# taz.de -- Essay Zur-Welt-Bringen in der Gegenwart: Geburt ohne Spuren | |
> Geboren wird heutzutage in einer spätmodernen Kultur der Angst. Deshalb | |
> soll auch das Unwägbare abgesichert sein. | |
Bild: Schwierige Frage: Wie ein Kind zur Welt bringen? | |
Kinder kriegen oder nicht? Wenn, wann? Adoptiert und in einem polyamoren | |
Netzwerk? Mit aufgetauter Eizelle, Spendersamen, Pränataldiagnostik, | |
inklusive 4D-DVD zum Mitnehmen oder medizinfrei? | |
So viele Fragen, so viele Entscheidungen. | |
Die Gestaltung des eigenen Lebens umfasst zunehmend, was einmal | |
biologisches oder natürliches Schicksal schien. Wir formen unsere Körper, | |
wir gestalten unseren Bio-Rohstoff – Foucault hat das Wort Biopolitik dafür | |
gefunden. Menschen tun dies schon immer, aber nun mit bisher ungekannten | |
Freiheitsgraden und gleichermaßen einmaligen Legitimationszumutungen. | |
Auch bei der Geburt ist das so. Sie wird in gesellschaftlicher und | |
milieuspezifischer Weise tradiert und findet in unterschiedlichen Rahmungen | |
statt: in Flüchtlingslagern, luxuriösen High-End-Kliniken, | |
anthroposophischen Zentren auf dem Land. | |
Historisch unterliegt das Gebären einem Wandel, in seinen Neuerungen jedoch | |
gibt er viel über die Gesellschaft preis. Bis ins 18. Jahrhundert war | |
Gebären ein Ereignis, das Frauen meist im privaten Kreis von Frauen | |
erlebten. Hebammen waren Heilkundige – und zeitweise massiv als Hexen | |
verfolgt. Trotzdem sind Hebammen bis heute wichtigste Ansprechpartnerinnen | |
für Schwangere. Noch. | |
## Sicherheitsverlangen mit hohen Kosten | |
Weil das Geburtserlebnis sicher sein soll, entsteht derzeit eine Paradoxie, | |
die auf dem Rücken der Hebammen ausgetragen wird. Die | |
Haftpflichtversicherung, die sie bezahlen müssen, ist so hoch, dass viele | |
Hebammen Geburten nun nicht mehr begleiten können. | |
Damit wird über die Versicherungspolitik eingelöst, was im 18. Jahrhundert | |
mit den „Accouchieranstalten“ anfing. Sie sind der Beginn der | |
akademisch-professionellen, vom Arztwissen bestimmten Geburtshilfe in | |
Deutschland. Ethisch höchst dubios, wurden diese Anstalten zunächst als | |
„Versuchslabore“ für unehelich Gebärende angelegt – gewissermaßen als | |
Strafe. Heute indes gebären in Deutschland über 95 Prozent in Kliniken und | |
halten dies meist für die verantwortlichste Form. | |
Gewandelt haben sich nicht zuletzt die relevanten Deutungen und | |
Klassifizierungen von Geburt: von „Du sollst unter Schmerzen gebären“ hin | |
zu: natürlich, gelungen, kompliziert, sanft, sicher und dergleichen. Solche | |
Deutungsmuster werden im Geflecht von medizinischem Wissen, technischer | |
Machbarkeit, kulturellen Traditionen, ökonomischen Imperativen und medial | |
vermittelten Idealvorstellungen zu subjektiven leiblichen Erfahrungen. | |
Geburt gilt als transzendentaler Moment. Folgt man den | |
sozialanthropologischen Studien von Marcel Mauss und Arnold van Gennep, ist | |
sie eine den ganzen Menschen erfassende, bio-physio-soziale, | |
außeralltägliche, geradezu sakrale Erfahrung. Der Körper agiert nicht nur | |
wie außer Kontrolle, eine Gebärende wird zum Leib; der Körper kann dabei | |
nicht ohne Weiteres auf strategische Distanz gebracht werden. | |
Nicht nur, aber auch und gerade für solche Situationen haben Gesellschaften | |
spezifische Rituale entwickelt, die die Unwägbarkeit einhegen sollen: | |
Amulette, Weihwasser, Beschwörungsformeln. Sie geben der Übergangserfahrung | |
des Zur-Welt-Kommens, des Außer-Sich-Seins und der leiblichen Totalität | |
eine gesellschaftliche Struktur. Wesentlich ist dabei, dass an die | |
Wirksamkeit und Richtigkeit der Rituale geglaubt wird. | |
## Die Exklusion des Zufälligen | |
Die Frage heute ist, wie die mit der Geburt einhergehende | |
Übergangssituation und die drohende (oder auch lockende) Selbsttranszendenz | |
gerahmt wird; und wie sich Übergangsrituale gegenwärtig darstellen. Eine | |
Antwort ist klar: Sich dem Zufall anzuvertrauen oder schicksalhaftes | |
Ausgeliefertsein an körperlichen Eigensinn zuzulassen ist nicht angesagt. | |
Dies wäre das verworfene Dunkle, das „Bäh“‘ des „unternehmerischen Se… | |
des an seine Autonomie und Individualisierung glaubenden Subjekts der | |
neoliberalen Gegenwart. Wer sich dem Lauf der Dinge im Allgemeinen, dem Hin | |
und Her der Wehen, dem Zufall einer Querlage des Kindes im Konkreten, | |
überlässt, ist Opfer – Schlimmeres gibt es kaum. | |
Alles kann, also muss alles gestaltet werden. So auch die Geburt. Sie wird | |
zu einem weiteren Projekt des sich selbst managenden Ich, das auf die | |
Generierung maximaler Autonomie bei maximaler Ressourceneffizienz | |
kalkuliert. Diesen unternehmerischen Müttern (und Vätern) in spe geht es | |
nicht um einen materiellen Gewinn im engeren Sinne. Entscheidend ist | |
vielmehr, dass die Rechnungen aufgehen: Bei der Geburt als Projekt wird | |
gemessen, abgewogen, kalkuliert, werden Kosten und Nutzen, Risiken und | |
Outputs evaluiert. | |
Technisch unterstützte Kontrolle ersetzt heute also das magische Ritual, | |
mit dem die Übergangssituation des Gebärens eingehegt wird. | |
Dies geschieht gerahmt von hochgradig normativen Deutungen, die ihrerseits | |
auf die Ökonomisierung des Sozialen verweisen. Da ist etwa die als nicht | |
kalkulierbar betrachtete Last eines aufgrund von Geburtskomplikationen | |
behinderten Kindes. Auch die Bestimmung des optimalen Zeitpunkt der Geburt, | |
die Risikominimierung durch Monitoring, die angestrebte körperliche | |
Spurenlosigkeit zeigen all dies. Dieses Vorgehen verweist auf den Versuch, | |
in der Risikogesellschaft handlungsmächtig zu bleiben. | |
Geburt findet gegenwärtig, so betrachtet, in einer spätmodernen Kultur der | |
Angst statt. | |
## Nur die halbe Wahrheit | |
Dass diese Angst sich nährt aus der selbsttranzendierenden, existenziellen | |
Erfahrung der Geburt, für die es womöglich derzeit kaum Rituale oder | |
soziale (Anerkennungs-)Räume gibt, scheint eine plausible These. Dies umso | |
mehr, als auch die Vermeidung von körperleiblichen Spuren der | |
Schwangerschaft medial propagiert wird. Schauspielerinnen, Models und | |
Musikerinnen sieht man ihre Geburten nicht an. | |
Kurzum: Die gute Geburt ist die planbare Geburt, die von der autonomen | |
Gebärenden selbst und unter Berücksichtigung aller Optionen gestaltet wurde | |
und die nur Spuren auf Instagram, jedoch nicht am Körper der Mutter | |
hinterlässt. | |
Solche Polemik ist aber nur die halbe soziologische Wahrheit. Denn es darf | |
nicht vergessen (und auch nicht diffamiert!) werden, dass die Nachfrage | |
nach Sicherheit, Überschaubarkeit und Kontrolle der Geburt ein | |
authentisches Bedürfnis mündiger Frauen (und Männer) ist. Eines, das | |
anschließt an emanzipatorische und ehemals eminent feministische | |
Forderungen nicht nur danach, dass die Mütter- und Kindersterblichkeit | |
gesenkt wird, sondern auch nach Selbstbestimmung und körperlicher | |
Selbstermächtigung. Der Bauch gehört uns. Die Geburt und das Kind nicht | |
auch? | |
23 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Paula-Irene Villa | |
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