Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sexualisierte Gewalt: #MeToo: Was hast du erlebt?
> Unsere Gesellschaft hält nicht viel Platz bereit, um über Verwundung und
> Hilflosigkeit zu sprechen. Was wir brauchen, ist eine Kultur des
> Vertrauens.
Bild: Schauspielerin Alyssa Milano rief unter #MeToo dazu auf, Gewalterfahrunge…
Das Gemeine am gesellschaftlichen Fortschritt ist, dass man ihn nicht
messen kann, wenn man mittendrin steckt. Die Formel all derer, die an
Fortschritt glauben und noch Hoffnung haben, lautet: Da tut sich was.
Oder anders ausgedrückt: Insgesamt ist die Lage vielleicht beschissen, aber
nicht mehr ganz so schlimm wie gerade eben noch. Wenn die Ehe für alle
beschlossen wird, tut sich was. Wenn Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren
dürfen, tut sich was. Oder wenn Fremde auf Twitter miteinander über
sexuelle Gewalt ins Gespräch kommen, dann tut sich auch was.
[1][Der Aufschrei, den der Skandal um Hollywoodmogul Harvey Weinstein
ausgelöst hat, ist noch nicht verklungen.] Er wird sogar lauter. Und es
lohnt sich zu hoffen. Weil den Frauen, die dem Produzenten sexuelle
Belästigung und Vergewaltigung vorwerfen, zugehört und geglaubt wird.
Weil nach jahrelangem Geraune und Gerüchten nun doch große Medien
recherchiert haben, dass Harvey Weinstein seit Jahrzehnten seine Macht
benutzt, um Frauen zu erniedrigen, und sein Umfeld ihn dabei schützt. Und
weil seit Sonntag die öffentliche Debatte um einen neuen Aspekt erweitert
wurde.
## Das Ausmaß des Problems
In den sozialen Netzwerken schreiben Tausende unbekannte Frauen von ihren
alltäglichen Erfahrungen mit sexueller Gewalt unter dem Hashtag #MeToo (ich
auch). Es geht nicht mehr um Weinstein, es geht um Situationen von
Machtlosigkeit, denen Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. Alles keine
Neuigkeit und trotzdem eine Nachricht wert.
Die Schauspielerin Alyssa Milano, bekannt aus der Mysteryserie „Charmed –
Zauberhafte Hexen“, hatte dazu aufgerufen. Am vergangenen Sonntag schrieb
sie auf Twitter: [2][„Wenn alle Frauen ‚Ich auch‘ schreiben würden, kön…
wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“]
Dies sei die Idee eines Freundes und alle, die sich angesprochen fühlen,
sollten auf diesen Tweet mit „Me too“ antworten. Mehr als 30.000 folgten
und auch auf Facebook und Instagram wird seitdem unter #MeToo diskutiert.
Darunter sind Berichte von vielen Frauen, aber auch Männern, die
vergewaltigt, beschimpft und genötigt wurden. Oder die einfach nur #MeToo
schreiben, ohne sich weiter erklären zu müssen.
Wer nicht so viel Hoffnung hat, denkt bestimmt: Schöne Idee, aber was
soll’s bringen? Wie viel ist denn noch von der deutschen #Aufschrei-Debatte
übrig? Egal wie steil die Erregungskurve ansteigt, sie fällt auch immer
wieder, das ist ein Naturgesetz. Und es wird wieder einen Trump-Tweet geben
oder ein neues Spielzeug, das die Welt bewegt.
## Der Beginn eines Gesprächs
Optimistisch lässt sich dagegenhalten: Es geht darum, ein
gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen und Machtstrukturen zu
hinterfragen. Und das klappt heute besser als früher. Als es um die
Vergewaltigungsvorwürfe an Bill Cosby ging, wurde noch nicht so viel und
intensiv über sexuelle Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem
gesprochen. Sind wir einen Schritt weiter? Vielleicht.
Die größten Veränderungen sind sowieso die, die man im eigenen Umfeld
spürt. Deshalb ist #MeToo der viel schönere Hashtag als #Aufschrei: „Ich
auch“ ist der Beginn eines Gesprächs.
Vor ein paar Wochen war ich bei Freunden eingeladen. Nach dem Essen ging es
um das Erlebnis einer Bekannten in der Sauna. Ein Mann hatte sie dort
angesprochen. Er war ganz außer sich. Plötzlich, kurz bevor er in die Sauna
wollte, war ihm eingefallen, dass er als Kind im Schwimmbad vergewaltigt
worden war, und er gestand dies der ersten Person, die er traf.
Wir sprachen daraufhin lange über die Frage, ob das nicht auch ein
unzulässiger Übergriff sei, und über das Vergessen und Verdrängen, bis sich
plötzlich eine Person am Tisch auch an etwas erinnerte: an eine frühe
sexuelle Erfahrung und daran, dass diese nicht freiwillig war. Zum ersten
Mal in ihrem Leben kam sie auf den Gedanken, dass es sich ja hierbei auch
um sexuelle Gewalt handelte, und vertraute sich uns an. Genau darum muss es
gehen: um eine neue Kultur des Vertrauens.
## Sich anvertrauen
Unsere Gesellschaft hält nicht viel Platz bereit, um über Verwundung und
Hilflosigkeit zu sprechen. Wie schwer muss es sein, sich anderen wegen der
eigenen Vergewaltigung anzuvertrauen? Deshalb ist es beeindruckend, dass
Menschen öffentlich und unter ihrem Namen auf Facebook und Twitter von
ihren Gewalterfahrungen erzählen.
Aber mindestens genauso wichtig ist es, auch im eigenen Umfeld darüber ins
Gespräch zu kommen, eine Sprache für das Erlebte zu finden und sich
sichtbar zu machen. Um gemeinsam einzuüben, Gewalt zu erkennen und Macht zu
verstehen. Wer damit anfängt, hört bestimmt als Antwort: Ich auch.
Das ist natürlich beschissen. Aber trotzdem ein Fortschritt.
16 Oct 2017
## LINKS
[1] /!5454182/
[2] https://twitter.com/Alyssa_Milano/status/919659438700670976
## AUTOREN
Amna Franzke
## TAGS
Harvey Weinstein
Schwerpunkt #metoo
Sexualisierte Gewalt
#Aufschrei
Feminismus
sexueller Übergriff
Sexismus
Harvey Weinstein
Sawsan Chebli
Hollywood
Harvey Weinstein
Sexuelle Gewalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Spirituelles Ritual: Lass es fließen
Gemeinsam meditieren, singen und tanzen. Das Ziel: die Menstruation feiern,
sich mit inneren Göttinen verbinden – und patriarchalen Strukturen trotzen.
Kommunikationstrainerin über #MeToo: „Übergriffe nicht dulden“
Wann ist eine Anmache ein Übergriff, und wie kann man unterstützend tätig
werden? Fragen an Pia Kuchenmüller von „frauenhorizonte“ gegen sexuelle
Gewalt.
Debatte Sexismus: Flirtfreiheit des Mannes
In der Debatte über Sexismus zeigt sich die Verwirrung über die Grenze zur
sexuellen Belästigung. Wo hört ein Kompliment auf? Ein paar
Lösungsvorschläge.
#MeToo und sexualisierte Gewalt: Wer ist hier die Hexe?
Empathie und Likes genügen nicht. Mich interessiert: Wo warst du, als
andere sexualisierte Gewalt erlebten? Und was hast du getan?
Sexismusdebatte um Staatssekretärin: „Und dann sind Sie auch so schön!“
Sawsan Chebli macht Vorfall von einer Konferenz am Wochenende öffentlich
und erntet einen Shitstorm. Der beschuldigte Botschafter a. D. äußert sich
nicht.
Kolumne Macht: Der Fall Weinstein(s)
So lange sexuelle Übergriffe und Gewalt auf Verständnis treffen – es sei
denn, sie werden von Migranten verübt –, wird sich gar nichts ändern.
Missbrauchsvorwürfe gegen Weinstein: Der Domino-Effekt
Hollywood-Produzent Harvey Weinstein soll jahrelang Frauen sexuell
belästigt und missbraucht haben. Dass er nun entlassen wurde, ist ein
Meilenstein.
Harvey Weinstein und die US-Demokraten: „Jeder in Hollywood wusste es“
Es war ein offenes Geheimnis, dass Produzent Weinstein Frauen sexuell
belästigt hat. Jetzt positionieren sich die Demokraten, die er einst
unterstützte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.