# taz.de -- Berliner Volksentscheid und die Folgen: Klares Mandat – und was n… | |
> Eine Mehrheit in Berlin ist für die Vergesellschaftung großer | |
> Wohnungskonzerne. Fast alle Parteien winken ab. Was bedeutet das für die | |
> Demokratie? | |
Bild: Auf einer Party beklatschen Wahlhelfer:innen den Erfolg ihrer Kampagne �… | |
BERLIN taz | Dass die Berliner:innen dafür gestimmt haben, | |
Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen & Co zu enteignen, ist historisch: | |
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik soll ein beachtlicher Teil | |
des Berliner Wohnraums der kapitalistischen Verwertung entzogen und wieder | |
gemeinwirtschaftlich verwaltet werden. Hierfür gibt es nun eine absolute | |
Mehrheit und damit ein klares Mandat der Bevölkerung. | |
Allerdings lehnen fast alle Parteien das Vorhaben ab. Die mutmaßlich | |
nächste Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), wetterte schon vor der | |
Wahl gegen Enteignungen; nun schiebt sie rechtliche Bedenken vor, obwohl | |
etliche wissenschaftliche Gutachten dem entgegenstehen. Für CDU, FDP und | |
AfD ist demokratische Vergesellschaftung ohnehin nichts als kommunistische | |
Barbarei – und die Grünen wollen die Immobilienkonzerne lediglich zur | |
Selbstverpflichtung bewegen. Einzig und allein die Linken unterstützen das | |
Anliegen tatsächlich konsequent. | |
Es ist höchst fragwürdig, dass keine Partei, die das Anliegen vor der Wahl | |
abgelehnt hat, seither von ihrer Position abgerückt ist. Denn jeder | |
Volksentscheid ist – selbst wenn rechtlich nicht bindend – ein Beschluss | |
des höchsten demokratischen Souveräns. Auch rein quantitativ hat der | |
Volksentscheid eine höhere demokratische Legitimation als alle | |
Antienteignungsparteien zusammen: So haben insgesamt 994.129 Menschen für | |
SPD, CDU, FDP und AfD gestimmt – für den Volksentscheid dagegen 1.034.709 | |
Menschen. | |
Mit ihrer Ablehnung wenden sich die Parteien auch gegen ihre eigenen | |
Anhänger:innen. Schon rein rechnerisch ergibt sich bei 1,8 Millionen | |
Wählenden, dass jede Partei Enteignungsfans in ihrer Wählerschaft hat. | |
Statistisch erfasst wurde dies am Wahltag nicht. Umfragen im Vorfeld | |
ergaben aber, dass selbst 21 Prozent der CDU-, 28 Prozent der FDP- und | |
sogar 38 Prozent der AfD-Wähler:innen mit Enteignung sympathisieren. | |
## Regelrecht schizophren!? | |
Doch warum wählen Menschen, die für Enteignungen sind, nicht einfach die | |
Linkspartei? Ist es nicht regelrecht schizophren, die neoliberale FDP zu | |
wählen, gleichzeitig aber die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen zu | |
fordern? | |
Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung sagt: Nein, | |
nicht unbedingt. Bei der Wahl einer Partei würden sich Menschen „für ein | |
Gesamtpaket“ entscheiden, das nicht nur aus Politikinhalten, sondern auch | |
aus einem „Werteangebot“ bestehe. „Man kann FDP wählen, weil man sie für | |
eine Partei der Bürger- und Menschenrechte hält, aber dennoch kein Problem | |
damit haben, dass der Staat in die Wirtschaft eingreift“, sagt Teune. | |
Die Berliner Linke wird dennoch von ihrer Unterstützung des Volksentscheids | |
profitiert haben. Denn offensichtlich gelang es ihr, dem Bundestrend zu | |
trotzen. Während sie im Bund um fast 47 Prozent einbrach, verlor sie in | |
Berlin nur um knapp 10 Prozent. Die Gründe dafür werden aber wohl | |
komplexer als das „Ja“ zum Volksentscheid sein. Nicht nur wählt Berlin | |
traditionell linker als andere Bundesländer, hier hat die Linke in den | |
letzten Jahren auch seriös regiert. Auf Bundesebene wirkte die Partei | |
dagegen häufig zerstritten und rechthaberisch – es handelte sich also um | |
eine jeweils völlig andere Ausgangslage. | |
Deutsche Wohnen & Co enteignen war dagegen wohl auch erfolgreich, weil es | |
der Initiative gelang, kein aktivistischer Arm der Partei zu werden, | |
sondern konsequent Bewegung zu bleiben. Der Initiative gelang es, eine | |
echte Graswurzelbewegung aufzubauen. Über 2.000 Aktivist:innen | |
sammelten Unterschriften in allen Kiezen der Stadt und klingelten sich | |
mühsam von Haustür zu Haustür. Sie waren dort, wo Politiker:innen | |
selten sind – und holten die Bevölkerung mit einem radikalen, aber | |
realistischen Ziel ab. | |
## Politischen Druck ausüben | |
Doch nun muss sich die Initiative neu erfinden. Statt Wähler:innen zu | |
überzeugen, muss sie politischen Druck auf Parteien ausüben, die wiederum | |
versuchen werden, den Volksentscheid zu verschleppen. Das Argument, dass | |
hierfür neuerdings vorgebracht wird, lautet: Es sei den Berliner:innen | |
ja gar nicht wirklich um Enteignung gegangen. Vielmehr handele es sich um | |
ein grundsätzliches Votum für mehr gemeinwohlorientierten Wohnraum. | |
Doch Wahlergebnisse im Nachhinein zurechtzuinterpretieren ist für die | |
Demokratie gefährlich – insbesondere, wenn dies im Interesse einiger | |
Konzerne geschieht. Völlig von der Hand zu weisen ist das Argument aber | |
wohl nicht. Auch Teune sagt: „Sicher wären viele Wähler:innen nicht | |
böse, wenn das Ziel bezahlbarer Wohnraum über einen anderen Weg erreicht | |
wird.“ | |
Doch welcher Weg könnte das sein? „Ich kann mir keinen alternativen | |
Maßnahmenkatalog vorstellen, der die Situation nachhaltig verbessert“, sagt | |
Kalle Kunkel von der Initiative. Vermutlich wird wohl tatsächlich ein | |
Runder Tisch kommen, wie er von den Grünen vorgeschlagen wird. Doch der | |
Druck der Immobilienkonzerne, möglichst dicke Renditen für die | |
Aktionär:innen zu erwirtschaften, bleibt bestehen. Die Politik wiederum | |
könnte zwar hier und da noch nachjustieren, doch langsam sind die Maßnahmen | |
auf Landesebene auch ausgereizt. Und das Ganze würde zudem Rot-Grün-Rot | |
erfordern. | |
Letztlich wird die Initiative den nötigen Druck erzeugen müssen, um die | |
Vergesellschaftung umzusetzen. Die Linken werden sie unterstützen, doch um | |
sich durchzusetzen, fehlt ihr die Kraft. „Wir beginnen mit einer intensiven | |
Wahlauswertung. In den meisten Wahlbezirken haben wir eine Mehrheit | |
errungen, das müssen wir die jeweiligen Abgeordneten spüren lassen“, so | |
Kunkel über die Strategie der Initiative. Inzwischen hat sie auch einen | |
konkreten Entwurf für ein Vergesellschaftungsgesetz erarbeitet, den sie der | |
Politik zur Verfügung stellen will. „Wenn der politische Wille da wäre, | |
könnte in den nächsten Monaten ein Gesetz verabschiedet werden.“ | |
Kunkel geht aber nicht davon aus. Intern würde gerade ein Zeitplan für die | |
„Eskalationsperspektive“ erarbeitet. Möglich wäre etwa, eine Deadline zu | |
setzen. Auch ein weiterer Volksentscheid – dieses Mal mit bindendem | |
Gesetzesvorhaben – sei „eine Variante“. Seine Hoffnung ist das | |
demokratische Gewissen der Politik. Und seine Warnung: „Wenn sich die | |
Parteien dem Auftrag des demokratischen Souveräns widersetzen, werden sie | |
ganz neue Legitimationsverluste erleiden.“ | |
Der Text ist Teil eines vierseitigen Schwerpunktes zur Berlin-Wahl 2021 auf | |
den taz berlin-Seiten der Print-Ausgabe der taz am wochenende vom 2./3. | |
Oktober 2021. | |
2 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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