| # taz.de -- Chronisch kranke Kinder: Kaum Unterstützung | |
| > Chronische Krankheiten bei Kindern belasten die ganze Familie. Auch in | |
| > Kita und Schule gibt es meist keine Betreuung. Eltern werden | |
| > alleingelassen. | |
| Bild: Eine Krankenschwester kontrolliert den Blutzuckerwert eines Schülers | |
| München taz | Leo darf nicht mit auf Schulausflüge. Er hat Asthma, und der | |
| Lehrer fürchtet Notfallsituationen. Mila bekommt beim Mittagessen in der | |
| Kita fast immer etwas anderes als die anderen Kinder. Wegen ihrer | |
| Nahrungsmittelallergien darf sie weder Weizen noch Milch oder Nüsse, also | |
| oft auch keinen Kuchen essen. Max wurde die Aufnahme in die Regelschule | |
| verweigert, da er an Typ-1-Diabetes leidet. | |
| Chronische Krankheiten bei Kindern sind per se schon eine Bürde – egal ob | |
| Diabetes Typ 1, Unverträglichkeiten wie Zöliakie, Neurodermitis oder | |
| Asthma. Sie verlangen den Kindern früh Disziplin und Selbstständigkeit ab, | |
| dazu kommt die Sorge um die Gesundheit. Ein Diabetes Typ 1 oder eine | |
| Zöliakie sind beispielsweise nicht heilbar. Rund 10 bis 15 Prozent der | |
| Kinder in Deutschland sind von einer chronischen Krankheit betroffen – | |
| Tendenz steigend. Zu dieser Bürde kommen weitere Belastungen: Hänseleien | |
| und Benachteiligungen in Schule und Kita. | |
| Auf diese Benachteiligung im Fall von Typ-1-Diabetes wiesen kürzlich drei | |
| Fachgesellschaften hin. Teilweise lehnen Regelschulen Kinder mit Diabetes | |
| ab, sie werden auf die Förderschule gedrängt. Dabei ist klar: „Die Kinder | |
| haben ein [1][Recht auf angemessene Schulbildung und Inklusion“], sagt | |
| Klemens Raile, Kinderarzt an der Charité in Berlin. Auch von anderen | |
| sozialen Aktivitäten werden sie teilweise ausgeschlossen: Eine Studie hat | |
| beispielsweise 2019 ergeben, dass 15 Prozent der diabeteskranken | |
| Kita-Kinder und 24 Prozent der Schulkinder nicht an Klassenfahrten | |
| teilnehmen durften. | |
| Rund 32.000 Kinder und Jugendliche sind in Deutschland von Typ-1-Diabetes | |
| betroffen. Dabei bildet die Bauchspeicheldrüse nicht genügend Insulin. Zwar | |
| haben die Kinder einen Behindertenstatus, sie sind jedoch körperlich, | |
| geistig und sozial genauso belastbar wie gesunde Kinder. | |
| ## Unterstützung notwendig | |
| Die meisten diabeteskranken Kinder tragen heute Glukosensoren, die | |
| regelmäßig den Blutzucker kontrollieren und bei zu hohen oder zu niedrigen | |
| Werten Alarm schlagen. Nur wenige müssen noch mit einem Tropfen Blut aus | |
| der Fingerkuppe aktiv ihren Zuckerwert messen. Bei zu hohen oder zu | |
| niedrigen Werten müssen sie reagieren. Sind die Kinder unterzuckert, äußert | |
| sich das in Zittern oder Schweißausbrüchen. Wird dann nicht schnell Zucker | |
| zugeführt, kann es auch zu einer Ohnmacht kommen. | |
| Bei zu hohen Werten hingegen muss der Körper mit Insulin versorgt werden. | |
| Das Hormon schaufelt die Zuckermoleküle aus den Blutbahnen in die Organe. | |
| Rund die Hälfte der Kinder hat mittlerweile eine Insulinpumpe, die | |
| automatisch Insulin ins Blut abgibt. Die andere Hälfte muss sich mittels | |
| eines Pens das Insulin in die Bachfalte spritzen. „Auch wenn ein Teil der | |
| Kinder heute schon weitgehend automatisch versorgt wird, braucht es noch | |
| die Unterstützung der Lehrer und Erzieher“, sagt Klemens Raile. | |
| So müssen Lehrer etwa die Kinder auch während des Unterrichts ihren | |
| Blutzucker messen und jederzeit essen und trinken lassen. Denn: Ist der | |
| Zucker langfristig immer wieder schlecht eingestellt, belastet das die | |
| kognitiven Leistungen wie auch die Gefäße. Wenn Blutglukosewerte über viele | |
| Jahre ständig stark schwanken, können im Erwachsenenalter Nieren- und | |
| Augenschäden drohen. | |
| Allerdings scheint es eine Betreuung nicht flächendeckend zu geben. Die | |
| Diabetesorganisationen fordern darum bundesweit geltende gesetzliche | |
| Regelungen. Etwa dass Kita-Betreuerinnen oder Lehrkräfte besser geschult | |
| werden und die Kostenübernahme dafür einheitlich werde. Gleichzeitig | |
| sollten sich Betreuer in Kita und Schule um einen normalen Umgang mit | |
| chronisch Kranken bemühen. „Lehrer sollten informiert sein, aber | |
| unaufgeregt mit den Kindern umgehen“, so Raile. Denn die Kinder haben wegen | |
| ihres Status als Sonderlinge schon genug Probleme. | |
| Chronisch kranke Kinder werden etwa von Gleichaltrigen häufiger gemobbt. | |
| Dies zeigen diverse Studien. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand | |
| man in 86 Prozent der Studien Berichte von Bullying bei diabeteskranken | |
| Kindern. Rund ein Viertel der Kinder, die unter Nahrungsmittelallergien | |
| leiden, berichten von Schikanen. Vor allem durch Mitschüler, teilweise auch | |
| durch Lehrer. | |
| Chronisch kranke Kinder und Jugendliche erhalten zudem teils deutlich | |
| schlechtere Schulnoten als ihre „gesunden“ Altersgenossen. Und dies | |
| hinterlässt Wunden in der Kinderseele: Bis zur Hälfte der Kinder mit | |
| Typ-1-Diabetes entwickeln Depressionen, Angst oder andere psychische | |
| Probleme. Aber auch somatische Störungen wie Magen- und Kopfschmerzen | |
| finden sich bei diabeteskranken Kindern häufiger. Es können sich in der | |
| Folge auch Essstörungen entwickeln. | |
| ## Psychische Probleme kommen fast zwangsläufig | |
| Bei bestimmten [2][Nahrungsmittelallergien,] etwa bei der Erdnussallergie, | |
| sind die Ängste sogar noch stärker ausgebildet als bei der Zuckerkrankheit. | |
| Denn im schlimmsten Fall kann es zu einem anaphylaktischen Schock kommen, | |
| der auch tödlich verlaufen kann. Die Kinder entwickeln dann Angst vor der | |
| Selbstständigkeit, weil diese gefährlich werden kann. „Das kann so weit | |
| gehen, dass diese Kinder Angst haben, öffentliche Verkehrsmittel zu | |
| benutzen, in den Urlaub zu fahren oder auf Partys zu gehen“, sagt Lars | |
| Lange, Allergologe am Marienhospital in Bonn. „Teilweise fühlen sich | |
| Nahrungsmittelallergiker durch ‚ihr‘ Allergen regelrecht verfolgt.“ Die | |
| Lebensqualität von chronisch kranken Kindern leidet erheblich. | |
| Und das betrifft die ganze Familie, vor allem die Eltern. „Die psychische | |
| Belastung bei Diagnosestellung ist bei Diabetes sogar stärker ausgeprägt | |
| als bei einer Tumordiagnose“, sagt Raile. Vermutlich weil eine | |
| kontinuierliche Betreuung der Kinder vonnöten ist. „Die Eltern schlafen oft | |
| Nächte nicht, weil sie immer wieder Blutwerte aus Angst vor | |
| Unterzuckerungen überwachen“, berichtet der Berliner Kinderdiabetologe | |
| Raile. Eltern haben auch häufig Arbeitsausfälle, vor allem Mütter. | |
| Zudem werden sie etwa im Fall von Lebensmittelallergien von der Umwelt | |
| teilweise nicht ernst genommen. Denn viele Eltern von gesunden Kindern | |
| setzen diese ohne Diagnose auf Diät – der Nachwuchs darf keinen Weizen oder | |
| keine Milch mehr verzehren, ohne Not. In Kindergärten oder im Hort wird | |
| darum auf solche [3][Möchtegern-Unverträglichkeiten,] die die Abläufe | |
| erschweren, oft keine Rücksicht mehr genommen. | |
| Im Falle des Typ-1-Diabetes wird den Familien obendrein eine Schuld an der | |
| Erkrankung zugeschrieben. Denn viele verwechseln den Jugend- mit dem | |
| Altersdiabetes und glauben, die kranken Kinder seien durch Fast Food oder | |
| Bewegungsmangel krank geworden. Dabei ist der Typ-1-Diabetes vor allem eine | |
| genetische Erkrankung. „Die Autoimmunerkrankung tritt unverschuldet, ohne | |
| eigenes Zutun und unabhängig vom Lebensstil und der Erziehung auf“, stellte | |
| kürzlich Andreas Neu vom Uniklinikum Tübingen klar. Er appellierte an | |
| Ärzte, den betroffenen Familien entsprechend den Rücken zu stärken. | |
| Laut Raile gewährleisten sogenannte Diabetes-Teams auch psychologische | |
| Unterstützung. „Aber die Familie muss aus sich heraus viel leisten, ein | |
| gutes Selbstmanagement ist nötig, Ärzte können hier nur unterstützen“, so | |
| Raile. Darum ist es wichtig, auch Freunde und Verwandte einzuspannen oder | |
| sich in Selbsthilfegruppen auszutauschen. „Ein gutes soziales Netzwerk | |
| erhöht die Lebensqualität“, so Lange. | |
| 5 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kathrin Burger | |
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