# taz.de -- Ministerium für Digitales: Der Quatsch mit dem Querschnitt | |
> Ein Ministerium für digitale Transformation muss her. Die Vorstellung, | |
> dass beim Internet alle mitdenken, ist illusorisch. | |
Bild: Ministerium für Digitales? In Deutschland bisher noch eine utopische Vor… | |
Als [1][Alexander Dobrindt], erster Bundesminister für Verkehr und digitale | |
Infrastruktur, 2013 sein Amt antrat, wurde er gerne vorgestellt als Mann | |
für die Netze. Gemeint war: das Straßen- und das Schienennetz und – haha, | |
das Internet. Letzteres wurde meist intoniert wie ein joviales | |
Sich-gegenseitig-auf-die-Schuler-Klopfen: Seht her, was sind wir | |
fortschrittlich. | |
Wir haben jetzt ein Ministerium, das sich ganz offiziell ums Internet | |
kümmert – und das zum damaligen Zeitpunkt nur rund 20 Jahre nach dem Start | |
des WWW, also des immer noch Standards setzenden Konzepts dessen, was wir | |
heute als Internet verstehen, mit Webseiten und Links. | |
Dass sich das erste Andocken der Digitalisierung auf | |
Bundesministeriumsebene ausgerechnet des Segments Infrastruktur annahm, ist | |
sicher kein Zufall, sondern Symptom dessen, wie das Internet gerade in den | |
tonangebenden konservativen Politiker:innenkreisen – abgesehen | |
natürlich von einem phänomenalen Überwachungsinstrument – immer noch | |
verstanden wird: | |
Als eine technische Infrastruktur, die man mit ein paar Pilotprojekten hier | |
und ein bisschen Förderung da zumindest so weit in den Griff kriegen kann, | |
dass es am Ende der Legislatur für etwas Eigenlob reicht. Und klar, | |
Netzinfrastruktur ist wichtig. Aber das Internet hört doch nicht da auf, wo | |
es zu Hause aus dem Router oder unterwegs aus der SIM-Karte kommt. Im | |
Gegenteil: Es fängt da gerade erst an. | |
In der Politik ist in solchen Fällen dann gerne von Querschnittsressorts | |
die Rede. Themen quasi, die alle mitdenken sollen, weshalb es kein eigenes | |
Ministerium dafür brauche. Und auf den ersten Blick mag das schlüssig | |
klingen: Digitalisierung – ist das nicht alles? Ist das nicht genauso | |
Verbraucherschutz wie Agrar, nicht genauso Bildung wie Verkehr, Energie wie | |
Gesundheit? | |
## Mangel an Kompetenz und Durchsetzungkraft | |
Geht es nicht um [2][Tracking im Internet] genauso wie um vernetzte | |
Landmaschinen, um [3][digitalen Unterricht] ebenso wie um | |
[4][selbstfahrende Autos], um [5][Smart Meter] für die Energieversorgung | |
wie um die elektronische Patientenakte? Klar. Tatsächlich betrifft die | |
Digitalisierung sämtliche Lebensbereiche und damit auch sämtliche | |
politischen Ressorts. Und dann schließt sich leider ein Denkfehler an. | |
Nämlich dass, was alle mitbetrifft, auch schon mitgedacht würde. | |
Dass mitdenken mitunter das Gegenteil von daran denken ist, weiß, wer sich | |
zum Beispiel schon mal mit [6][Inklusion] oder Genderthemen befasst hat. | |
Und auch bei der Digitalisierung ist offensichtlich: Das kann nur schief | |
gehen. Denn allein ein Ressortzuschnitt wie Verkehr birgt mehr | |
Binnenkonflikte, als sich harmonisch lösen lassen. Wer oder was soll denn | |
nun Priorität haben: Lkws oder Schienengüterverkehr? Wege für Autos oder | |
für Radfahrende? Klimaschutz oder individuelle Freiheit? | |
Interessen der Industrie oder Belange des Naturschutzes? Wie sollen es da | |
erst sämtliche Ministerien schaffen, eine digitale Transformation | |
„mit“zudenken? Und das daraus Entstehende dann auch noch einigermaßen | |
elegant untereinander in Balance zu bringen? Genau, sie schaffen es nicht. | |
Wozu das führt, ist bekannt: Schulen und Universitäten, die technisch | |
derart unterirdisch ausgestattet sind, dass nach über einem Jahr Pandemie | |
guter digitaler Unterricht immer noch eher die Ausnahme als die Regel ist. | |
Regionen, in denen es eine halbe Stunde dauert, eine E-Mail mit Anhang zu | |
verschicken, von der Teilnahme an einer Videokonferenz müssen wir gar nicht | |
erst sprechen. Behörden und Verwaltungen, die lieber auf Microsoft-Produkte | |
setzen als auf schlanke Open-Source-Lösungen im Sinne von digitaler | |
Souveränität. Ein Wirtschaftsminister, der mit [7][Gaia X] eine europäische | |
Cloud-Lösung promotet, gar einen europäischen „Moonshot“ verspricht, eine | |
Alternative zu Cloud-Anbietern wie Google und Amazon. | |
Die dann aber später doch mit ins Boot dürfen. Als wäre es undenkbar, dass | |
auch ohne die US-amerikanischen Anbieter etwas Brauchbares herauskommt. Das | |
Problem hat einen gemeinsamen Nenner: Es fehlt ganz offensichtlich jemand, | |
der:die ausreichend Kompetenzen, Wissen und Durchsetzungsfähigkeit hat, um | |
ein tragfähiges Fundament für einen immer weitergehenden gesellschaftlichen | |
Transformationsprozess zu schaffen. | |
## Es braucht Ideen, Konzepte, Geld und Gesetze | |
Und deshalb braucht es nach der Bundestagswahl dringend ein eigenes | |
Digitalministerium oder, noch besser: ein Ministerium für digitale | |
Transformation. Man kann den Unterschied in der Wortwahl – Digitalisierung | |
versus digitale Transformation – erbsenzählerisch finden, er weist aber auf | |
einen zentralen Unterschied hin: Digitalisierung ist ein Prozess, etwas, | |
das passiert und dem man sich – mehr oder weniger enthusiastisch und | |
erfolgreich – stellt. | |
Zur bewussten und gewollten Gestaltung einer digitalen Transformation | |
hingegen gehören Ideen, Konzepte, Budgets, Beteiligungsverfahren, | |
Initiativen, Gesetze, globale Vereinbarungen und noch viel mehr, das nicht | |
nur reaktiv gedacht wird, sondern aktiv und nach vorne. Es geht also nicht | |
darum, Digitalisierung bedingungslos gut zu finden, à la FDP „[8][Digital | |
first, Bedenken second]“. | |
Es geht auch nicht darum, Digitalisierungsprozesse, die ohnehin stattfinden | |
und stattfinden werden, ein bisschen zu begleiten, vielleicht hier und da | |
abzufedern oder mal etwas rumzulenken. Es geht um aktive Gestaltung. Und | |
ja, auch darum, ungemütlich zu werden, das muss ein:e | |
Finanzminister:in schließlich auch. Um nur ein paar Beispiele zu | |
nennen, die über die notwendige Lösung der bereits genannten Missstände | |
hinausgehen: | |
Wie kann eine digitale Transformation dazu beitragen, uns als Gesellschaft | |
einen großen Schritt weiter in Richtung Nachhaltigkeit zu bringen? Wie | |
kriegen wir die Beschaffung der öffentlichen Hand mit ihren Millionen von | |
Geräten grün? Welche Anreize können wir setzen für eine Programmierkultur, | |
die schlanken, energiesparenden Code schreibt? Wie schaffen wir es, den | |
zahlreichen Rebound-Effekten, die auf allen Ebenen entstehen und noch | |
entstehen werden, entgegen zu wirken? | |
Wie lassen sich alle nötigen und gewollten Prozesse bewusst inklusiv | |
gestalten? Welche Facetten hat die digitale Kluft in der hiesigen und in | |
der globalen Bevölkerung? Und wie erreichen wir gerade hier digitale | |
Suffizienz, um auch bei globaler digitaler Teilhabe diesem Planeten nicht | |
noch mehr zuzumuten? Vielleicht traut sich ja ein:e Minister:in für | |
digitale Transformation sogar an die Postwachstums-Idee heran – die | |
aktuelle digital-industrielle Revolution wäre in dieser Hinsicht eine | |
Chance, die es so schnell nicht wieder geben wird. | |
Das sind die großen Fragen, aber natürlich kommt es genauso auf die Details | |
an. Sascha Lobo hat auf der diesjährlichen Netzkonferenz re:publica sehr | |
treffend eine der Erkenntnisse aus der Pandemie benannt: Digitale | |
Transformation in Deutschland, das geht anscheinend nicht ohne Druck. | |
Homeoffice als Möglichkeit, die funktioniert, Konferenzen im digitalen oder | |
hybriden Format, asynchrone Universitäts-Vorlesungen – vor der Pandemie | |
höchstens eine seltene Ausnahme. | |
## Corona-Zwänge steigern den Druck | |
Digitalisierung ist hier, wie auch in allen Bereichen sonst, kein | |
Selbstzweck. Beispiel digitale oder hybride Konferenzen oder Vorlesungen: | |
Dabei geht es schlicht um niedrigschwelligere Teilhabe. Teilhabe für | |
Menschen, die sich kein Zugticket quer durch Deutschland oder ein | |
Flugticket um die halbe Welt leisten können, um an einer wichtigen | |
Konferenz oder an einem internationalen Kongress teilzunehmen. | |
Studierende, die aus gesundheitlichen oder familiären oder finanziellen | |
Gründen nicht von morgens bis nachmittags in der Uni sitzen können und für | |
die es praktisch oder essentiell wäre, Veranstaltungen spät abends oder am | |
Wochenende nachholen zu können. | |
Dass ausgerechnet in einem anderen zentralen Bildungsbereich – der Schule – | |
nicht einmal eine Pandemiesituation ausreichend Druck aufbauen konnte, um | |
endlich eine grundlegende Basis für einen digitalen Unterricht mit einer | |
Teilhabe für alle aufzubauen, zeigt noch mehr, wie dringend es ein | |
Bundesdigitalministerium braucht. Es wäre eine Chance, das | |
Verantwortlichkeitsgestrüpp aus Bund und Ländern einzuhegen, ohne dass | |
irgendein:e Landesbildungsminister:in gleich wieder schreit: | |
Ich will aber Online-Unterricht nur mit Microsoft Teams. Und mal eben die | |
Daten mehrerer Schüler:innengenerationen dem US-Konzern vorwirft. | |
Obwohl es Alternativen gibt. Und gäbe es sie nicht, wäre es Aufgabe der | |
Politik, die Rahmenbedingungen für die Entwicklung selbiger zu schaffen. | |
Und jetzt kommt der Haken. Denn es reicht natürlich nicht, ein | |
Digitalministerium einzurichten. Das zeigt sich sehr anschaulich in Bayern, | |
wo es schon eins gibt, eben auf Landesebene. | |
Schöner Name, gute SEO – bei der Online-Suche nach | |
„[9][Digitalministerium]“ taucht es als erster Treffer auf -, und die | |
Ministerin startet Modellprojekte und äußert sich positiv über den | |
[10][Datenschutz-Unfall Luca-App]. Wenn das aber die Quintessenz eines | |
Digitalministeriums ist, wäre es wahrscheinlich besser, es bleiben zu | |
lassen. Das wäre ehrlicher, als so zu tun, als würde man das Thema digitale | |
Transformation ernst nehmen. Kompetenzen und Budget braucht es schon, und | |
dafür müssen die anderen Ministerien ordentlich abgeben. | |
Ein allgemeines Basiswissen gehört auch dazu. Die Zeiten, in denen | |
Bundespolitiker:innen zugeben mussten, nicht sicher zu wissen, was | |
eigentlich ein Browser ist, sind ja nun hoffentlich vorbei. Aber wer FTP | |
für einen Parteinamen mit Schreibfehler hält, Hackback für das | |
Dienstagsgericht in der Kantine und den Einsatz von Microsoft-Produkten in | |
Behörden für eine gute Idee – naja, der:die sollte sich vielleicht besser | |
um ein anderes Amt bewerben. | |
In jedem Fall braucht es eine Person, die im Kreis der anderen | |
Minister:innen das Standing hat, um sich durchzusetzen. Und ein | |
Ministerium aufzubauen, das strukturell wie personell ausreichend flexibel | |
ist, in so einem Transformationsprozess auch auf Jahrzehnte vornedran zu | |
sein. | |
18 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Internetminister-Dobrindts-Plaene/!5052168 | |
[2] /Tracking-im-Internet/!5771660 | |
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[4] /Verkehrspolitik-und-autonomes-Fahren/!5750846 | |
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[6] /Inklusion-in-der-Bildung/!5780922 | |
[7] /Digitalgipfel-der-Bundesregierung/!5637415 | |
[8] /Debatte-FDP-Digitalkampagne/!5449680 | |
[9] https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/staatsministerin-fue… | |
[10] /Ein-Jahr-Corona-Warn-App/!5779948 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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