| # taz.de -- Manieren in der Öffentlichkeit: Die Outcasts tanzen nachts | |
| > Die japanische Gesellschaft ist bekannt für ihren rücksichtsvollen Umgang | |
| > mit ihren Mitmenschen. Es gibt aber auch welche, die von der Norm | |
| > abweichen. | |
| Bild: Sobald es dunkel wird, tummeln sich auf Tokios Straßen jene, die von der… | |
| In Japan trägt fast jeder Mann einen Anzug, wenn er morgens zur Arbeit | |
| fährt. Auch bei 38 Grad Außentemperatur. Wenn Japaner:innen umgekehrt | |
| in Deutschland sind, wundern sie sich über die Kleidung der morgendlichen | |
| Bahnfahrgäste. „Haben die heute alle frei?“, fragen sie dann. Erzählt man | |
| ihnen, dass Hoodie und Jeans auch im Büro getragen werden dürfen, staunen | |
| sie nicht schlecht. | |
| Anzug tragen ist nicht das Einzige, das die japanische Gesellschaft | |
| vereinheitlicht. Seit Ausbruch des Coronavirus tragen die Menschen in der | |
| Öffentlichkeit [1][stets eine Maske]. Auch im Sommer, beim Joggen. Beim | |
| Fahrradfahren. Im Fitnessstudio. Im Club. Nicht so pseudo unter der Nase | |
| hängend, sondern fest über Mund und Nase. Wer keine trägt, fällt auf. | |
| Wie sollen sie denn da eine quarzen, fragt sich vielleicht der eine oder | |
| andere. Die Antwort – gar nicht. Neben den Bordsteinkanten liegen keine | |
| halb aufgerauchten Zigarettenstummel herum, denn [2][rauchen ist auch] | |
| [3][auf den Straßen] [4][an vielen Orten verboten]. Für diejenigen, die | |
| trotzdem rauchen wollen, gibt es vorgesehene Rauchspots. Wer außerhalb | |
| dieser Bereiche raucht, kann mit Bußgeld bestraft werden. | |
| Auch in der Bahn achten die Menschen darauf, niemanden zu stören. Geredet | |
| wird kaum, und wenn, dann in Flüsterton. In großen Städten wie Tokyo fahren | |
| manche zwei Stunden mit der Bahn zur Arbeit und abends wieder zwei Stunden | |
| zurück. Viele wollen in diesen Morgenstunden ihre einzig mögliche Ruhe | |
| genießen, und diese bekommen sie auch. Jede:r für sich eingekehrt, auf den | |
| Smartphone starrend, den Tag beginnend. | |
| ## Wer aus dem Raster fällt, wird nicht aufgefangen | |
| Schon Kindern wird in Japan eingeprägt, dass gesellschaftlicher Komfort | |
| großen Wert hat. Niemand soll nur an sich denken, alle denken kollektiv. | |
| Den Alltag so leben, dass niemand anderes davon belästigt wird – die | |
| Vorteile von dieser Ruhe und dieses rücksichtsvollen Umgangs genießt die | |
| Gesellschaft letztendlich selbst. Daher lehnen sich nur wenige dagegen auf. | |
| Jene, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen können, werden | |
| gnadenlos ausgegrenzt, manche sogar aussortiert. Also Obdachlose, | |
| Drogenabhängige, psychisch Kranke. Auf Menschen, die Mord begangen haben, | |
| [5][wartet die Todesstrafe]. Nur wenige wollen ihnen eine Chance geben, | |
| damit sie den Weg zurück in die Gesellschaft finden. | |
| Abends aber, Stunden nachdem die Sonne untergegangen ist, kommen manche der | |
| Outcasts aus ihrem Loch. Außenseiter:innen, die nicht ins System passen | |
| oder passen wollen. Queers, die ihre Neigung frei zum Ausdruck bringen. | |
| Tätowierte, die ihre Kunst auf dem Körper nicht mehr verbergen. | |
| Tänzer:innen, die auf den Straßen ihre Bühne finden. Auf einmal sind die | |
| Menschen bunt und frei, mehr als die Hälfte verzichtet auf die Regeln, die | |
| tagsüber gelten. | |
| Die Outcasts genießen ihre Freiheit aber nur für wenigen Stunden bei Nacht. | |
| Sobald die erste Bahn wieder fährt und die Männer mit ihren Anzügen die | |
| Waggons füllen, verkriechen sich die Outcasts in ihre Unterschlüpfe. Und | |
| warten wieder auf die Abendstunden, um ihren Raum einzunehmen. | |
| 27 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Shoko Bethke | |
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