# taz.de -- Internationaler Tag der Menstruation: Das Blut der Unterdrückung | |
> Weltweit ist die Monatsblutung ein Tabu. Zum Aktionstag sprechen fünf | |
> Frauen, die sich wehren. | |
Bild: Für viele ein unerreichbares Luxusgut: Hygienebinden | |
Hat eine Frau Blutfluss und ist solches Blut an ihrem Körper, soll sie | |
sieben Tage lang in der Unreinheit ihrer Regel verbleiben. Wer sie berührt, | |
ist unrein bis zum Abend. Alles, worauf sie sich in diesem Zustand legt, | |
ist unrein; alles, worauf sie sich setzt, ist unrein.“ So steht es in der | |
Bibel, Levitikus 15, Vers 19. | |
Der unreine Blutfluss, um den es geht, ist die weibliche Menstruation. Im | |
Judentum war die menstruierende Frau lange von allen rituellen Handlungen | |
ausgeschlossen, im Christentum galt die Menstruation Mönchen als Strafe für | |
Evas Sündenfall. Ausgenommen davon war nur die Mutter Gottes: Die nämlich, | |
so Theologen, habe unbefleckt empfangen und ohnehin nie menstruiert. | |
Mit den magischen Kräften und Unreinheiten der Menstruation beschäftigten | |
sich jahrtausendelang vor allem Männer. Aristoteles sah in ihr einen Beweis | |
für die weibliche Minderwertigkeit: Frauen seien nicht wie Männer imstande, | |
Blut in Sperma zu verwandeln und müssten es deshalb monatlich ausscheiden. | |
Plinius der Ältere beschrieb, dass in der Nähe menstruierender Frauen der | |
Wein verderbe, Bienen stürben und Saatgut unfruchtbar würde. Und Paracelsus | |
stilisierte die Blutung gar zur Bedrohung der Menschheit: „Es gibt kein | |
Gift in der Welt, das schädlicher ist als das menstruum.“ | |
Um Gift ging es überhaupt lange: 1520 beschrieb Paracelsus die Existenz des | |
„Menotoxin“. Die Auffassung, dieses finde sich in Blut und Schweiß | |
menstruierender Frauen und lasse etwa Blumen welken, wurde noch bis weit | |
ins 20. Jahrhundert diskutiert. | |
Um die Bedürfnisse von Frauen allerdings geht es noch nicht allzu lange. | |
Zwar kennen schon nahezu alle alten Kulturen Hilfsmittel, um das Blut | |
aufzusaugen, darunter Binden aus Bast, Gras oder Leinen. In Deutschland kam | |
1894 die erste kommerzielle Wegwerfbinde auf den Markt, 1947 wurde der | |
erste Tampon für den hiesigen Markt patentiert: der o.b. („ohne Binde“). | |
Doch [1][etwa in der Werbung] war die Flüssigkeit, die die Saugfähigkeit | |
von Tampons und Binden beweisen soll, lange unverfänglich blau. „Sauber und | |
diskret“ sollte die Menstruation vor allem sein. | |
Global ranken sich noch immer [2][viele Mythen] um sie. Zwar feiern einige | |
Kulturen das erstmalige Auftreten der Menstruation, die [3][sogenannte | |
Menarche], als Fest, das auch mit einem positiven Zugang zum weiblichen | |
Körper zu tun haben kann. Weit häufiger jedoch haben Frauen damit zu tun, | |
zu informieren und das Stigma abzubauen, das für potentiell die Hälfte der | |
Menschheit mit ihrer Blutung verknüpft ist. | |
Zum Teil wird das Problem dadurch verstärkt, dass es keine geeigneten | |
Produkte gibt, um die Blutung aufzufangen, oder diese nicht bezahlbar sind, | |
weshalb Mädchen und Frauen auch weiterhin nicht zur Schule gehen oder an | |
anderen Bereichen des sozialen Lebens teilnehmen können. Auch der Zugang zu | |
ausreichend sauberem Wasser, etwa in schulischen Einrichtungen, ist längst | |
nicht überall gewährleistet. Und schließlich haben viele Familien im | |
vergangenen Jahr ihr Einkommen durch die Pandemie verloren, so dass sie | |
sich Hygieneprodukte kaum noch leisten können. | |
Zum [4][Weltmenstruationstag], der 2014 von Frauenrechtsinitiativen ins | |
Leben gerufen wurde, warnt die Hilfsorganisation Care davor, dass die Zahl | |
der aktuell etwa 500 Millionen Mädchen und Frauen, die während ihrer | |
Menstruation ohne Hygieneprodukte auskommen müssen, weiter zu steigen | |
droht. In Äthiopien, Uganda, Niger und Kenia etwa seien bis zu 70 Prozent | |
der Frauen und Mädchen gezwungen, [5][ohne ausreichend sauberes Wasser], | |
Hygieneprodukte oder medizinische Versorgung zurechtzukommen. | |
Care fordert die internationale Gemeinschaft auf, Menstruationshygiene in | |
alle humanitären Hilfspläne aufzunehmen, genügend finanzielle Mittel dafür | |
bereitzustellen und die politische Teilhabe von Frauen an diesen | |
Entscheidungen zu gewährleisten. | |
Doch nicht nur Hilfsorganisationen machen auf diese Probleme aufmerksam. | |
Diese fünf Frauen haben ihren täglichen Kampf dem Thema gewidmet. | |
Unerschrocken gegen die „Arschbacken“ in Uganda | |
Ausgerechnet die Debatte um die Monatsblutung brachte Stella Nyanzi, | |
Ugandas führende Feministin, ins Gefängnis. Es war kurz nach den Wahlen | |
2016. Präsident Yoweri Museveni hatte im Wahlkampf [6][kostenlose Binden an | |
Schulen] versprochen und damit bei Frauen viele Stimmen geholt. Denn ein | |
Großteil der Mädchen in Uganda bleibt während ihrer Monatsperiode | |
regelmäßig der Schule fern. Viele Familien können sich die Binden nicht | |
leisten, und in den meisten Schultoiletten gibt es kein fließendes Wasser, | |
um sich zu waschen. Indem sie auf sich aufpassen, vermasseln sich viele | |
Mädchen den Abschluss. | |
Nach der gewonnenen Wahl fiel die kostenlose Binde still und heimlich vom | |
Tisch. Zwar hatte der Präsident seine Frau Janet zur Bildungsministerin | |
ernannt und damit Hoffnungen geweckt, dass er sein Wahlkampfversprechen | |
ernst gemeint haben könnte. Doch als Ministerin musste „Mama Janet“, wie | |
sie landauf, landab genannt wird, feststellen: Es mangelt an Geld im | |
Staatshaushalt, um Binden anschaffen zu können. | |
Dies brachte Stella Nyanzi, promovierte Akademikerin für Genderstudien und | |
Sexualwissenschaft an Ostafrikas renommiertester Universität Makerere in | |
Ugandas Hauptstadt Kampala, auf die Palme. „Wir haben jetzt jede Menge | |
Vaginas im Parlament sitzen, aber sie müssen auch beweisen, dass sie ein | |
Gehirn haben“, schimpfte sie damals gegenüber der taz. Janet Museveni sei | |
nur Bildungsministerin geworden, „weil sie mit dem Präsidenten ins Bett | |
geht.“ Auf Facebook bezeichnete sie das Präsidentenehepaar als „ein Paar | |
Arschbacken“. | |
Das wurde ihr zum Verhängnis. Denn für den 76-jährigen Präsidenten, seit | |
1986 an der Macht, war dies eine klare Majestätsbeleidigung. Von | |
Unbekannten wurde sie aus ihrem Haus entführt und später wegen | |
„Cyber-Belästigung“ und Unruhestiftung angeklagt. Sie habe gegen das Gesetz | |
über Computermissbrauch verstoßen, so die Vorwürfe des Staatsanwalts. | |
Monatelang [7][saß Nyanzi im Jahr 2017 im Gefängnis], litt dort unter | |
anderem an Malaria. Aufgrund ihrer schlechten körperlichen Verfassung wurde | |
sie schließlich auf Kaution freigelassen. | |
Vier Jahre später verhandelt jetzt Ugandas Verfassungsgericht über den Fall | |
Stella Nyanzi. Kurz [8][nach den Wahlen im Januar dieses Jahres] war sie | |
mit ihrer Familie ins Nachbarland Kenia geflohen. Doch seit Mai ist sie | |
zurück und wirft nun den Verfassungsrichtern vor, das Regime würde ein aus | |
der Kolonialzeit stammendes Gesetz über Geisteskrankheiten nutzen, um | |
Oppositionelle wie sie mundtot zu machen. Kampfeslustig sitzt die Mutter | |
von drei Kindern im Gerichtssaal. Und auch für Präsident Museveni hat sie | |
eine neue Provokation parat. „Komm nicht in meinem Mund“, heißt ihre | |
gedruckte Gedichtsammlung, die Mitte Juni erscheinen soll. | |
Derweil sind Binden in Uganda ein Politikum geblieben. In einer | |
Crowdfunding-Kampagne über soziale Netzwerke hatte Stella Nyanzi, bevor sie | |
inhaftiert wurde, umgerechnet fast 2.000 Euro eingesammelt. Das Geld | |
spendete sie Nichtregierungsorganisationen, die Schülerinnen beibringen, | |
sich selbst wiederverwendbare Stoffbinden zu nähen. Gereicht hat das nur | |
für eine Handvoll Schulen. Aber seitdem führen immer mehr Schulen in Uganda | |
auf Eigeninitiative Nähkurse für Mädchen ein, um Binden herzustellen. | |
Nyanzis Idee hat sich verselbstständigt. | |
Simone Schlindwein | |
In Kolumbien bekommt Schneewittchens Kleid rote Flecken | |
Carolina Ramírez und ihre Kolleginnen vom [9][Projekt „Princesas | |
Menstruantes“] haben eine Mission: „Für uns ist das Wichtigste, uns | |
komplett von der traditionellen Lesart der Menstruation zu lösen, die rein | |
auf Reproduktion beruht“, sagt Carolina Ramírez. „Wir sind überzeugt, dass | |
dies die vielfache Unterdrückung von Mädchen und Frauen begünstigt hat.“ | |
Carolina Ramírez (39) ist Psychologin und Menstruationserzieherin. Zwölf | |
Jahre lang hatte sie im Umland von Medellín in Kolumbien mit Frauen | |
gearbeitet, von denen viele sexuelle Gewalt erlebt hatten. Immer wieder | |
ging es um Menstruation – und wie man darüber mit den Töchtern spricht. | |
In der 9. Klasse, wenn in Kolumbiens Schulen Sexualkunde auf dem Lehrplan | |
steht, wird Menstruation im besten Fall unter Fortpflanzungsaspekten | |
behandelt. „Menstruieren ist aber nicht nur dazu da, um schwanger zu | |
werden“, sagt Ramírez. „Die Hormone sind gut für das Wohlbefinden der Fra… | |
die Menstruation reinigt die Gebärmutter von Krankheitserregern.“ | |
So entstand die Idee, das Thema Menstruation liebevoller und lustiger für | |
Mädchen aufzubereiten – und im Jahr 2016 das Buch „El vestido de | |
Blancanieves se ha teñido de rojo“ (Das Kleid von Schneewittchen hat sich | |
rot gefärbt). Darin merkt Schneewittchen durch eine Blumenpracht, die | |
plötzlich in ihr wächst und als roter Honig aus ihr heraus läuft, was für | |
sie wichtig ist im Leben. Ein Prinz kommt nicht vor. | |
Das Buch gilt als erstes Kinderbuch in Lateinamerika zum Thema überhaupt. | |
Seitdem hat Carolina Ramírez vier weitere Menstruationsmärchen geschrieben. | |
Sie will mit alten Denkmustern aufräumen, welche die Menstruation nutzen, | |
um Frauen von Orten oder Ämtern fernzuhalten. | |
Ihr Team hat in den Randgebieten von Medellín Mädchen befragt. Dabei | |
stellte sich heraus: Der häufigste Grund, weshalb sie in der Schule fehlen, | |
waren nicht fehlende Hygieneprodukte – sondern die Angst vor Flecken. „Und | |
diese Angst lässt sich nur mit Bildung nehmen“, sagt Carolina Ramírez. Eine | |
weitere Erkenntnis: „Die Schule ist kein sicherer Ort zum Menstruieren. Es | |
gibt keine Fürsorge, keine Begleitung, keine Binden, oft nicht einmal | |
Wasser, Klopapier oder Türen, die richtig schließen.“ Viel zu oft lassen | |
Lehrer*innen die Mädchen nicht auf die Toilette gehen und sagen: | |
„Kontrolliere deinen Körper.“ | |
Das 2015 gegründete Projekt „Princesas Menstruantes“ bietet | |
Lehrmaterialien, Workshops für Mädchen und Erwachsene sowie eine | |
Weiterbildung zur Menstruationserzieherin. Die „Escuela de Niñas poderosas“ | |
(Schule der mächtigen Mädchen) soll Mädchen im Alter von acht bis zwölf | |
Jahren helfen, ihre Pubertät zu einer positiven Erfahrung zu machen und | |
ihre Autonomie fördern. Das reicht von Menstruations- und Sexualkunde über | |
Selbstfürsorge bis hin zu weiblichen Vorbildern und einer politischen | |
Geschichte der Frauen. „Wir reden darüber, wie sie sich um sich selbst | |
kümmern und ein Unterstützungsnetz aufbauen und eine Vertrauensperson | |
finden, mit der sie reden können, wenn ihnen etwas passiert“, sagt Ramírez. | |
Bis 2020 haben Carolina Ramírez und ihre Kolleginnen mehr als 12.000 | |
Mädchen, Jugendliche und Frauen in Lateinamerika geschult. | |
„Menstruationsbildung darf kein Privileg sein“, sagt Carolina Ramírez. „… | |
Mädchen, die völlig vom Staat alleingelassen leben, brauchen uns am | |
dringendsten. Wenn uns eine Schule anruft und sagt: Wir haben da 50 | |
Mädchen, aber kein Geld – dann versuchen wir, es irgendwie aufzutreiben, | |
und nehmen uns drei Tage frei.“ | |
Katharina Wojczenko, Bogotá | |
Für sichere Gesprächsräume im Libanon | |
Line Tabet Masri ist 35 Jahre und hat zwei kleine Töchter. Doch erst als | |
sie mit 30 ihre Tochter bekam und sich ihre Menstruation dadurch verändert | |
hat, hat sie angefangen, mit Freundinnen darüber zu sprechen. Nun sitzt sie | |
in ihrer großzügigen Wohnung in Beirut im 16. Stock mit Blick auf die Berge | |
und spricht passioniert über die Periode. „Die Würde einer Frau darf nicht | |
abhängig sein vom Einkommen oder ihrer Herkunft“, sagt sie bestimmt. | |
Der Schein des großen Wohnzimmers trügt. Masri hat ihre Ersparnisse | |
verloren, weil [10][Libanons Währung aufgrund der Finanzkrise] 80 Prozent | |
ihres Wertes verloren hat. Zehn von den günstigsten Binden kosten heute | |
umgerechnet 4 Euro, eine kleine Packung Tampons fast 25 Euro. | |
Mit dem Währungsverfall begann Masri, Hilfspakete zu packen. „Dabei ist mir | |
aufgefallen, dass wir Zahnpasta oder Desinfektionsmittel spenden, aber | |
keine Binden.“ Eine sehr männliche Sicht. Deshalb initiierte die 35-Jährige | |
gemeinsam mit ihrer Freundin Rana Haddad im Mai 2020 das Projekt „Dawrati“ | |
(„Meine Periode“). Sie arbeitet mit einem Bindenhersteller zusammen, hat | |
Spendenboxen in Apotheken aufgestellt und nimmt auch Einzelspenden an der | |
Haustür an. Alles ehrenamtlich. | |
Durch diese Arbeit hat sie gemerkt, wie privilegiert ihr Umgang mit der | |
Menstruation bisher war. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter mit ihr in den | |
Supermarkt ging und sie sich verschiedene Binden aussuchte. „Dass ich | |
verschiedene Modelle kaufen und ausprobieren konnte – das ist ein | |
Privileg.“ | |
In der Schule hatten sie bereits über das reproduktive System gesprochen. | |
Doch in konservativen Haushalten und bei der älteren Generation sei | |
Menstruation ein Tabuthema. „Der Verkäufer in kleineren Läden packt dir die | |
Binden in eine schwarze Tüte, damit niemand sieht, was darin ist.“ | |
Entsprechend schwer sei das Gespräch. Selbstgenähte Binden funktionieren | |
nicht, wenn sie zum Trocknen auf eine Leine gehängt werden müssen und die | |
Nachbarschaft sie sieht. Und: „Ich kann nicht einfach Freiwillige schicken, | |
die dann mit Frauen über ihre Periode sprechen. Für so etwas braucht es | |
einen Safe Space, Freund*innen und Komfort.“ Dafür hätten die Frauen im | |
Libanon gerade keinen Kopf. Sie kämpfen mit Kinderbetreuung, Haushalt, Job | |
und der Frage, wie sie im nächsten Monat das Essen bezahlen sollen. | |
Auf lange Sicht möchte Masri mit „Dawrati“ Gespräche für Frauen | |
organisieren, damit sie in geschütztem Raum miteinander sprechen können. | |
Sie plant auch, [11][Periodenunterwäsche] im Libanon zu produzieren. Doch | |
das Material muss importiert werden und ist teuer. „Es gab einen Aufruhr, | |
als die Regierung beschloss, Rasierer zu subventionieren, aber nicht | |
Periodenartikel. Sie sagten daraufhin, sie würden das Material für die | |
Herstellung absorbierender Unterwäsche subventionieren – aber bis heute | |
haben sie mir nicht geantwortet.“ | |
Eines hat Tabet schon geschafft: Sie hat bei vielen Männern das Tabu um die | |
Monatsblutung gebrochen. „Manche Männer rufen mich an, wenn sie im | |
Supermarkt stehen und fragen, welche Marke oder Bindenform sie kaufen | |
sollen.“ Ab und an helfen auch ihre beiden Töchter, Menstruations-Kits zu | |
packen. „Sie wissen noch nicht, was die Periode ist, aber sie sollen | |
lernen, dass Frauengesundheit nicht nur die körperliche, sondern auch die | |
mentale Gesundheit betrifft.“ | |
Julia Neumann, Beirut | |
Mit der „Menstrupedia“ gegen Unkenntnis in Indien | |
Es war harte Arbeit, aber für Aditi Gupta und ihren Mann Tuhin Paul hat es | |
sich gelohnt. Vor neun Jahren entwickelten sie mit Crowdfunding den | |
[12][indischen Aufklärungscomic Menstrupedia], der mit Halbwissen um | |
Menstruation aufräumt. | |
Als junges Mädchen hatte Gupta Mythen über die monatliche Blutung gehört | |
und unter dem Stigma gelitten, in dieser Zeit unrein zu sein. Sie nutzte | |
Stoffreste, da sie sich aus Scham nicht traute, Binden zu kaufen. | |
[13][Besuche in Hindu-Tempeln waren während der Menstruation] nicht | |
erlaubt. Bis heute sieht man Schilder mit Warnhinweisen, die Frauen einmal | |
im Monat den Eintritt verbieten. | |
„Das beeinträchtigte mein Selbstbewusstsein und meine Ausbildung“, sagt | |
Gupta. Erst viele Jahre später wurde ihr klar, dass sie, wie Millionen von | |
Mädchen, die jährlich in Indien in die Pubertät kommen, eine Tortur ohne | |
Grund durchmachte: „Weil Menstruation ein Tabu ist, [14][fehlen Toiletten]. | |
Über Regelschmerzen sprechen wir gar nicht. Das Leiden wird als weibliche | |
Tugend gesehen“, so die 36-jährige Mutter. | |
In Guptas Wahlheimat Gujarat dürfen Frauen während der Menstruation | |
teilweise nicht kochen. „Ursprünglich sollte das den Frauen eine Pause von | |
der Hausarbeit verschaffen. Es hat jedoch dazu geführt, dass Frauen als | |
'unrein’ dargestellt werden“, sagt sie. | |
Ihre Zielgruppe sind nicht nur die Mädchen ab neun Jahren, die sie mit | |
sensibler Sprache und Zeichnungen über Körperbewusstsein und | |
Menstruationsgesundheit aufklärt. „Das kollektive Wissen über die | |
Menstruation muss sich ändern“, sagt sie. In der Vorbereitung für ihren | |
Comic war Gupta bei vielen Familien, um über Menstruation zu sprechen. Sie | |
wurde damals 'schamlos’ genannt. Widerstand erfuhr sie in der städtischen | |
Mittelschicht mehr als in Dörfern. | |
Heute sieht Gupta große Veränderungen. In Filmen, Social Media und Comedy | |
ist die Monatsblutung kein Tabu mehr. Doch ihr begegnet immer wieder | |
verblüffender Aberglaube: Frauen dürften während ihrer Tage nicht mit | |
geöffnetem Haaren im Dunklen vor die Türe treten, auch Corona-Impfungen | |
während der Monatsblutung seien nicht gut. Meist zielen solche | |
Falschinformationen darauf ab, Frauen in ihrer Freiheit einzuschränken, | |
sagt Gupta. | |
Die erste Auflage des 88-seitigen Hefts erschien auf Englisch, bald folgten | |
Indiens einheimische Sprachen Hindi, Bengali, Telugu und mittlerweile knapp | |
20 weitere Sprachen, zuletzt Simbabwes wichtigste Landessprache Shona. Die | |
Charaktere passte Zeichner Paul für das afrikanische Publikum an. | |
Gupta hat mit „Menstrupedia“ bisher über 50.000 Mädchen und Frauen | |
aufgeklärt. In Indien wurden die Hefte in Kooperation mit Organisationen | |
wie dem UN-Kinderhilfswerk Unicef an 10.000 Schulen verteilt. Die | |
Covid-19-Pandemie hat diese Arbeit vor Ort entschleunigt, da Schulen | |
geschlossen wurden. Gupta, die sich kürzlich von einer Corona-Infektion | |
erholte, setzt in dieser Zeit auf Workshops mit Pädagogen, Eltern und | |
Kindern. | |
Zwei weitere Pläne hat sie in diesem Jahr noch. „Wir haben festgestellt, | |
dass ältere Mädchen Jüngere aufklären“, sagt Gupta. So arbeitet sie an | |
einer Smartphone-App für die Großen. Szenen aus dem Comic wurden vertont | |
und lassen sich [15][auf Youtube als Videos] finden. Und ihr Mann Paul hat | |
sich mit Jungs auseinandergesetzt, die in die Pubertät kommen. Der nächste | |
Aufklärungscomic ist also schon druckreif. | |
Natalie Mayroth, Mumbai | |
Kenias Frauen und Mädchen offene Gespräche ermöglichen | |
„Weltweit ist Kenia ein Beispiel dafür, wie man mit Menstruation umgehen | |
soll in ein Entwicklungsland. Aber es bleibt noch vieles zu wünschen | |
übrig“, sagt Roisa Kerry bei einer Tasse Dawa, ein kenianisches Getränk aus | |
heißem Wasser, Honig, Ingwer und Zitrone. Das sei eine leckere Medizin | |
gegen Corona, sagt die 31-Jährige mit einem Augenzwinkern. | |
Kerry ist Heilprakterin und setzt sich mit ihrer NGO „Live Healthy | |
Initiatives“ für vieles ein, was mit Gesundheit zu tun hat. „Menstruation | |
braucht einen multisektoralen Ansatz. Es geht nicht nur um Zugang zu | |
Binden. Es geht auch um Hygiene, also [16][Vorhandensein von sauberem | |
Wasser], privaten und guten Sanitäranlagen und Information.“ | |
Kenia war 2004 eines der ersten Länder der Welt, das die Mehrwertsteuer auf | |
Binden strich, um sie für die Ärmsten bezahlbarer zu machen. Staatliche | |
Schulen bekommen von den Behörden Binden, die sie [17][umsonst an | |
bedürftige Schülerinnen verteilen sollen]. Auch hat die Regierung ein | |
Regelwerk für wiederverwendbare Binden geschaffen, da es in Kenia diverse, | |
aber nicht genügend Projekte von NGOs, Kirchen und anderen Organisationen | |
dafür gibt. | |
Ein Paket Wegwerfbinden kostet in Kenia immerhin umgerechnet knapp einen | |
Euro. „Das ist viel Geld für eine Familie, die von einem Euro pro Tag leben | |
muss“, erklärt Kerry. „In so einer Situation sind Binden weniger wichtig | |
als Nahrung.“ Und obwohl Schulen kostenlose Binden verteilen, haben | |
Schülerinnen nicht immer Zugang dazu, weil manche Lehrkräfte sie für ein | |
Nebeneinkommen verkaufen oder an Familienmitglieder verschenken. Kerry hat | |
eine Alternative: „Die Lösung ist ein Bindenspender. Die Mädchen bekommen | |
von den Behörden jeden Monat einen Token, womit sie sich die Binden aus dem | |
Spender holen können. Diese Behörden müssen dann auch die Automaten | |
füllen.“ | |
Die Covid-19-Pandemie hat das Dilemma vergrößert. Kenias Schulen waren | |
beinahe ein Jahr lang geschlossen, was für viele Mädchen ein Jahr ohne | |
Binden bedeutete. | |
Kerry bildet Freiwillige aus, die in Schulen und Jugendvereinen | |
Informationen über Menstruation weitergeben – nicht nur an Mädchen, sondern | |
auch an Jungen. „Es geht immer besser mit der Erläuterung. Dabei helfen | |
auch die Sozialen Medien“, meint Kerry und zeigt ihre | |
Aufklärungsmaterialen. | |
Wie schnell die Zeiten sich ändern, zeigt Kerrys eigene Erfahrung als | |
junges Mädchen. „Ich sprach nie mit meiner Mutter über die Periode. Wenn | |
ich sie bekam, kaufte ich Watte, weil die anderen Mädchen in der Schule das | |
auch so machten. Meine Schwester, die vier Jahre jünger ist, hörte ich | |
eines Tages meine Mutter um Geld fragen, um Binden zu kaufen. Ich war | |
damals entsetzt, dass man über so etwas sprechen konnte.“ | |
Ilona Eveleens, Nairobi | |
28 May 2021 | |
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