# taz.de -- Ein Leben voller Heimweh: Keine Flucht aus dem Kummer | |
> Mit mehreren Nationalitäten und Kulturen aufzuwachsen bringt Vorteile mit | |
> sich. Ein Nachteil? Man kämpft ein Leben lang mit Heimweh. | |
Bild: Sehnsuchtsmoment: Blühende Kirschbäume am Hanami-Fest im Frühling in T… | |
Vor einigen Wochen lief ich meine abendliche Spazierrunde im Berliner | |
Humboldthain. Als ich durch die Tore des Rosengartens ging und zwischen | |
Gebüschen den gepflegten Blumengarten betrat, erblickte ich zwei kleine | |
Mädchen. Vermutlich im Alter von drei bis fünf. Beide trugen rosa | |
Sommerkleider und rannten kreischend an mir vorbei. Während ihr Lachen den | |
Park umhüllte, blieb in meinem Hals ein Klumpen Schwermut stecken. | |
Mit mehreren Nationalitäten aufzuwachsen hat seine Vorteile. Hat die | |
Familie [1][genug Geld, Stabilität und Glück], wachsen die Kinder mit | |
verschiedenen Kulturen und Sprachen auf. Sie haben dann ein breiteres | |
Wissen über Geographie, Politik und Geschichte – aber auch Kunst, Musik und | |
Film. In meinem Fall ist der Cocktail aus Japan und Deutschland zusätzlich | |
vom Vorteil, denn die beiden Länder strotzen vor Privilegien. | |
Der Nachteil von so einem Leben ist, dass man stets Heimweh hat. Nach | |
Orten, Lebensgewohnheiten und Menschen. Ich war acht oder neun, als ich zum | |
ersten Mal realisierte, dass ich nun dauerhaft in Deutschland leben würde. | |
In einem Land, in dem ich die Sprache nicht verstand. In der Umkleidekabine | |
der Turnhalle brach ich in Tränen aus, ich muss das Wort Japan geschluchzt | |
haben. Meine Mitschülerinnen umzingelten mich und fragten: „Hast du | |
Heimweh?“ | |
Der Begriff brannte sich ein in mein Vokabular wie eine Narbe. | |
## Nicht am Leben der Familie teilhaben können | |
Es gibt keinen Tag, an dem Heimweh nicht auftaucht. Nach den | |
[2][kulinarischen Köstlichkeiten], die sich an Straßenständen | |
aneinanderreihen. Nach den heißen Sommertagen mit singenden Zikaden und | |
angenehmem Winter mit läutenden Tempelgongs. | |
Aber vor allem ist es die Familie, die fehlt. Großeltern, die jährlich | |
schrumpfen. Cousins, die heiraten und Kinder kriegen. Die einzige | |
Schwester, die man hat, die eigentlich immer hinter einem hergelaufen ist, | |
die immer alles nachmachen musste – und auf einmal ist sie erwachsen und | |
lebt acht Zeitzonen entfernt. Alle zwei Wochen halte ich mir meinen | |
Sonntagmittag frei, um mit einem Brunch vor dem Bildschirm zu sitzen und | |
Stunden lang zu plaudern, während sie beim Abendessen ist. Um dann von der | |
Stille verschluckt zu werden, sobald sie auflegt. | |
Seit meinem letzten Aufenthalt in Japan hat meine Familie ein neues Leben | |
gewonnen und ein anderes verloren. Die Freude und der Schmerz fühlen sich | |
surreal an, solang die Geschehnisse nur über das Handydisplay verlaufen. Es | |
erwischt einen alles auf einmal, sobald man sich sieht – oder eben nicht. | |
## Keine Ruhe vom Vermissen | |
Beim Spazierengehen denke ich stets an den Moment der Landung. An | |
beschleunigte Schritte, die am Flughafen in Tokyo zielstrebig gen Ausgang | |
gerichtet sind. An den Moment, wenn ich in die erfreuten Gesichter blicke, | |
die am anderen Ende der automatisierten Türen auf mich warten. Der Moment, | |
an dem alles gut werden wird, weil ich endlich da bin nach so langer Zeit. | |
Nur wird es diesen Moment nicht geben, zumindest nicht so vollkommen, wie | |
ich es mir wünsche, denn Heimweh verfolgt mich weiter. Er tritt ein, bevor | |
ich überhaupt gelandet bin. Es ist die Wehmut über den Ort, den ich | |
verlassen muss. Das Vermissen derjenigen, die ich in Deutschland | |
zurücklasse. Freundinnen und Freunde. Eltern. Das nächtliche Tanzen an der | |
Spree. Das Arbeitsumfeld, weil ich mit vielen tollen Menschen zusammen | |
arbeite. Eine der Heimaten fehlt immer, wo auch immer ich mich aufhalte. | |
11 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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