# taz.de -- Klanginstallation zum Kalten Krieg: Akustische Konfliktforschung | |
> „Sound(ing) Systems“, eine Klanginstallation des Künstlers Nik Nowak in | |
> der Berliner Kindl-Brauerei, wird zum Forschungslabor über den Kalten | |
> Krieg. | |
Bild: Nik Nowak: Installationsansicht Kesselhaus, KINDL – Zentrum für zeitge… | |
Der britische SciFi-Autor J. G. Ballard imaginierte in seiner 1960 | |
veröffentlichten Kurzgeschichte „The Sound Sweep“ Klangwellen, die nicht | |
mehr verstummen und als Schallwaffen aus den Echokammern der Geschichte | |
zurückwehen, um die Menschen heimzusuchen. Ballards dystopische Plotidee | |
vom bösen Wabern fand schon wenige Monate später, unmittelbar nach dem Bau | |
der Berliner Mauer, im sogenannten „Lautsprecherkrieg“ eine reale | |
Entsprechung. | |
Mit den „Roten Hugos“ genannten Verstärkerboxen der DDR und dem | |
Westberliner „Tonstudio hinterm Stacheldraht“ wurde 1961 versucht, die | |
Grenztruppen und Anwohner:innen der jeweils anderen Seite durch | |
Dauerberieselung mit Marschmusik, Propagandareden und Störgeräuschen zu | |
demoralisieren. Mit seiner von einem Hörstück begleiteten Installation | |
„Sound(ing) Systems“ ruft der Künstler [1][Nik Nowak] im Berliner „Kindl… | |
Zentrum für zeitgenössische Kunst“ diese akustische Einflussnahme auf | |
feindliches Territorium in Erinnerung. | |
Hierbei nutzt Nowak die architektonische Beschaffenheit des 20 Meter hohen | |
ehemaligen Sudkesselgebäudes der Berliner Kindl-Brauerei aus. Quer durch | |
den Raum hat er einen vier Meter hohen Metallzaun mit Stacheldraht auf den | |
Fundamenten von gelb-schwarzen Flughafen-Betonpollern – nachgebaut aus Holz | |
– errichtet. In der Anordnung von Symbolen des militärisch-industriellen | |
Komplexes als begehbare Skulptur bekommt „Sound(ing) Systems“ durch die | |
Einfassung mit den weißen Kacheln an den Wänden klinische Anmutung. Auf dem | |
mit Kieselsteinen ausgelegten Boden stehen Panzersperren-Imitate. | |
Bildhauerische Impulse haben ihn dazu veranlasst, jenseits der beiden | |
Seiten des Zauns umgebaute Schmiedag-Kleinraupen in Stellung zu bringen, | |
erklärt Nowak im Gespräch mit der taz: Ihre mit Lautsprecherboxen beladenen | |
Gabeln und Motorblöcke zielen aufeinander. Durch Hochtöner-Hörner und | |
Bassmembrane tragen die beiden Maschinen Gesichtszüge und ähneln den | |
Tierdarstellungen von Höhlenmalereien. | |
Der Sound des Hörstücks wird von den Ungetümen nach oben gejagt, wo er sich | |
an der verglasten Decke bricht und mittig aufschaukelt, was durchaus | |
klaustrophobische Wirkung entfaltet und den ehemaligen Sudkesselraum zum | |
Vibrieren bringt. Wo kommt der Sound her und wie wird er reflektiert? Diese | |
Fragen wirft „Sound(ing) Systems“ auf. | |
Nowak, aufgewachsen nahe Wiesbaden beim US-Militärflughafen Erbenheim, hat | |
in seiner Kindheit die Spätphase des Kalten Krieges erlebt, Manöver von | |
Bundeswehr und US-Army, auch Musik vom Soldatensender AFN haben ihn | |
geprägt. Der [2][39jährige Künstler] interessiert sich in seinen Arbeiten | |
für die Kontinuitäten und Transformation von Geschichte. Dass seine | |
Installation am Samstag zum Austragungsort des Symposiums „Cold War | |
Continuum: The Role of Sound Systems in the Vibrational Delusions of Sonic | |
Warfare“ wurde, erscheint folgerichtig. Den Tag über sprechen | |
Wissenschaftler:innen, zugeschaltet via Internet und befragt von der | |
britischen Autorin Jessica Edwards, die auch im Hörstück als Erzählstimme | |
fungiert. Edwards sitzt inmitten der Installation auf einer Kiste, während | |
der erste Redner via Bildschirm aus London spricht. | |
## Havanna-Syndrom | |
[3][Der britische Kulturforscher und Labelchef (Hyperdub) Steve Goodman] | |
berichtet über seine Erkenntnisse zum „Havanna Syndrom“, einem | |
hochfrequenten Zirpen, dem sich 21 Mitarbeiter:innen der US-Botschaft | |
in Kuba 2016/17 ausgesetzt sahen. Jener mysteriöse „Infrasound“ führte bei | |
ihnen zu Hörstürzen, Wortfindungsstörungen und Schwindelanfällen, ein | |
Verstoß gegen die Genfer Konvention, wenn diese Mission denn von einem | |
Geheimdienst ausging. Die Klangquelle wurde jedoch bis heute nicht | |
entschlüsselt. Trotzdem mussten in der Folge zwei Mitarbeiter der | |
kubanischen Botschaft Washington verlassen. Goodman spricht von einem | |
Nachleben des Kalten Krieges, dessen Ideologie der Abschreckung auch auf | |
einer „Ökologie der Angst“ fuße. | |
Etwas Ähnliches geschah 2018 in der Londoner Tate Modern, als Goodman eine | |
40.000-Watt-Klanginstallation in Gang setzen wollte, was allerdings die | |
Alarmanlagen der gleichzeitig ausgestellten Picasso-Gemälde auslöste und | |
von der Museumsleitung daraufhin abgebrochen wurde. | |
Dass Belauschen zu Pannen führt, bezeugen die beiden Berliner Forscher | |
Helmut Müller-Enbergs und Bodo Mrozek in ihrem Vortrag „Lauschangriff. | |
Feedback der Überwachungstechniken im geteilten Berlin“ und erwähnen etwa | |
die britische „Operation Gold“, bei der 1955 700 Brit:innen abhörten, was | |
im Ostteil der Stadt vor sich ging, ohne dass sie auf verwertbare | |
Informationen stießen. Feindbild-Imagination habe es auf beiden Seiten | |
gegeben, sagt Bodo Mrozek und erklärt den Kalten Krieg zur kulturellen | |
Auseinandersetzung, in der Mittelstreckenraketen nur die Kulisse bildeten, | |
im Vordergrund standen Musik und Sound. „Angst wurde gezielt gestreut“ und | |
habe sich durch Popkultur verselbstständigt. | |
Aus Boston zugeschaltet ist der nigerianische Kulturwissenschaftler | |
[4][Louis Chude-Sokei], der über die „klangpolitische Diasporisierung | |
jamaikanischer Soundsystems“ spricht. Damit ist die politische | |
Polarisierung auf der Karibikinsel in den 1970ern gemeint, die die beiden | |
jamaikanischen Politiker Michael Manley und Edward Seaga als Marionetten in | |
der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und den sozialistischen Regimen | |
machte. | |
Ihre Konflikte wurden in den Vierteln von Kingston blutig ausgetragen. | |
Anschaulich erklärt Chude-Sokei, wie das Wettrüsten der Supermächte auf | |
lokaler Ebene in den Clashes der jamaikanischen Reggae-Soundsystems eine | |
klangtechnologische Entsprechung bekam. Und so wird auch die Frontstellung | |
der Schmiedag-Kleinraupen in der Berliner Kindl-Brauerei als sensorische | |
Form von Konfliktführung in Friedenszeiten ersichtlich. | |
23 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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