# taz.de -- Zeugnisvergabe in Schleswig-Holstein: Inklusion geht anders | |
> Die Gewerkschaft GEW in Schleswig-Holstein findet es diskriminierend, | |
> dass Kinder mit Förderbedarf ein längeres Zeugnis kriegen als | |
> Mitschüler:innen. | |
Bild: Zeugnisvergleich: ein unangenehmer Moment, wenn das eigene ganz anders au… | |
BREMEN taz | Die Halbjahreszeugnisse stehen vor der Tür. Unter anderem in | |
Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein bekommen Schüler:innen sie | |
am kommenden Freitag ausgehändigt. Zwei Seiten sind das in der Regel – doch | |
nicht für alle. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bekommen in | |
Schleswig-Holstein ganze 14 Seiten Bewertung. | |
Die dortige Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) findet das | |
diskriminierend. Am Montag protestierten Vertreter:innen deshalb vor | |
dem Haus von [1][Bildungsministerin Karin Prien] (CDU). Sie fordern die | |
Abschaffung dieser langen Zeugnisse. | |
„Kinder vergleichen sich miteinander“, sagt Kerstin Quellmann von [2][der | |
GEW]-Landesfachgruppe Sonderpädagogik. Auch bei den Zeugnissen. Wenn eines | |
ganz anders aussieht, könne das schon mal blöde Sprüche geben. „Bei den | |
Kleinen ist das eher neugierig interessiert – spätestens in der Pubertät | |
kann es aber auch sehr abwertend werden.“ | |
Ungleichheiten, die ein Klassengefüge ohnehin schon hervorbringen, könnten | |
so verstärkt werden. „Ich würde mir so dumm vorkommen, wenn ich so etwas | |
kriege“, soll Quellmanns Tochter gesagt haben, als sie den Papierstapel | |
gesehen habe, die die GEW am Montag mit zum Ministerium geschleppt hatte. | |
## Schleswig-Holstein ist bei der Inklusion ganz vorne mit dabei | |
In Schleswig-Holstein können Kinder mit Förderbedarf in einem Förderzentrum | |
oder an einer Regelschule inklusiv unterrichtet werden – von der | |
Grundschule bis zum Abitur. Von den Kindern mit Bedarf würden inzwischen | |
fast 70 Prozent inklusiv beschult, erklärt Priens Sprecherin Beate Hinse. | |
Gemeinsam mit Bremen sei man somit Spitzenreiter im Ländervergleich. | |
Bis vor wenigen Jahren haben [3][Kinder mit Förderbedarf] keine Noten | |
bekommen. Unter anderem die GEW hat das kritisiert – weil es eine | |
Ungleichbehandlung ist. 2020 hat der Bildungsausschuss des Landes dann | |
entschieden, dass alle Kinder die gleichen Zeugnisse bekommen sollen. Die | |
Argumentation: mehr Gleichberechtigung. Auch wenn es damals absurd gewesen | |
sei, sagt Quellmann,für Noten zu plädieren, die sie und die GEW eigentlich | |
grundsätzlich ablehnen. | |
Seitdem ist die erste Seite mit der klassischen Notenübersicht fast | |
identisch in ihrer Aufmachung. Allerdings sind Zeugnisse für Kinder mit | |
Förderbedarf seitdem auch „logischerweise“ dicker: Denn auf den nächsten | |
Seiten folgten laut Hinse Erläuterungen zu den einzelnen Noten, eine | |
tabellarische Einordnung für jedes Fach in Bezug auf erlernte Kompetenzen. | |
Noten allein sagten zu wenig aus. Dass es diese ergänzenden Einschätzungen | |
gibt, sei eine „politische Entscheidung“. Sie würden „von Eltern und | |
Schülerinnen und Schülern gebraucht“. | |
Doch hier tut sich laut GEW das zweite Problem auf: Die Länge der Zeugnisse | |
verursache massive Mehrarbeit für die Lehrer:innen. „Der Aufwand ist | |
immens“, sagt auch Quellmann, die an einem reinen Förderzentrum arbeitet | |
und damit sogar jedes Zeugnis so angehen muss. „Zusätzlich schreiben wir | |
zweimal im Jahr Förderpläne.“ | |
In einem Förderplan stehe beispielsweise etwas zu Methodenkompetenz oder | |
sozial-emotionalem Verhalten der Kinder. „Das sind Sachen, die sich auch | |
im Unterricht ausdrücken.“ Die Pläne seien zwar je nach Schule | |
unterschiedlich umfangreich, jedoch reichten sie als „schlüssige | |
Bewertungsgrundlage“ für die Zeugnisse aus, sagt Quellmann. Demnach könnte | |
der derzeitig notwendige Anhang also ersatzlos wegfallen. | |
## Anhang der Zeugnisse soll künftig direkt an die Eltern gehen | |
Die Lösung der Ministerin, auf die man sich laut Hinse bereits vor Ort mit | |
Vertreter:innen der GEW verständigt habe, sieht anders aus: Man könnte | |
den Anhang, der die Zeugnisse von denen der Kinder ohne Förderbedarf | |
unterscheidet, einfach in dem ohnehin anstehenden Elterngespräch übergeben | |
und besprechen. „Dann bekommt das Kind das große Paket nicht am Tag der | |
Zeugnisvergabe.“ Die Idee sei den Schulen bereits mitgeteilt worden. | |
„Toll“ findet Quellmann die Idee, die zumindest das große Problem angehen | |
würde. Die Belastung für die Lehrer:innen sei damit aber noch nicht | |
gesenkt. „Wir haben nicht mehr Arbeitszeit, nur weil wir mehr Aufgaben | |
bekommen.“ Kolleg:innen, die eine Überlastung angemeldet haben, hätten vom | |
Ministerium bereits zu hören bekommen, dass sie sich anders organisieren | |
müssten. | |
Auch hier hat das Ministerium Pläne: Die Vorlagen für die Zeugnisse sollen | |
in Zukunft flexibler sein, sodass nur die Fächer ausgewählt werden müssten, | |
die auch tatsächlich unterrichtet würden, sagt Hinse. Der Anhang könnte | |
dann auch kürzer ausfallen. Ob die von Prien angeregte veränderte | |
Zeugnisvergabe am Freitag schon im Klassenraum angekommen sein wird, „muss | |
man sehen“, sagt Hinse. Eine Gesetzesänderung sei nicht geplant. | |
26 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alina Götz | |
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