# taz.de -- Spirituelles Ritual: Lass es fließen | |
> Gemeinsam meditieren, singen und tanzen. Das Ziel: die Menstruation | |
> feiern, sich mit inneren Göttinen verbinden – und patriarchalen | |
> Strukturen trotzen. | |
Bild: Wut ist besser als Selbstunterwerfung – auch für Frauen | |
Vier Frauen sitzen um eine Postkarte, die gruseliger kaum sein könnte. Die | |
darauf abgebildete Figur hat ihre Augen so weit aufgerissen, dass die | |
dunkle Iris im wahrsten Sinne aus dem Weiß außenrum hervorsticht, sich in | |
einen hineinbohrt. Den Mund ebenso, die Zunge hängt bis weit über das Kinn | |
heraus, hinter dem verzerrten Gesicht fliegen die dunklen Haare. Alles | |
gestaltet in Orange und Rot. Würde diese Karte eine Emotion beschreiben, es | |
wäre Wut. | |
Von der Wirklichkeit ist diese Vermutung gar nicht weit entfernt. Die Figur | |
auf der Postkarte, die hier neben zwei weiteren, einigen Edelsteinen, | |
Kerzen und einer Figur aus dunklem Holz auf einer gehäkelten runden Decke | |
auf einem roten Teppich liegt, zeigt Kali. Ihr ist die Zeremonie, die | |
gerade im Wohnzimmer einer Altbauwohnung im Berliner Stadtteil Schöneberg | |
stattfindet, gewidmet. | |
Eine Frau mit roten Stulpen schlägt mit einem Schlägel auf eine flache | |
Holztrommel. Mit tief vibrierender Stimme singt sie einen Singsang aus | |
Lauten, der an die Urvölker Amerikas denken lässt. In der Luft liegt schwer | |
der Geruch des Räucherholzes Palo Santo und verbrannten Salbeis. Die langen | |
dunkelbraunen Haare der Frau fallen ihr beim Singen ins Gesicht. Sie legt | |
die Trommel beiseite und wirft das Haar mit beiden Händen hinter ihre | |
Schultern. „In unserer patriarchalen Gesellschaft wird das Weibliche | |
unterdrückt. Es wird kein Raum dafür gelassen. Hier im Red Tent können wir | |
unsere Gedanken und Erfahrungen teilen, uns Mut machen, wieder Frau sein“, | |
sagt sie zu den Frauen, die auf dunkelroten Sitzkissen im Kreis um die | |
Häkeldecke herumsitzen. Sie alle tragen etwas Rotes: rote Stulpen, rotes | |
T-Shirt oder roten Pullover. | |
Dass Rot die dominante Farbe im Raum ist, ist kein Zufall. „Red Tent“, also | |
rotes Zelt, ist der Name dieser Zeremonie. Es ist ein spirituelles Treffen | |
für Frauen. Einmal im Monat findet es statt, entweder zum Neu- oder zum | |
Vollmond. Nicht nur hier in Berlin, sondern in verschiedenen Städten | |
Deutschlands, Europas, der Welt. Die Tradition dieser Zelte ist eine alte: | |
„In den matriarchalen Urvölkern trafen sich Frauen, wenn sie ihre | |
Menstruation hatten, in einem Zelt außerhalb der Stadt, um die Göttin zu | |
feiern“, sagt Isabel Sofia Leite Mendes Benz, die zusammen mit Maria dos | |
Passos die Treffen gestaltet. Diese Tradition geriet in Vergessenheit. Bis | |
1997 ein Roman erschien, „The Red Tent“ von Anita Diamant. Darin wird die | |
Geschichte der biblischen Figur Dina erzählt, die in einem roten Zelt | |
aufgenommen und umsorgt wird, nachdem sie vergewaltigt worden war. | |
## Pille, Kinder, Unterdrückung | |
Inspiriert von diesem Roman werden immer mehr Frauenzirkel veranstaltet, | |
Monat für Monat werden es mehr. Leite Mendes Benz und dos Passos gründeten | |
ihr Red Tent vor gut einem Jahr. Die beiden Frauen stammen aus Portugal, | |
leben schon einige Jahre in Berlin, lernten sich auch hier kennen. Beide | |
eint ein großes Interesse an Spiritualität, Isabel Sofia Leite Mendes Benz | |
beschäftigt sich vor allem mit dem Mond, Maria dos Passos ist ausgebildete | |
Schamanin und praktiziert den tibetischen Buddhismus. Als sie sich trafen, | |
kam das Gespräch schnell auf das Thema Weiblichkeit – und die Idee des | |
gemeinsamen Frauenzirkels war geboren. | |
Maria dos Passos, die Frau mit den roten Stulpen, nimmt die Holzfigur von | |
der Häkeldecke in die Hand, hält sie auf Höhe des Herzens, schließt die | |
Augen und atmet tief ein. Dann gibt sie das Holz herum. Wer es in der Hand | |
hält, erzählt von sich. Da ist die Frau, die zehn Jahre die Pille genommen | |
hat und nun bereut, ihren Körper so unterdrückt zu haben. Da ist die, die | |
angestrengt ist von der Erziehung der Kinder. Oder die, die es einfach | |
genießt, weibliche Energie um sich zu haben. Unterbrochen wird niemand. Die | |
Frauen hören aufmerksam zu, nicken, bedanken sich für das Teilen der | |
Erfahrungen. Erst einige Minuten läuft diese Zeremonie, und doch erzählen | |
Fremde hier Gedanken, die sonst gesellschaftlich stigmatisiert sind, | |
verschwiegen werden – wie eben die Schwierigkeiten einer Mutterschaft. Die | |
Atmosphäre lädt dazu ein: Obwohl dieser Raum kein rotes Stoffzelt ist, | |
woran der Name der Veranstaltung denken lässt, ist er warm und gemütlich. | |
Dass Frauen spirituelle Zirkel wie diesen vermehrt in jenen Zeiten | |
aufsuchen, in denen Probleme und Rechte von Frauen in den Vordergrund der | |
medialen Aufmerksamkeit gerückt werden, in denen Diskussionen wie | |
[1][#metoo] monatelang anhalten, ist ein spannendes Phänomen. Sie zeugen | |
von einem wachsenden Bewusstsein, das sich nicht nur über Ländergrenzen | |
hinweg, sondern auch in verschiedenen Kreisen, den weltlichen wie den | |
spirituellen, ausbreitet. Immerhin eint die beiden Bewegungen der Wille, | |
der Unterdrückung der Frauen im Patriarchat entgegenzuwirken, indem sie | |
sich zusammentun, sich austauschen, sich solidarisieren, empowern. Ist | |
dieser Raum mit dem roten Teppich vielleicht Teil einer Revolution? Die | |
Red-Tent-Bewegung die spirituelle Schwester der politischen Frauenbewegung? | |
„Om Mata Om Kali“, klingt ein Mantra aus einem Laptop, der auf einem Tisch | |
an der Wand steht. Der spirituelle Vers richtet sich an jene | |
furchterregende hinduistische Göttin. Sphärische Klänge begleiten ihn, | |
werden dominiert von einer Akustikgitarre. Die Teilnehmerinnen singen das | |
Mantra, sitzen dabei erst auf ihren Knien, der Oberkörper vorgebeugt, | |
bewegen ihre nach vorne gestreckten Arme langsam zur Musik. Aus ihren | |
zaghaften Bewegungen wird ein Tanz, sie setzen sich auf, kreisen mit den | |
Armen, stehen auf, drehen und schütteln sich, hüpfen, klatschen. Eleganz | |
ist egal, denn beeindruckt werden will hier niemand, sondern die Musik und | |
die Bewegungen spüren. Als das Lied zu Ende ist, setzen sie sich zurück in | |
den Kreis auf die dunkelroten Sitzkissen, schließen die Augen, meditieren. | |
## Mit dem Mond verbunden | |
Für Isabel Sofia Leite Mendes Benz ist die Göttin Kali Sinnbild für eine | |
Seite der weiblichen Natur, die heutzutage unterdrückt wird: „Wir haben | |
gelernt, dass Frauen immer höflich und glücklich sein sollen. Kali zeigt | |
uns, wie wir unsere Wut und Aggression ausdrücken, unseren angesammelten | |
Schmerz heilen können.“ Das Ziel der Zeremonie und des Tanzes: Die Frauen | |
sollen sich mit ihrer Essenz verbinden, mit ihrem inneren Feuer, mit der | |
wilden Frau und so die durch das Verbot gestockte Energie wieder zum | |
Fließen bringen. | |
Das Wissen um diese verloren gegangene Magie wieder zu verbreiten ist neben | |
dem Austausch eine weitere Idee der Red Tents. Neben Kali geht es heute um | |
den Mond. Leite Mendes Benz zeigt mit der linken Hand auf ein Stück grüner | |
Tonpappe, das mittlerweile auf dem Boden liegt. Mit der anderen streicht | |
sie langsam über ihren gewölbten Bauch. Sie ist im sechsten Monat | |
schwanger. Auf der Pappe abgebildet ist ein Kreis, darin die vier | |
Mondphasen. „Jede Frau ist mit dem Mond verbunden“, sagt sie. „Ihr Zyklus | |
dauert ungefähr 28 Tage, genau wie der des Mondes.“ Und genauso wie er | |
wandere sie durch vier verschiedene Phasen – nicht nur im Zyklus, sondern | |
in jedem Jahr und im gesamten Leben. | |
Sie entsprechen vier Archetypen: Der Neumond zum Beispiel markiert die Zeit | |
der Menstruation. Das Lebendige wird abgestoßen, sie steht also für den | |
Tod, das Ende des Lebens. Bezogen auf ein Jahr bedeutet dies den Winter, | |
bezogen auf das Leben einer Frau den Archetyp der alten, weisen Frau. In | |
dieser Phase wolle frau sich zurückziehen und für sich sein. Der Vollmond | |
hingegen bedeute den Eisprung, den Sommer, die Mutter. Eine Zeit, um sich | |
zu nähren und etwas zu schaffen – weswegen dieses Treffen auch bei Vollmond | |
stattfindet. | |
Dass eine Frau nicht mehr um diese Zusammenhänge weiß, dafür sehen dos | |
Passos und Leite Mendes Benz die Gründe in den gesellschaftlichen | |
Strukturen. „Ich bin aufgewachsen in einem Haushalt mit fünf Frauen und | |
zwei Männern“, sagt Maria dos Passos. „Ich habe mich damals nicht so | |
gefreut, eine Frau zu sein. Es war für mich immer mit Leiden und Schmerz | |
verbunden. Gleichzeitig darf man darüber nicht reden, die Menstruation gilt | |
als unrein und eklig.“ Erst nachdem dos Passos einen langen spirituellen | |
Weg gegangen ist, habe sie erkannt, welche Magie darin steckt, eine Frau zu | |
sein. „Niemand hat mir zuvor davon erzählt. Warum? Wir sind vier | |
Schwestern!“ | |
## Kraft sammeln für die Revolutution | |
Die vier Frauen halten sich an den Händen, die Augen geschlossen. Die | |
Zeremonie ist beendet. „Und jetzt lasst uns essen!“, sagt Maria dos Passos | |
und springt auf. Aus der Red Tent-Bewegung mag keine Revolution werden, die | |
im Alleingang das Patriarchat stürzt. Aber sie bietet Kraftorte für all | |
jene, die die Verbindung zu sich selbst im Spirituellen suchen. Und Kraft | |
braucht eine Revolution. Vor allem, wenn es die der wütenden Göttin Kali | |
ist – zur Zerstörung und Erneuerung. | |
4 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Maike Brülls | |
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