschöpfung, die es ihnen unmöglich macht, länger zu arbeiten. Damit fallen | |
| sie für die leistungsbesessene Gesellschaft durchs Raster. Einige verlieren | |
| dadurch ihre Jobs. Aber wer schaut schon da drauf? | |
| Im ersten Pandemiejahr faselten viele Politiker*innen noch von | |
| „[9][Chancen durch Entschleunigung]“, um Menschen den Lockdown | |
| schmackhafter zu machen. Runtergefahren war damals der ganze | |
| „Freizeitstress“ – also die Betätigung in Sportvereinen, das Treffen von | |
| Freund*innen, das Besuchen von Konzerten. Das sei vielleicht auch ganz | |
| gut für die Gesundheit, weniger Stress in der Freizeitplanung zu haben. | |
| Komisch eigentlich, dass die FDP das nie im Hinblick auf Arbeit sieht. | |
| Oder? | |
| 25 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=7Df3vRcoA50 | |
| [2] https://www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-fdp-politiker-kubicki-duscht-ue… | |
| [3] /Arbeitsbedingungen-in-der-Pflege/!5869272 | |
| [4] /Streit-um-Corona-Massnahmen-im-Herbst/!5869735 | |
| [5] /Streit-um-Corona-Massnahmen-im-Herbst/!5869735 | |
| [6] /Schutzmassnahmen-und-Corona-Pandemie/!5846605 | |
| [7] /Liberale-im-Regierungsalltag/!5859200 | |
| [8] /Bekaempfung-der-Coronapandemie/!5851966 | |
| [9] /Die-steile-These/!5718479 | |
| ## AUTOREN | |
| Linda Gerner | |
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