# taz.de -- Enteignungsvolksentscheid in Berlin: Eine Million gegen Deutsche Wo… | |
> Die Berliner:innen haben dafür gestimmt, Deutsche Wohnen & Co zu | |
> enteignen. Doch setzt SPD-Wahlsiegerin Giffey die Forderung auch um? | |
Bild: Jubel am Wahlabend: Mit dem überwältigenden Erfolg hat kaum jemand gere… | |
BERLIN taz | Hunderte Aktivist:innen ziehen in kleineren Gruppen | |
feiernd durch Neukölln. „Deutsche Wohnen enteignen“ singen sie und | |
schwenken die riesigen lila-gelben Fahnen der Bewegung. „Es ist einfach | |
unglaublich“, sagt einer, der seit 2018 in der Initiative aktiv ist, die | |
eine Vergesellschaftung von Wohneigentum aufrief. Er könne noch gar nicht | |
fassen, dass das Volksbegehren tatsächlich erfolgreich war. Für ihn und | |
viele andere ist heute der Zahltag für die nervenaufreibende und | |
zeitintensive aktivistische Arbeit der vergangenen dreieinhalb Jahre. | |
Vorbeifahrende Autos hupen, als würde hier eine Hochzeitskolonne | |
vorbeiziehen. Spätibesitzer:innen und Menschen an Imbissen jubeln den | |
Aktivist:innen zu. „Scheiß auf die Deutsche Wohnen!“, ruft eine Gruppe | |
Jugendlicher, die Aktivist:innen applaudieren. Die Stimmung ist | |
aufgeladen mit revolutionärer Energie: Erstmals scheint das große Ziel, | |
einen beachtlichen Teil des Berliner Wohnraums ein für alle Mal dem Markt | |
zu entziehen, zum Greifen nahe. | |
Das Ergebnis des Volksentscheids kommt einem Erdrutsch gleich. Gingen | |
Umfragen im Vorfeld nur von einem knappen Vorsprung aus, ist der Sieg jetzt | |
ein großer. 56,4 Prozent der Wähler*innen haben für die Enteignung | |
gestimmt, 39,0 Prozent dagegen. In zehn von zwölf Bezirken liegt die | |
Initiative vorn, sowohl in der Innenstadt als auch den Außenbezirken. | |
Nur ganz im Westen, in Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf, hat es knapp | |
nicht gereicht. Dagegen stimmten in Friedrichshain-Kreuzberg, jenem | |
Ost-West-Bezirk, der von den Mietsteigerungen des letzten Jahrzehnts | |
besonders betroffen ist, 72,4 Prozent für die Enteignung. Mit mehr als | |
einer Million Wähler:innenstimmen vereinigt DW enteignen fast dreimal | |
so viel Stimmen auf sich wie die Wahlsiegerin SPD. | |
Der nächste Senat ist durch den Entscheid aufgefordert, alle Maßnahmen | |
einzuleiten, die zur Vergesellschaftung der Bestände von privaten | |
Wohnungskonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen in der Stadt führen. Weil | |
der Volksentscheid nicht selbst ein Gesetz zur Grundlage hat, soll dieses | |
durch die Regierung erarbeitet werden. Bindend ist das allerdings nicht. | |
Laut Beschlusstext soll der Wohnraum künftig „von Belegschaft, | |
Mieter:innen und Stadtgesellschaft“ demokratisch selbstverwaltet werden. | |
Eine spätere Reprivatisierung soll ausgeschlossen und eine Entschädigung | |
„deutlich unter Verkehrswert“ gezahlt werden. | |
Am Montagmittag hat die Initiative in ein Geflüchtetencafé in Nord-Neukölln | |
– in diesem Wahlbezirk haben 85 Prozent mit „Ja“ gestimmt – zur | |
Pressekonferenz geladen. Die Namensschilder sind handgeschrieben, anfangs | |
gibt es Technikprobleme, auf die Sprecher:innen Rouzbeh Taheri und Jenny | |
Stupka sind mehrere Kameras gerichtet; Taheri setzt heiser an, auch für ihn | |
war es eine lange Nacht – „schön, aber anstrengend“, wie er sagt. | |
Taheri, der schon vor vier Jahren an den ersten Überlegungen für eine | |
Enteignungskampagne beteiligt war, spricht von einem „eindeutigen Auftrag“. | |
Der nächste Senat müsse ein Gesetz zur Vergesellschaftung erarbeiten, es | |
gebe „nichts daran zu deuteln“. Ebenso sei der Entscheid „nicht zu | |
benutzen, um andere Maßnahmen einzuleiten“. | |
## Giffey auf der Bremse | |
Die Initiative geht damit in die Offensive insbesondere gegen SPD und | |
Grünen. Erstere Partei, zumindest ihre Spitzenkandidatin Franziska Giffey, | |
hatte sich [1][im Wahlkampf explizit gegen die Vergesellschaftung] | |
ausgesprochen – am Montag signalisierte sie erneut ihren Willen, den | |
Volksentscheid zu torpedieren. Während einer Pressekonferenz erklärte sie | |
zwar, man müsse „verantwortungsvoll und respektvoll“ mit dem Votum umgehen, | |
sie finde aber, dass der Entscheid einer „sehr, sehr ernsthaften Prüfung“ | |
hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit und Finanzierbarkeit unterzogen werden | |
müsse. „In dieser Abwägung müssen wir am Ende entscheiden“, wie mit dem | |
„Appell“ – wie Giffey den Volksentscheid nannte – umzugehen sei. | |
Die Grünen hatten [2][vor der Wahl rumgeeiert]. Einerseits hatte | |
Spitzenkandidatin Bettina Jarasch erklärt, sie werde mit „Ja“ stimmen, | |
anderseits hatte sie Enteignungen als „Ultima Ratio“ bezeichnet und | |
stattdessen einen „Mietenschutzschirm“ vorgeschlagen – eine Vereinbarung | |
mit den Unternehmen, Mieten nicht zu stark zu erhöhen. | |
An dieser Position hat offenbar auch das deutliche Ergebnis nichts | |
geändert. Am Montag erklärte der Landesvorsitzende der Grünen, Werner Graf, | |
er freue sich über den Erfolg, es gebe aber noch „viele rechtliche und | |
praktische Fragen zu klären“. Faktenwidrig sagte er, das Ziel des | |
Volksentscheids sei lediglich ein gemeinwohlorientierter Wohnungsmarkt. Für | |
dieses Ziel habe die Partei bereits ein Konzept entwickelt, auf deren Basis | |
man in Koalitionsverhandlungen treten werde. | |
Rückendeckung erhält die Kampagne von der Linken. Deren Landesvorsitzende, | |
Katina Schubert, sagte der taz, der Volksentscheid habe dem kommenden Senat | |
„die klare Hausaufgabe auf den Weg gegeben, die Sozialisierung | |
vorzunehmen“. Unter den Wähler*innen müssten auch viele | |
Sozialdemokrat:innen gewesen sein. „Wenn die SPD versucht, die | |
Umsetzung zu torpedieren, werden wir dagegenhalten“, so Schubert. „Wir | |
können und dürfen das Votum von einer Million Berliner:innen nicht | |
ignorieren.“ | |
## Rechtliches Neuland | |
Die Initiative kündigte an, Sondierungsgespräche und | |
Koalitionsverhandlungen eng begleiten zu wollen. Auch einen Gesetzentwurf | |
hat sie mittlerweile erarbeitet. Bei Einleitung des Volksbegehrens hätte | |
das noch ihre Kapazitäten gesprengt. Taheri sagt, den Entwurf werde man | |
„der neuen Regierung zur Verfügung stellen“. Dann könne man gemeinsam | |
„durchgehen, was man ändern, präzisieren oder ergänzen muss“. Ein Gesetz | |
könnte in vier, fünf Monaten ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden, so | |
Taheri. | |
Wahrscheinlich ist es allerdings nicht, dass es so schnell geht. Immerhin | |
soll rechtliches Neuland betreten werden. Grundlage für das Vorhaben ist | |
der Artikel 15 des Grundgesetzes, der damit erstmals zur Anwendung kommen | |
würde. Während Enteignungen einzelner Grundstücke – etwa für den Ausbau v… | |
Kohlekraftwerken oder Autobahnen – in Artikel 14 geregelt sind, können | |
durch Artikel 15 „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in | |
Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt | |
werden“. | |
Schon wegen der Bezugnahme auf diesen Artikel ist der Sieg des | |
Volksentscheids historisch. Zwar war eine gemeinwirtschaftliche Verwaltung | |
von Wohnraum in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu den neoliberalen | |
Reformen der 1990er Jahre eher die Regel als die Ausnahme. Dass eine | |
Regierung Teile des Marktes durch großangelegte Vergesellschaftung beenden | |
soll, ist dennoch ein Novum. | |
Gut möglich, dass eine Gutachtenschlacht darüber folgt, ob eine | |
Vergesellschaftung rechtmäßig und verhältnismäßig ist. Schon jetzt gibt es | |
sieben Gutachten, die das bejahen, etwa der wissenschaftliche Dienst des | |
Abgeordnetenhauses, des Bundestags und drei vom Senat beauftragte | |
Gutachten. Dagegen stehen drei Gutachten – allesamt von der Immobilienlobby | |
beauftragt –, die zu einem gegenteiligen Schluss kommen. Womöglich wird die | |
Debatte über den Umgang mit dem Entscheid und das juristische Gezerre | |
Berlin die nächsten Jahre beschäftigen. | |
## Die Initiative gibt sich angriffslustig | |
Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm, ein bisschen Spiritus Rector der | |
Mieter:innenbewegung, wertete den Entscheid gegenüber der taz als ein | |
„Statement für einen grundlegenden Wechsel der Wohnungspolitik“. Die | |
Mehrheit der Berliner:innen habe erkannt, „dass von der privaten und | |
gewinnorientierten Wohnungswirtschaft keine Lösung für die soziale | |
Wohnversorgung zu erwarten ist“. | |
Ebenso machte Holm einen Vorschlag, wie es nun weitergehen könnte: „Da fast | |
alle Parteien die Forderung ablehnen oder mit ihr fremdeln, wäre es ein | |
demokratisches Bekenntnis, eine überparteiliche Sozialisierungskommission | |
unter Einbeziehung der Initiative einzusetzen, die von der Regierung | |
beauftragt wird, ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten.“ | |
Die Initiative gab sich derweil angriffslustig. Sprecherin Jenny Stupka | |
betonte, man sei „kampferprobt“. Ein Ass im Ärmel gebe es auch: Die | |
Initiative könne jederzeit ein neues Volksbegehren, dann mit ihrem | |
konkreten Gesetzestext, auf den Weg bringen. Gleichwohl betonte sie, schon | |
jetzt habe man „die großen Wohnungskonzerne ein Stück weit gezähmt“. Dies | |
beobachte man in ihrer Kommunikation mit den Mieter:innen und ihrer | |
Akzeptanz bestimmter Bedingungen der Politik. | |
Doch die Spekulation auf Berlins Wohnungsmarkt geht weiter. So versucht | |
sich [3][Vonovia weiter an der Übernahme der Deutschen Wohnen]. Noch | |
während der Stimmauszählung am Sonntag wurde bekannt, dass der schwedische | |
Immobilienkonzern Heimstaden 17.600 Wohnungen des Immobiliengiganten | |
Akelius in Berlin und Hamburg kaufen will. Taheri kommentierte den Deal: | |
„Die haben ihr Geschäft gemacht mit unseren Wohnungen, jetzt kommt der | |
nächste Spekulant.“ Mit dem Volksentscheid aber habe man nun endlich das | |
Mittel, diese Spekulation zu beenden. | |
27 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vergesellschaftung-von-Wohnungen/!5799721 | |
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[3] /Uebernahme-Deutsche-Wohnen-durch-Vonovia/!5786331 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
Erik Peter | |
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