| # taz.de -- Liberale im Regierungsalltag: Was ist nur mit der FDP los? | |
| > Früher waren die Grünen für tendenziell irrationalen Oppositionssprech | |
| > zuständig, nun ist es die FDP. Dahinter steckt ein tieferes Problem. | |
| Bild: Christian Lindner, der Chef und ParteikollegInnen | |
| Welche Regierungspartei ist das, die meist nur sagt, was sie nicht will, | |
| fordert, was es gar nicht gibt und oft so tut, als gehöre sie gar nicht | |
| dazu, sondern spreche im Namen einer höheren Sache? Da hätte man doch bis | |
| vor wenigen Jahren gewettet, dass das nur unsere geliebten Grünen sein | |
| können. | |
| Tja, und nun sieht es manchmal so aus, [1][als hätten FDP und Grüne die | |
| Rollen getauscht]. Die zweiteren total aufgehend in der Regierungsrolle der | |
| staatspolitischen Verantwortung in schweren Zeiten, die ersteren | |
| gleichzeitig Teil der Regierungskoalition und auch Opposition. | |
| Was ist das Problem der FDP? Nicht, dass sie a priori blöd und „neoliberal“ | |
| ist, wie einige vermuten. Das ist Denkverweigerung. Auch nicht, dass sie | |
| wieder so schön „sozialliberal“ werden muss wie zu [2][Gerhart Baums] | |
| Zeiten. Das ist Nostalgie. You can’t go home again. Das aktuelle Problem | |
| ist, dass Konstruktivität nicht auf ihr Konto einzahlt, sondern von Teilen | |
| der eigenen Kundschaft übelgenommen wird. Und zwar deshalb, weil die FDP | |
| ihnen vorher hanebüchenes Zeug erzählt hat, von wegen, was sie alles in der | |
| Regierung machen würde. Also genau, wie das früher bei den Grünen war. | |
| Das tiefere Problem besteht darin, dass die neuen Denk- und Politikansätze | |
| dieser von Christian Lindner und Marco Buschmann erfundenen FDP von der | |
| Realität überholt wurden. Um es mit Daniel Cohn-Bendit zu sagen: „Politik | |
| ist die Fähigkeit, auf der Höhe dessen zu sein, was die Zeit als notwendig | |
| definiert – und das ist die FDP nicht.“ Zukunftspolitisch relevant ist | |
| weder die Freiheit mit 200 über die Autobahn zu gleiten, noch die Freiheit, | |
| das Coronavirus weiterzugeben, auch nicht der Benzinmotor und schon gar | |
| nicht eine Subventionierung („Tankrabatt“) der Mineralölkonzerne. | |
| Aber die FDP ist nun halt in der Schleife drin, in der die Grünen waren, | |
| bevor sie von Ministerpräsident Kretschmann und Vizekanzler Habeck zur | |
| mehrheitsfähigen Partei der neuen Mittelschicht umgeformt wurden. Sie haben | |
| neben Jungen ab 2015 auch konservative Ältere für sich gewonnen, denen die | |
| Merkel-Union fremd wurde. Deshalb [3][„kubickisieren“] sie nun immer | |
| wieder, wie Harald Welzer das nennt. Kubickisieren ist ein tendenziell | |
| irrationaler Oppositionssprech. Damit kann man Leuten aus der Seele | |
| sprechen, aber die Mehrheitsgesellschaft ist davon komplett genervt. Früher | |
| hieß das [4][„ClaudiaRothisieren“]. | |
| Der Aufstieg Habecks zum Leitbild der Regierungskoalition zeigt, dass es | |
| möglich ist, eine Mehrheit für eine rationale Politik zu gewinnen, die die | |
| Notwendigkeit koalitionärer Kompromissbildung, den Nachholzwang der | |
| Gegenwart und die Verpflichtung zu Zukunftspolitik zusammenbringt. | |
| Selbstverständlich ist es Luisa Neubauers Job, darauf hinzuweisen, dass der | |
| sozialökologische Fortschritt noch zu gering ist. Aber es ist längst nicht | |
| mehr der klima- und sicherheitspolitische Merkel-Scholz-Backlash des | |
| letzten Jahrzehnts. | |
| Die Frage ist nun, ob man diesen Ansatz von real-rationaler Politik | |
| voranbringen kann. Dazu braucht es Regierungsmitglieder, die die | |
| Widersprüche der Realität nicht beschweigen (Scholz), beklagen (Lauterbach) | |
| oder für Parteizwecke nutzen wollen (FDP), sondern die im ernsthaften | |
| Umgang damit nachhaltige gesellschaftliche Mehrheiten für neue und | |
| funktionierende Politik gewinnen. | |
| Oder kann das, lieber Christian Lindner, wirklich nur Robert Habeck? | |
| 18 Jun 2022 | |
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| [1] /Uebergewinnsteuer-und-die-FDP/!5857753 | |
| [2] https://gerhart-baum.de/ | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=9KY7HnN8oS4 | |
| [4] https://claudia-roth.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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