| # taz.de -- Inklusion in der Bildung: „Praktisch zum Stillstand gekommen“ | |
| > Seit 2006 gilt in Deutschland das Recht auf inklusive Bildung. Doch viele | |
| > Länder haben ihre traditionell exklusiven Schulsysteme nicht umgestellt. | |
| Bild: Kinder haben mit Inklusion oft weniger Probleme als erwachsene Politiker:… | |
| Berlin taz | Die schulische Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung | |
| stockt in den meisten Bundesländern oder wird sogar aktiv unterlaufen. Zu | |
| diesem Ergebnis kommt [1][eine Untersuchung des früheren Berliner | |
| Bildungsstaatssekretärs Mark Rackles] (SPD), die der taz vorliegt. „Der | |
| Transformationsprozess in Richtung inklusiver Beschulung hat sich in den | |
| letzten fünf Jahren eher verschlechtert als verbessert“, lautet sein Fazit. | |
| Seit 2015 sei er in Deutschland praktisch zum Stillstand gekommen. | |
| Rackles war von 2011 bis 2019 selbst an entscheidender Stelle in | |
| politischer Verantwortung. Mittlerweile ist er freiberuflicher | |
| Strategieberater. Seine Untersuchung basierend auf Daten, die er für die | |
| Bertelsmann-Stiftung und die Deutsche Schulakademie erhoben hat, zeigt, | |
| dass Deutschland in puncto Inklusion ein geteiltes Land ist. | |
| Die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie die Länder | |
| Schleswig-Holstein und Thüringen gelten als Vorreiter. Hier sinkt der | |
| Anteil der Kinder mit Förderbedarf, die gesondert unterrichtet werden, | |
| jedes Kind hat das Recht auf den Besuch einer Regelschule und es gibt | |
| flächendeckende Unterstützungs- und Beratungssysteme. | |
| Woanders stagniert die Exklusionsquote oder steigt sogar an. Als | |
| besonders problematisch nennt Rackles die Länder Baden-Württemberg, | |
| Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und | |
| Sachsen-Anhalt. | |
| ## Anzahl der Sonderschulen unverändert | |
| Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK, bekannte | |
| sich Deutschland 2006 formal zum Recht auf inklusive Bildung. Die | |
| Schulgesetze aller 16 Länder beziehen sich auch alle auf die UN-BRK. Doch | |
| viele Länder krempeln ihre traditionell exklusiven Schulsysteme nicht | |
| inklusiv um. | |
| So hat etwa Baden-Württemberg eine der bundesweit höchsten Exklusionsquoten | |
| und eine der niedrigsten Inklusionsquoten: Anteilig an allen | |
| Schüler:innen lernen 5,2 Prozent der Schüler:innen mit Förderbedarf | |
| an Sonderschulen und 2,9 Prozent an Regelschulen. Die Anzahl der | |
| Sonderschulen ist seit 20 Jahren unverändert, der Anteil der Kinder, die | |
| direkt dort eingeschult werden, ist bundesweit mit am höchsten. Das gilt | |
| auch für den Anteil der Förderschüler:innen, die die Schule ohne regulären | |
| Schulabschluss verlassen. | |
| Zwar habe das Sozialministerium 2015 einen Aktionsplan zur Umsetzung der | |
| UN-BRK vorgelegt, heißt es in der Untersuchung, doch ein nachhaltiger und | |
| systematischer Transformationsprozess hin zu einem inklusiven Schulsystem | |
| sei nicht erkennbar. In Baden-Württemberg gebe es keinen Vorrang für den | |
| gemeinsamen Unterricht und keinen Rechtsanspruch für betroffene Kinder und | |
| Eltern. | |
| Dass es anders gehen kann, zeigt das vergleichsweise bettelarme Bremen. Die | |
| Exklusionsquote von 0,8 ist bundesweit am niedrigsten, kaum ein Kind wird | |
| an einer Förderschule eingeschult. Bremen räumt dem gemeinsamen Unterricht | |
| im Schulgesetz Vorrang ein, [2][es gibt einen Rechtsanspruch für alle | |
| Schüler:innen] auf Zugang zu einer allgemeinbildenden Schule, und zwar | |
| ohne Ressourcenvorbehalt. | |
| ## Gezielte Abwehrstrategien | |
| Dieser Verweis auf fehlende Lehrkräfte oder Ausstattung ist laut Rackles | |
| eine gewichtige von mehreren Abwehrstrategien gegen Inklusion. So | |
| [3][schränkt etwa Nordrhein-Westfalen das Wahlrecht der Eltern ein], wenn | |
| die „personellen und sächlichen Voraussetzungen“ am gewählten Förderort, | |
| sprich der Regelschule, nicht erfüllt sind. | |
| Gleichzeitig hat die schwarz-gelbe Regierung aber die Mindestgröße für | |
| Sonderschulen aufgehoben. Das ist auch in anderen Bundesländern der Fall. | |
| Auf diese Weise werden Sonderschulen „im Schulnetz gehalten, die angesichts | |
| sinkender Nachfrage und fehlender Wirtschaftlichkeit eigentlich zu | |
| schließen wären“, heißt es in dem Bericht. | |
| Als weitere Abwehrstrategien nennt Rackles auch sprachliche Umdeutungen – | |
| statt „Sonderschule“ wird heute von „Förderschule“ gesprochen – oder… | |
| Verweis auf das „freie Elternwahlrecht“, der jedoch nicht mit dem | |
| Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung verknüpft werde. „Er richtet sich | |
| gerade in den Kernländern der Exklusion faktisch auf den Erhalt der | |
| Sonderschule.“ | |
| ## Inklusive Bildung ins Grundgesetz | |
| Im Ergebnis seiner Analyse schlägt Rackles mehrere Handlungsempfehlungen | |
| vor, unter anderem die, das Recht auf inklusive Bildung auch im Grundgesetz | |
| zu verankern. Zudem müsse es einen „länderübergreifenden Planungsrahmen“ | |
| geben, der im Idealfall bundesweite Standards, Indikatoren und | |
| Rahmenbedingungen gewährleiste. | |
| Von der Kultusministerkonferenz erwartet Rackles keine großen Impulse, auch | |
| eine Zuständigkeit des Bundes sieht er kritisch. Mit seiner Untersuchung | |
| richte er sich vor allem an die Zivilgesellschaft – insbesondere auch an | |
| die Kirchen, die viele Sonderschulen betreiben. „Wir brauchen eine neue | |
| [4][öffentliche Debatte über inklusive Bildung], die Druck auf die Politik | |
| macht“, so der ehemalige politische Spitzenbeamte. | |
| 12 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://rackles.com/ | |
| [2] /Entscheidung-zur-Inklusion-in-Bremen/!5516081 | |
| [3] /Neues-Konzept-fuer-gemeinsames-Lernen/!5521559 | |
| [4] /Sozialpaedagogen-ueber-Inklusion/!5749960 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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