# taz.de -- Berliner Radkuriere protestieren: „Hört auf, Essen zu bestellen!… | |
> Lieferdienste erzielen bei Schnee und Lockdown Rekordumsätze. Deren | |
> FahrerInnen beklagen nun „menschenunwürdige Bedingungen“. | |
Bild: Kundgebung auf der Admiralbrücke in Kreuzberg | |
Berlin taz | Von allen Seiten kommen sie angeradelt und lassen ihre | |
quadratischen blauen oder orangenen Rucksäcke in den Schneematsch fallen. | |
Darauf steht „Lieferando“ oder „Wolt“. Rund zehn Frauen und Männer, | |
allesamt Fahrradkuriere bei Essens-Lieferdiensten, haben sich am Donnerstag | |
auf der Kreuzberger Admiralbrücke versammelt, um gegen die | |
Arbeitsbedingungen bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen zu | |
protestieren. Aus Infektionsschutzgründen ist die Kundgebung nur klein. „To | |
cold to ride“, steht auf Pappschildern, die sie hochhalten. Und: „Stop | |
order food“. | |
Tobias Schülke ist einer von ihnen. „Menschenunwürdig“ seien die | |
derzeitigen Arbeitsbedingungen, sagt er. Die Forderungen der | |
Protestierenden fasst er so zusammen: Lieferdienste wie Wolt und Lieferando | |
müssten eine richtige Winterausrüstung zur Verfügung stellen. Jede FahrerIn | |
müsse selbst entscheiden können, ob er oder sie bei diesen Bedingungen zur | |
Arbeit erscheine. Auch einen Kältebonus müsse es geben. Von der Politik | |
erwartet Schülke, dass „den Lieferdienstfirmen klare Vorschriften gemacht | |
werden, die zum Beispiel die Arbeitszeiten bei diesen Witterungsbedingungen | |
beschränken“. | |
Manche seiner KollegInnen würden trotz Minusgraden „bis zu zehn Stunden am | |
Tag“ fahren, erzählt Schülke. Viele könnten aus ihren regulären Jobs | |
derzeit keine Einkünfte erzielen. Dazu komme, dass viele FahrerInnen kein | |
Deutsch sprächen. „Da ist die Gefahr groß, nur aus der Angst heraus zu | |
funktionieren.“ | |
Erst kürzlich hatte der Lieferando-Mutterkonzern Just Eat Takeaway | |
verkündet, dass sich [1][der Umsatz im Pandemiejahr 2020 auf rund 2,4 | |
Milliarden Euro belaufe] – verglichen mit dem Vorjahr ist das eine | |
Steigerung um mehr als die Hälfte. Nun wollen die FahrerInnen einen Teil | |
vom Kuchen abhaben. | |
Noch besäße man aber nicht die nötigen Strukturen, um selbst ausreichend | |
Druck zu erzeugen, erzählt Schülke. Sie seien deshalb auf die | |
Öffentlichkeit angewiesen: „Wir wollen, dass die Leute aufhören zu | |
bestellen!“, fordert er. Nur so könne ein Umdenken der Lieferkonzerne | |
erreicht werden. | |
„Uns geht es darum, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, | |
dass die Lieferdienste Menschen auf die Straße zwingen“, sagt Schülke. | |
Gleichzeitig werde öffentlich kommuniziert, dass jede FahrerIn | |
freiwillig unterwegs sei. Tatsächlich schreibt Wolt im Blog des Konzerns, | |
niemand müsse sich bei Verspätungen oder dem Fernbleiben von der Arbeit aus | |
Sicherheitsbedenken Gedanken machen. | |
Schülke hat in der Kommunikation mit Wolt andere Erfahrungen gemacht: „Da | |
heißt es zum Beispiel, wenn Ihr nicht fahren wollt, dann lauft doch | |
stattdessen. Wie kann man jemanden anbieten, für 10 Stunden bei Minusgraden | |
durch den Schnee zu laufen?“, fragt er wütend. Als er Bedenken bekundete, | |
habe er ein blaues Smilyherz aufs Handy und einen aufbauenden Spruch | |
erhalten. Das sei, so Schülke, „absurd“: „Ich bin Arbeitnehmer und damit | |
weisungsgebunden. Da sind die Nettigkeiten doch völlig egal.“ | |
Bisher bestünde aber nur eine Telegram-Gruppe, in der die FahrerInnen | |
zudem anonym blieben. „Man weiß ja nie, ob der Arbeitgeber mithört“, sagt | |
Schülke, der nur mit Klarnamen auftritt, da er sich bereits öffentlich | |
ausgesprochen habe. Er ist dennoch besorgt: „Beim letzten großen Aufstand | |
der FahrerInnen haben ja alle, die namentlich bekannt geworden sind, | |
ihre Arbeit verloren“, sagt er. | |
Beim Fototermin verstecken sich Fahrradkuriere deshalb hinter Schals und | |
den Pappschildern, um nicht erkannt zu werden. Eine Lieferantin erzählt, | |
dass es den KundInnen völlig egal sei, ob es regnet oder schneit. | |
Hauptsache sie bekämen ihr Essen rechtzeitig. „Das ist euer Job“, sei die | |
Haltung. Auch was Trinkgeld angehe, seien die Leute mehr als knauserig. | |
Einer habe ihr in diesen Kältetagen ganze 28 Cent gegeben. | |
„Mama, was wollen die?“, fragt ein kleiner Junge seine Mutter, die auf | |
einem Poller auf der Admiralbrücke sitzt und die Kundgebung beobachtet. | |
„Die wollen, dass die Leute selber kochen“, lautet die Antwort. | |
11 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.manager-magazin.de/unternehmen/just-eat-takeaway-umsatz-sprung-… | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
Plutonia Plarre | |
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