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# taz.de -- Niedriglöhne im digitalen Sektor: Das Bürgertum und seine Diener
> Lieber outsourcen als selbst kochen und putzen. Neben der digitalisierten
> Welt entsteht eine neue Klasse unterbezahlter Helfer.
Bild: Schöne neue Welt – Mittagessen und Putzhilfen auf Bestellung im Intern…
Die großen Lieferplattformen mit ihren Essen-Bestell-Apps, mit ihren unter
Dauerstress stehenden Fahrrad-„Ridern“ und der hart am Mindestlohn
liegenden Bezahlung, haben den schlechten Ruf, den sie verdienen. Unlängst
präsentierte die [1][ZDF-„Heute Show“] die hässliche Fratze des
Kapitalismus in ihrer zeitgemäßen Variante. Böse Business-Nerds gab es da
zu sehen, die wie Galeerenkapitäne ihre Kuriere zu immer mehr Tempo
antrieben. Die Branche hat es offenbar nicht nötig, ihrem schlechten Image
entgegenzutreten.
So verkündete die Deutschlandchefin des Marktführers Lieferando,
[2][Katharina Hauke], schon im letzten Dezember, die Pandemie habe ihre
Firma „um ein Jahr nach vorne gebracht“. Dem Geschäftsmodell
„Essenslieferung per App“ konnte kaum etwas Besseres passieren als der
monatelange Stillstand von stationärem Handel und Gastronomie. Folgt man
der Managerin, dann war Lieferando in der Krise sogar der Nothelfer der
leidenden Gastro-Branche.
Gegen eine Provision von 13 bis 30 Prozent hätte man Pizzerien,
Burgerbrater und Thai-Küchen fit gemacht für eine postpandemische Zukunft,
in der sowieso nur überlebt, wer liefern kann. Die Anbieter digitaler
Dienstleistungen sind oft Monopole, manchmal auch Duopole oder Oligopole.
Die finanzstärkste Organisation mit dem teuersten Marketing und dem
schnellsten Wachstum verdrängt rasch die schwächere Konkurrenz vom Markt.
Das hat modellhaft der Aufstieg von Amazon gezeigt.
Neuerdings muss Lieferando in Deutschland Wettbewerb fürchten. Der Rivale
[3][Delivery Hero] drängt auf den Markt (zunächst nach Berlin, andere
Großstädte sollen folgen), soll hier aber, warum auch immer, [4][Foodpanda]
heißen. [5][Wolt] ist schon da, Uber Eats wird bald folgen. Und das ist nur
ein Sektor im rapide wachsenden plattformgetriebenen Liefergeschehen.
## Kinderbetreuung per App bestellen
Es gibt auch Phänomene wie [6][Hello Fresh] mit seinen Kochboxen, die
vorbereitete Zutaten für ein bestimmtes Rezept liefern, oder Gourmetbox,
die auf vorgekochte Sterneküche zum heimischen Aufwärmen setzen. Neue
Lieferdienste, so etwa die aggressiven [7][Gorillas], mischen mit lokalen
Mikrodepots („Dmarts“) gerade den Lebensmittelhandel auf. „Gorillas
existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen“,
teilt Kağan Sümer, der „CEO of Gorillas“, in einem Firmenmanifest
kategorisch mit.
Andere Plattformen haben sich auf die Onlinevermittlung von
haushaltsbezogenen Dienstleistungen spezialisiert. Die vertrauenswürdige
und sozialversicherte Reinigungskraft finden wir über Helpling
([8][„flexibel arbeiten, flexibel leben“]). Die Kinder- oder auch die
Haustierbetreuung kann man in die Hände von [9][Yoopies] legen. Betreuungs-
und Begleitdienste für ältere Menschen bietet Careship an.
Was die Buchung solcher Dienste per App so verlockend macht, ist nicht nur
der Komfort der Dienstleistung selbst, sondern schon der Komfort ihrer
Anbahnung, das Reibungslose und angenehm Unpersönliche der Transaktion. All
diese neuen Plattformgeschäfte verkaufen, so [10][Joseph Vogl in „Kapital
und Ressentiment“], „Autofahrten ohne den Besitz von Fahrzeugen,
Unterkünfte ohne Immobilienbesitz, Raumpflege ohne Putzeimer, Mahlzeiten
ohne Küchenmobiliar oder Flugreisen ohne Wartung und Betrieb von
Flugapparaten“.
Was lehren uns diese neuen Geschäftszweige? In dieser digitalen Servicewelt
werden nur einige wenige Gründer reich. Ihr Personal dagegen besteht
überwiegend aus schlecht bezahlten und prekär beschäftigten Fußsoldaten.
Manche fühlen sich deshalb an feudalistische Zeiten erinnert. Ein
Feudalherr bot einst seinen Vasallen gegen militärische Treue ein Stück
Land, das diese dann wiederum mithilfe unfreier Bauern ausbeuteten.
Es mag stimmen, dass Plattform-Oligarchen die Aristokraten von heute sind,
aber die von ihnen „ausgebeuteten“ Leichtlohnbelegschaften sind weder
Vasallen noch Knechte. Es handelt sich vielmehr um [11][Servicekräfte], die
ihrerseits gern konsumieren. Sie bringen einer teilweise besserverdienenden
Kundschaft das Essen an die Tür. Sie können sich aber auch selbst eine
Pizza von Lieferando leisten. Die Lieferdienste haben ein entspanntes
Verhältnis zum Kunden und zur Kundin:
## Schlemmen am Onlinebuffet
Niemand muss hier reich oder schön sein, man braucht nur ein Smartphone und
die richtige Postleitzahl – und außerdem einen Hunger, der durch
Selbsteinkaufen, Selbstkochen oder auch nur durch den Gang zum lokalen
Falafelshop nicht zu stillen ist. Die neuen Plattformgeschäfte sind, wenn
man so will, eine Dienstleistungsrevolution von oben, von digitalen
Erfindern, die nichts entwickeln wollen als den Schlüssel zu unserem
Konsum.
Wir Konsumenten sind eingeladen, nach Herzenslust am Onlinebuffet zu
bestellen. Bei den Produzenten, in den Restaurants also, wird abkassiert,
die Lieferanten selbst werden knappgehalten, und die Beute machen – nicht
die Plattformen, sondern wahrscheinlich nur genau eine, während alle
anderen Digital-Entrepreneure sich die nächste Geschäftsidee ausdenken
müssen. Das Risiko der Plattformmacher ist also, anders als bei den
Feudalherren vergangener Tage, groß.
Es handelt sich hier nicht um Territorialherren, sondern um Abenteurer, um
Glücksritter. Auch Firmen, die wie Gorillas mit einer Marktbewertung von
über einer Milliarde Dollar als „Einhorn“ gefeiert werden, leiden an oder
kokettieren mit hohen Anfangsverlusten. Noch hat die digitale
Lieferindustrie keine Gewinne erzielt. Aber das ist egal, so lange die
Investoren glauben, dass die Zukunft rosig ist.
Wie kann es weitergehen mit den Lieferplattformen, angesichts einer
Situation, in der sich der Widerwille bei Kunden, Produzenten und
Beschäftigten mehrt? Zwei Szenarien zeichnen sich ab, die sich nicht
gegenseitig ausschließen müssen. Gemäß der Logik des „Winner takes all“
wird es zu einem noch heftigeren Verdrängungswettbewerb kommen, an dessen
Ende das Unternehmen mit den größten Kapitalreserven und der aggressivsten
Marketingstrategie übrig bleibt.
In anderen Plattform-Sektoren steht der Sieger schon fest (etwa [12][Uber]
oder [13][Airbnb]). Wer aber wird das Monopol für die Essensbestellung
erobern? Vielleicht doch Amazon? Der Onlineversandhändler experimentiert in
Indien bereits mit Essenslieferdiensten. Wäre gar ein Amazon Eat
vorstellbar, einschließlich Amazon Cook, entweder mit eigenen Kochfarmen
auf der grünen Wiese oder schön lokal mit eigenen Amazon-Restaurants? Es
gibt ja auch schon Amazon-Buchhandlungen.
Aber selbst im Plattformkapitalismus wirkt das Prinzip des „Schuster, bleib
bei deinen Leisten“ nach. Wer kochen und Essen verkaufen kann, kann deshalb
noch lange nicht zustellen, und umgekehrt. Selbst Mc Donald’s verlässt sich
bei seinem [14][„McDelivery“] genannten Lieferservice auf Lieferando. Das
andere, optimistischere Szenario für die Zukunft des Lieferwesens geht
davon aus, dass genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Plattformen
an Bedeutung gewinnen werden.
Es gibt sie bereits in Berlin und anderswo, und manchmal werden sie
betrieben von Leuten, die ihr Handwerk bei den großen Lieferdiensten
gelernt haben. Restaurants organisieren sich selbst zu Lieferverbünden,
Fahrradkuriere starten auf eigene Rechnung neu, und Pop-up-Kollektive
nehmen das Liefergeschäft in die eigenen Hände.
## Alternative Anbieter anstelle von Oligopolen
Das sind zarte Pflänzlein im Vergleich zu der Marketingmacht etwa der
Gorillas, die gegenwärtig deutsche Großstädte mit gewaltigen
Plakataktionen und Slogans wie [15][„Mutter, der Mann mit den Cokes ist
da!“] zupflastern. Solche genossenschaftlich organisierten Initiativen
kämen erstens ohne Zwangsprovision seitens der Restaurants aus, und sie
müssten zweitens auch nicht am Kapitalmarkt Milliarden für den
Markteintritt einsammeln.
Drittens wären sie nicht nur der Werbebotschaft nach lokal und nachhaltig,
sondern würden ihre Maximen auch in die Tat umsetzen. Bleibt nur noch eine
Frage: Warum lassen wir überhaupt liefern? Täte nicht noch jenseits aller
alternativen Lieferkonzepte eine ganz grundsätzliche und vernichtende
Kritik des heutigen „Lieferismus“ gut? Die Plattformgeschäfte leben
prächtig davon, uns das eigene Einkaufen und Kochen als Aufwand
darzustellen, den es hinter sich zu lassen gilt.
[16][Niklas Östberg], der Gründer und Chef von Delivery Hero, erzählte
schon vor zwei Jahren der FAZ, bald werde es „viel billiger, gesünder und
leckerer“ sein, „sich Essen kommen zu lassen, als selbst zu kochen“. Koch…
sei „dann nur noch ein Hobby.“ Woher weiß der Mann das? Und warum sollte
man sich wünschen, dass es so kommt? Die Lebensmodelle, die Leute wie
Niklas Östberg für die gültigen halten, sind tatsächlich wohl nur die ihrer
eigenen Branche.
Wer den ganzen Tag im Co-Working-Space am nächsten großen Ding tüftelt, hat
wohl tatsächlich für wenig anderes Zeit als für den Entspannungs-Triathlon
und einen kleinen Mittagssalat von Lieferando. Solche Lebensmodelle finden
viele Nachahmer – wer verzehrt noch in der Mittagspause (und überhaupt: in
welcher Mittagspause?) sein von zu Hause mitgebrachtes Butterbrot?
Wahrscheinlich wird das Lieferwesen nie mehr ganz verschwinden.
Unter dieser Prämisse ist es gut, wenn alternative Anbieter die Oligopole
schwächen. Noch besser wäre es allerdings, wenn weniger bestellt würde.
Wir, die Kunden, haben es in der Hand, bei wem wir bestellen. Und ob wir
überhaupt bestellen.
6 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=wAwIR1CEqP0
[2] https://www.onlinehaendler-news.de/online-handel/haendler/134047-corona-kat…
[3] /Neues-Dax-Mitglied-macht-Verluste/!5710322
[4] https://www.foodpanda.com/
[5] https://wolt.com/de/deu/berlin/article/berlin_deliveryarea
[6] /HelloFresh-Kochboxen-im-Selbstversuch/!5758572
[7] https://www.deutsche-startups.de/2021/03/26/gorillas-unicorn-fakten/
[8] https://www.helpling.de/anmelden
[9] https://www.kindaling.de/betreuung-babysitter/yoopies-die-plattform-fuer-ki…
[10] https://www.soziopolis.de/eine-neue-kapitalistische-ontologie.html
[11] /Berliner-Radkuriere-protestieren/!5746305
[12] https://www.uber.com/de/de/
[13] https://www.airbnb.com/
[14] https://www.lieferando.de/deals/mcdonalds/?k1111=k1111&gclid=Cj0KCQjwn…
[15] https://www.horizont.net/agenturen/nachrichten/food-lieferservice-heimat-l…
[16] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/der-lieferheld-delivery-her…
## AUTOREN
Christoph Bartmann
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