# taz.de -- Roter Reis zur Menstruation: Ein Schälchen Trost | |
> Der Umgang mit Menstruation ist komplex. In vielen Staaten wird die Regel | |
> tabuisiert, in anderen zelebriert – und in Japan beides gleichzeitig. | |
Bild: Auch zum Neujahrsfest wird das rötlich schimmernde Reisgericht serviert | |
Am Abend des Tages, an dem meine japanische Mutter ihre erste Blutung | |
bekam, gab es Osekihan zum Essen – Klebreis mit Azukibohnen, die den weißen | |
Reis rötlich färben. | |
An ihr konkretes Alter an jenem Tag kann sie sich nicht mehr erinnern, wohl | |
aber an die Verwirrung, die sie empfand, als sie dunkle Flecken in ihrer | |
Unterwäsche entdeckte. Ohne zu ahnen, was es damit auf sich hatte, warf sie | |
die befleckte Wäsche aufs Bett und ging zum Kalligrafie-Unterricht – von | |
dem ihre Mutter, meine Großmutter, sie hektisch abholte. „Ich hatte keine | |
Ahnung, worum es ging, aber war froh, dass ich schwänzen durfte“, erzählt | |
meine Mutter mir grinsend knapp fünf Jahrzehnte später. | |
Dass zu jenem Anlass Osekihan serviert wurde und noch heute wird, sagt viel | |
darüber aus, wie Japan zur Menstruation steht. Denn das Gericht, das aus | |
Mochigome – so wird Klebreis auf Japanisch genannt – besteht, wird für | |
gewöhnlich zu feierlichen Anlässen aufgetischt. | |
An Neujahr etwa oder zu Obon, dem buddhistischen Feiertag zur Erinnerung an | |
verstorbene Ahnen. Auch bei einem Umzug oder einer Geburt gibt es Osekihan. | |
Der rote Reis gilt als Glückssymbol, wie meine Mutter mir erklärt, und da | |
man das Glück auch gern mit anderen teilt, hat meine Großmutter oft gleich | |
auch die Nachbarschaft und Verwandte mit ihrem frisch gekochten Osekihan | |
bedacht. | |
## Bekommen das etwa alle aus der Nachbarschaft mit? | |
Ich möchte wissen, ob der rote Reis der ersten Monatsblutung auch an die | |
Nachbarschaft verteilt wird. Meine Mutter lacht auf: „Nein, das geht doch | |
niemanden etwas an!“ Nun ja: fast niemanden. Sie erinnert sich noch, wie | |
unangenehm es ihr war, als der rote Reis abends vor ihrem Vater serviert | |
wurde. Ob er etwas dazu gesagt habe, frage ich. „Nein. Er hat den Reis | |
stumm zur Kenntnis genommen und gegessen.“ | |
Dass meine Mutter vor ihrer ersten Blutung nichts von der Menstruation | |
wusste, überrascht mich ein wenig. Denn auch, wenn mir als Kind | |
schleierhaft war, warum meine Mutter blutete, wusste ich wenigstens, dass | |
sie blutete. Ich wusste, dass sie Tampons verwendete, weil ich sie mehrmals | |
damit im Bad gesehen hatte. Ich wusste auch, dass die Menstruation eine | |
Qual sein kann, weil meine Mutter immer Schmerzmittel nehmen musste, um | |
während der Regelblutung irgendwie den Alltag zu schaffen. | |
„Oma hat es eben gut versteckt“, sagt meine Mutter zu mir. Nie habe ihre | |
Mutter über Bauchschmerzen geklagt oder über ihre Blutung gesprochen – | |
wohl, weil die Menstruation tabuisiert war, zumindest damals, in ihrer | |
Familie. „Du hast es vor mir dann aber nie versteckt“, merke ich an. „Es | |
ist ja auch nichts, wofür man sich schämen muss“, sagt meine Mutter. | |
## Blutend Marathon laufen oder Fotos auf Instagram posten | |
Die Zeiten ändern sich eben, und das gilt auch für [1][den Umgang mit der | |
Periode]. Im Jahr 2014 erklärte die Berliner NGO Wash United den 28. Mai | |
[2][zum „Internationalen Tag der Menstruationshygiene“], mit dem Ziel, die | |
Menstruation zu enttabuisieren, damit der Zugang zu Hygieneprodukten global | |
vereinfacht wird. | |
Ein Jahr darauf gingen Bilder der Musikerin Kiran Gandhi um die Welt, als | |
sie den Londoner Marathon frei blutend bewältigte, und die Künstlerin rupi | |
kaur veröffentlichte ein Foto von sich mit rot befleckter Hose und | |
Bettlaken auf Instagram – mit der Folge, dass das soziale Netzwerk das Foto | |
zensierte. Als Kaur das Bild erneut postete, diesmal mit einem kritischen | |
Kommentar gegenüber der Plattform, erfuhr sie Zuspruch aus aller Welt. | |
Heute hat [3][das Foto] 110.000 Likes. | |
In den USA werden heute [4][„Period Parties“] gefeiert, menstruierende | |
Teenager bekommen dabei lauter rote Speisen serviert, von Kuchen mit rotem | |
Gratulationsschriftzug über Pasta mit Tomatensoße bis zu Granatapfelsaft. | |
## Lieblingsessen spendet Trost bei Schmerzen | |
Als es bei mir so weit war, gab es bei uns zu Hause übrigens: gar nichts. | |
Und das hatte einen simplen Grund. Meine Mutter isst roten Klebreis nicht | |
gern. Ich hingegen schon, für mich sind die roten Azukibohnen geschmacklich | |
und von ihrer Konsistenz her ein wahrer Genuss. Schon als Kind liebte ich | |
Zenzai, eine süße rötliche Bohnensuppe mit Mochi, also Reiskuchen. | |
Noch lieber esse ich Sakuramochi, eine Süßspeise, die aus rot gefärbtem | |
Klebreis mit Azukibohnen-Füllung besteht. Das Ganze ist in ein gesalzenes | |
Kirschblatt gewickelt und gibt dem Nachtisch eine unvergleichliche | |
süß-salzige Note. Wenn ich heute Osekihan esse, streue ich immer eine Prise | |
Salz, häufig mit schwarzem Sesam dazu, um der klebrigen Reismasse in meinem | |
Schälchen einen besonderen Pfiff zu geben. | |
Auf die klebrige Masse, die sich eines Tages erstmals in meinem Slip | |
wiederfand, hätte ich allerdings gut verzichten können. Ich erinnere mich | |
an viele Momente, in denen ich mich für meine Menstruation schämte. Und ich | |
würde mich noch heute schämen, sollte ich einmal einen roten Fleck auf | |
einer weißen Hose haben, sichtbar für alle. Denn auch wenn meine Mutter mir | |
vorgelebt hat, dass die monatliche Blutung ein normaler biologischer | |
Vorgang ist, fühle ich mich immer noch zu unwohl damit, um diesen Vorgang | |
mit meinem Umfeld zu teilen. | |
Mit meiner Heimlichtuerei scheine ich nicht allein zu sein. Wenn | |
Kolleg:innen mich im Büro diskret per Chat fragen, ob ich einen Tampon | |
dabeihabe, reiche ich ihnen wortlos, ohne dass ein männlicher Kollege es | |
mitbekommen könnte, mein kleines Notfalltäschchen mit Tampons, Binden und | |
Gummis. | |
## Nicht alle wollen's feiern | |
Der Umwelt zuliebe bin ich mittlerweile aber auf Menstruationstassen | |
umgestiegen. Und natürlich bin ich dafür, dass man die Menstruation, | |
insbesondere die erste Blutung, mit der Mutter bespricht. Meinetwegen kann | |
es auch ein Festmahl dazu geben. Aber nicht, um die Periode zu zelebrieren, | |
sondern um das leidende Kind aufzuheitern. | |
Denn die Regel ist und bleibt für viele Menstruierende vor allem eins: | |
lästig. Alle drei Wochen werde ich von höllischen Krämpfen heimgesucht, | |
manchmal so schlimm, dass ich nur im Bett liegen kann. Noch immer ist | |
[5][Endometriose kein gängiger Begriff]. In der Medizin werden Wucherungen | |
der Gebärmutterschleimhaut so bezeichnet. Betroffene leiden während ihrer | |
Menstruation besonders. Eine [6][Krankschreibung nach spanischem Modell] | |
wäre ein erster Schritt, um die Lage dieser Menstruierenden zu verbessern. | |
Letztlich haben „Period Parties“ und Osekihan einen Zweck: Ein junger | |
Mensch wird dafür gefeiert, dass er gebärfähig ist. Für all jene, die nie | |
schwanger werden wollen, bleibt die Periode indes teuer und lästig. Eine | |
leckere Speise zum „ersten Mal“ ist dann immerhin ein netter Trost. | |
29 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Tabuthema-Menstruation/!5429999 | |
[2] /Internationaler-Tag-der-Menstruation/!5775167 | |
[3] https://www.huffpost.com/entry/rupi-kaur-instagram-period-photo-series_n_72… | |
[4] https://www.huffpost.com/entry/period-parties-are-a-thing_l_5bfc2cace4b03b2… | |
[5] /Unterleibskrankheit-bei-Frauen/!5833768 | |
[6] /Diskussion-ueber-Menstruationsbeschwerden/!5853996 | |
## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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