| # taz.de -- Deutsche Wohnen & Co enteignen: Radikales Ziel, realistischer Weg | |
| > Am 26. September wird in Berlin über die Vergesellschaftung von 240.000 | |
| > Wohnungen abgestimmt. Wie wurde ein linkes Thema zur Massenkampagne? | |
| Bild: So niedlich kann Enteignung aussehen: die Cheerleading-Gruppe der Kampagne | |
| An einem trüben, regnerischen Nachmittag wenige Tage vor der Wahl stehen | |
| Kasper, Josi und Jonas vor dem „Langen Jammer“, einem 340 Meter | |
| langgezogenen Wohngebäude in der Ringsiedlung Siemensstadt in | |
| Berlin-Spandau. Die drei haben sich lilafarbene Westen übergestreift, auf | |
| Brust und Rücken ist der Aufdruck [1][Deutsche Wohnen & Co enteignen] zu | |
| lesen. Sie sind durch die halbe Stadt gefahren, um hier ganz im Nordwesten | |
| bei Haustürgesprächen für den Volksentscheid zu werben, der Berlin | |
| verändern und dessen Strahlkraft [2][weit über die Stadt hinaus reichen | |
| soll]. | |
| Jonas Becker, ein 29-jähriger Volkswirt, der sich seit einem Jahr | |
| engagiert, hat stapelweise Flyer und Türanhänger mitgebracht und eine | |
| Karte, auf der all die Häuser markiert werden, die von den | |
| Aktivist*innen besucht werden. Mit 3.600 Wohnungen ist die | |
| Siemensstadt, die vor knapp einhundert Jahren im Stile der Moderne für die | |
| Arbeiter*innen der Siemenswerke errichtet wurde, die größte Siedlung | |
| der Deutschen Wohnen – des größten privaten Players auf Berlins | |
| Wohnungsmarkt. | |
| Becker verteilt die Materialien und teilt die Gruppe auf, um sich das Haus | |
| von zwei Seiten vorzunehmen. Er selbst, der täglich für die Kampagne | |
| arbeitet, zieht alleine los. Spaß sei dabei nicht mehr sein erster Antrieb | |
| – „mittlerweile muss es sein“. Die Gespräche sind für Becker „demokra… | |
| Aufklärungsarbeit“, viele Wähler*innen wüssten noch immer nicht, dass | |
| sie am 26. September die Wahl haben zwischen „Ja“ und „Nein“, dass sie | |
| abstimmen können über die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten | |
| Konzerne mit mehr als 3.000 Objekten in der Stadt – insgesamt etwa 240.000 | |
| Wohnungen von einem Dutzend Unternehmen. Dabei allerdings steht kein | |
| konkretes Gesetz zur Abstimmung, sondern ein Appell an den Senat, selbst | |
| ein Vergesellschaftungsgesetz auf den Weg zu bringen. | |
| Dass es zu dem Volksentscheid kommt, geht auf die Arbeit von mehr als 2.000 | |
| Aktiven in 16 Kiezteams zurück, die im Frühjahr zu Pandemiezeiten über | |
| 350.000 Unterschriften gesammelt haben, mehr als doppelt so viele, wie | |
| benötigt wurden. Zugleich ist das die Unterstützung von mehr Menschen, als | |
| die SPD bei ihrem Wahlsieg in Berlin 2016 an Wähler*innen hatte. Dabei | |
| grenzt das Vorhaben an eine Revolution: Erstmals in der Geschichte der | |
| Bundesrepublik soll der Grundgesetzartikel 15 zur Anwendung kommen, der die | |
| Vergesellschaftung von „Grund und Boden, Naturschätzen und | |
| Produktionsmitteln“ gegen Entschädigung regelt, auf dessen Grundlage also | |
| ganze Wirtschaftsbereiche in Gemeineigentum überführt werden können. | |
| ## Ein Gesicht der Kampagne | |
| Im Kampagnenbüro auf dem Dragonerareal in Kreuzberg, einem ehemaligen | |
| Kasernengelände, sitzt Rouzbeh Taheri zwischen Bergen von gelben | |
| Werbemitteln. Der 47-Jährige ist seit den ersten Überlegungen zu einem | |
| Enteignungsvolksbegehren vor vier Jahren eines der Gesichter der Kampagne. | |
| In diesen Wochen arbeitet er in Vollzeit auf einer aus Spenden finanzierten | |
| halben Stelle. | |
| Er koordiniert, beantwortet Fragen am Telefon und in 18 Telegram-Gruppen, | |
| bestellt Materialien, macht Pressearbeit, nimmt an sechs Sitzungen pro | |
| Woche und mindestens einer öffentlichen Veranstaltung teil. Taheri weiß, | |
| wie Wahlkampf funktioniert. 2006 leitete er die Kampagne der | |
| Wahlalternative (WASG), die in Berlin trotz bundesweiter Kooperation gegen | |
| die damalige PDS antrat. Diese hatte zuvor in der rot-roten Regierung | |
| 65.000 Wohnungen verkauft, die später an die Deutsche Wohnen übergingen. | |
| Taheri ist erschöpft, sehnt sich nach dem Wahlabend. Einerseits. | |
| Andererseits lodert es in ihm: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland | |
| die großen Konzerne angegriffen werden und ihnen ihre wirtschaftliche | |
| Machtgrundlage genommen wird.“ Er sieht die Bedeutung weit über Berlin | |
| hinaus: „Wenn wir Erfolg haben, wird das weltweit Nachahmer finden.“ In | |
| Betracht kämen „alle Bereiche der öffentliche Daseinsvorsorge, alle | |
| Quellen, die Menschen brauchen, um würdig leben zu können“. | |
| Wie aber konnte es so weit kommen? Wie wurde aus einer Idee, die in kleinen | |
| Zirkeln von Mieterinitiativen und linken Gruppen kursierte, [3][die | |
| erfolgreichste Massenkampagne, die Berlin je gesehen hat]? Taheri hat schon | |
| häufiger darüber nachgedacht und muss dennoch wieder ein paar Momente | |
| überlegen: „Unser Ziel ist radikal, aber unser Weg ist realistisch.“ | |
| ## Richtige Zeit, richtige Stadt | |
| Mit einem Volksentscheid blieben sie streng auf dem legalistischen Weg; | |
| versetzen dem System einen Schlag mit seinen eigenen Mitteln. Taheri sagt: | |
| „Die objektive Grundlage war die Existenz einer starken Mieterbewegung und | |
| das schlechte Image der Deutschen Wohnen.“ Dazu kam der subjektive Faktor, | |
| „ein paar Leute, die gesagt haben, wir machen das jetzt, und das auch | |
| durchgezogen haben“. Für die Kampagne sei es „die richtige Zeit und die | |
| richtige Stadt“ gewesen. | |
| Bei Jonas Becker in der Siemensstadt geht die erste Wohnungstür auf und | |
| nach einem knappen „Interessiert mich nicht“ gleich wieder zu. Becker aber | |
| lässt sich nicht entmutigen, geduldig und freundlich arbeitet er sich durch | |
| die teils renovierungsbedürftigen Treppenhäuser. Sobald eine Tür aufgeht, | |
| sagt er: „Hallo, ich bin Jonas und mache Wahlkampf für Deutsche Wohnen | |
| enteignen.“ | |
| Eine Frau mittleren Alters schaut erst skeptisch, dann greift sie nach dem | |
| Flyer: „Ick nehm dit erst mal.“ Becker fragt sie nach ihrer Wohnsituation: | |
| „Ganz okay“, antwortet sie, die Deutsche Wohnen habe alle bestehenden | |
| Strukturen mit Hausmeistern und Technikern übernommen; auch die | |
| Mieterhöhungen seien nicht dramatisch. Aber grundsätzlich seien die | |
| steigenden Mieten schon ein Problem. Dann sagt sie: „Aber Enteignungen | |
| kosten ja och.“ Becker entgegnet: „Wir kaufen ja nicht, wir enteignen. Und | |
| die Entschädigung zahlen wir aus den Mieteinnahmen.“ | |
| Jetzt ist seine anfangs skeptische Gesprächspartnerin dabei, erzählt, dass | |
| sie den Wahl-O-Mat gemacht habe mit dem Ergebnis: „Ick bin ja ne Linke, war | |
| janz überrascht.“ Zum Abschied wünscht sie viel Glück. Auch an den | |
| Nachbartüren darf Becker sich und die Kampagne vorstellen. In den kurzen | |
| Momenten wird dann aus einer für viele abstrakten Frage etwas Greifbares. | |
| Ein sympathisches Gespräch, eine Bitte um ein Ja – und ein Infoflyer | |
| obendrauf. | |
| ## Knappe, aber stabile Mehrheit | |
| Zwei aktuelle Umfragen aus dem August und aus dieser Woche sehen [4][eine | |
| knappe, aber stabile Mehrheit für die Initiative], die auf Zustimmungswerte | |
| von 47 bis 50 Prozent kommt, während 43 Prozent das Vorhaben ablehnen. | |
| Taheri sagt: „Ich bin nicht mehr besorgt, dass wir haushoch verlieren.“ Er | |
| erzählt, wie erst in Gesprächen mit Menschen von außerhalb der Stadt | |
| auffällt, wie sehr sich „die Diskussion in Berlin bereits verschoben“ habe. | |
| Hier müsse selbst der CDU-Spitzenkandidat für eine schärfere | |
| Mietpreisbremse und Maßnahmen gegen Bodenspekulation plädieren. | |
| Den Gegner*innen ist es nicht gelungen, eine schlagkräftige Strategie | |
| gegen das Volksbegehren zu entwickeln. „Erst haben sie uns ignoriert, dann | |
| unterschätzt, nun sind sie immer einen Schritt hinter uns“, sagt Taheri | |
| über die Immobilienlobby und deren Verbündete in der Politik. Zu schaffen | |
| macht der Kampagne jedoch ein absurder Vorwurf: Mit Unterstützung der CDU | |
| warnen Genossenschaften ihre Mieter*innen, dass auch sie von der | |
| Vergesellschaftung betroffen sein können. | |
| ## Streitpunkt Entschädigungshöhe | |
| Dabei kann ein Vergesellschaftungsgesetz nichtprofitorientierte Unternehmen | |
| ausnehmen – was die Initiative auch stets betont. Der zweite große | |
| Streitpunkt ist die Entschädigungshöhe. Die Gegner*innen versuchen zu | |
| vermitteln, dass das Vorhaben mehr als 30 Milliarden Euro koste – mehr, als | |
| Berlins Jahreshaushalt umfasst – und damit kein Geld mehr für anderes da | |
| wäre. Doch sicher ist nur: Die Entschädigungshöhe muss die Interessen der | |
| enteigneten Unternehmen sowie der Allgemeinheit berücksichtigen und wird | |
| damit in jedem Fall deutlich unter dem Marktwert liegen. | |
| Die aufzunehmenden Schulden für die Entschädigung will die Initiative | |
| langfristig aus den Mieteinnahmen tilgen – genauso wird auch der Rückkauf | |
| von 15.000 Wohnungen durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften von | |
| Vonovia und der Deutschen Wohnen gestemmt, den Berlin in diesen Tagen | |
| abwickelt. | |
| ## „Langen Atem haben“ | |
| Politisch unterstützt wird die Initiative nur von der Linken. Die Grünen | |
| wollen einen erfolgreichen Entscheid als Druckmittel für Gespräche mit den | |
| Immobilienfirmen nutzen; SPD-Spitzenkandidatin [5][Franziska Giffey schießt | |
| bei jeder Gelegenheit dagegen]. Für Koalitionsverhandlungen erklärte sie | |
| Enteignungen gar zur „roten Linie“, inzwischen wolle sie den Auftrag, ein | |
| Gesetz zu erlassen, aber zumindest juristisch überprüfen lassen. | |
| Viel spricht dafür, dass sie hofft, das Vorhaben in einer konservativen | |
| Koalition abräumen zu können. Taheri sagt, eine Regierung aus SPD, CDU und | |
| FDP würde „fünf Jahre lang die Hölle auf Erden erleben“. Die Initiativen | |
| der Stadt würden sich nicht mehr zurückziehen. In der Kampagne werden | |
| bereits die Möglichkeiten diskutiert, sollte der nächste Senat das Gesetz | |
| nicht auf den Weg bringen: ein neuer Volksentscheid, diesmal mit einem | |
| eigenen Gesetzentwurf, oder gar ein Abwahlvolksentscheid gegen die kommende | |
| Regierung. Taheri lehnt sich zurück und sagt: „Wir müssen einen langen Atem | |
| haben.“ | |
| 22 Sep 2021 | |
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