# taz.de -- Kunstschau in vier Ruhrgebietsstädten: Flanieren im Hier und Jetzt | |
> Die Kunstschau „Ruhr Ding“ an öffentlichen Orten im zersiedelten | |
> Ruhrgebiet bringt schön irritierende Momente in leerstehende Kaufhäuser | |
> oder Büdchen. | |
Bild: Sanft leuchtet die mit Schaum gefüllte Telefonzelle von Stephanie Lünin… | |
Miami Bass. Nun steht man in Mülheim unter den mächtigen Betonpfeilern | |
einer Brücke – der Bass wummert von einem Schiffscontainer aus sechs kantig | |
geschnittenen Boxen hin zum Parkplatz einer Werkanlage und weit über die | |
Ruhr auf eine Insel. Dort, zwischen dem breiten Dach der Brücke und dem | |
vernebelten Grün der Schwemmwiese versucht eine Entenfamilie neugierig zu | |
verstehen, wo denn die tiefen Schallwellen herkommen. | |
[1][Der Berliner Künstler Nik Nowak hat die Klangskulptur installiert], für | |
die nächsten sieben Wochen während des Ausstellung „Ruhr Ding“ wird das | |
Rauschen von vielen Teilen der Welt hier hinunterströmen. Der Titel dieser | |
Kunstschau ist ein Understatement, vielleicht nehmen sie deswegen nicht so | |
viele Leute wahr, wie es eigentlich sein müsste. | |
„Ruhr Ding“ – was sagt das? Soll es diese nostalgische Runtergebrochenheit | |
auf das Alltägliche, das Proletarische aufzeigen, mit dem sich das | |
Ruhrgebiet so gerne vermarktet, wie der unerlässliche Kameraschwenk auf | |
eine Trinkhalle beim Dortmund-„Tatort“? | |
## Der öffentliche Raum wird bespielt | |
Dieser provinzielle Titel zumindest lenkt davon ab, wie groß die | |
Ausstellungstrilogie eigentlich ist. 2019 fand sie erstmals statt, seither | |
bespielt sie alle zwei Jahre über Wochen den öffentlichen Raum in mehreren | |
Städten der Metropolregion und schließt nun mit diesem gerade eröffneten | |
letzten Teil ab. | |
Britta Peters, die künstlerische Leiterin, hat mit dem „Ruhr Ding“ eine | |
Kunstschau nach einem ähnlichen Konzept wie die [2][Skulptur Projekte | |
Münster] ins Leben gerufen. Doch anders als in Münster, das seit 1977 alle | |
zehn Jahre zum Pilgerort der internationalen Kunstszene wird, grätscht | |
Britta Peters’ Schau hier nicht in eine bürgerliche Zufriedenheit hinein. | |
In Essen-Steele, in Gelsenkirchen-Erle oder Witten blickt man auf urbane | |
Zustände. Da ist zum Beispiel dieses Büdchen in Mülheim auf dem Vorplatz | |
des historischen Rathauses, eine neobarocke Burg und Kulisse für | |
Hochzeitsfotos. Über Jahre gammelte es vor sich hin, wurde zum Gegenstand | |
erregter Debatten in der klammen Stadt, die von der Ruhr in wohlhabende und | |
arme Gebiete geteilt wird. | |
## Neonlicht und flauschiger Teppich | |
Künstler Viron Erol Vert umbaute jetzt die Baracke mit grünen und pinken | |
Modulen, beleuchtet die Decke mit grafischen Neonlicht, legt einen | |
flauschigen Teppich aus. Sein „Köşk x Kiosk“ – ein Hinweis darauf, wie … | |
Wort Kiosk aus dem Persischen über das Türkische in die deutsche Sprache | |
einsickerte – ist ein auch nachts bunt leuchtendes Ufo. Für einige Wochen | |
wird der soziale Kulminationspunkt zum Utopos – und verschwindet dann | |
wieder. | |
Nur einige Meter weiter im Vorraum zum ulkigen Fotokopie-Museum verschiebt | |
sich in der Videoprojektion an der Wand die Dimension von Zeit. | |
Arte-Povera-Künstlerin Laura Grisi, die 2017 verstarb und in den späten | |
1960er Jahren ähnlich wie Joan Jonas oder die [3][gerade erst | |
wiederentdeckte Margaret Raspé] in kurzen, experimentellen Filmsequenzen | |
Naturphänomene festhielt, ließ in dem 6-Minuten-Film zählend Sandkörner am | |
Strand durch die Finger rieseln. Die Absurdität dieses Sisyphosakts rückt | |
Zeit in die Ferne, während sie gleichsam gemessen wird. | |
## Gewebe aus Autobahnen, Gleisen und Gärten | |
„Schlaf“ nennt sich das letzte der drei Kapitel vom „Ruhr Ding“, zuvor | |
hießen sie [4][„Klima“] und „Territorium“. Und auch wenn sich das Thema | |
Schlaf in die 20 ausgestellten Projekte hineinlesen lässt, dies | |
kuratorische Gerüst braucht die Schau nicht. Das Besondere der Ausstellung | |
in vier Städten ist das suchende Herumstreunen, das die einzelnen | |
Kunstinstallationen aus einem herauskitzeln; dieses Schlendern – zu Fuß, | |
mit dem Rad, mit den Öffentlichen – entlang der beeindruckenden | |
Zersiedelung des Ruhrgebiets, wo Urbanität ein Gewebe aus Autobahnen, | |
Gleisen und Gärten ist. Um dann an einem bestimmten Ort zu verwahren, um | |
sich bewusst zu werden, wo man sich, wo wir uns, eigentlich befinden in | |
dieser Gegenwart. | |
In einem stillgelegten Wasserwerk in Witten sind wir zwischen realen | |
Datenströmen und virtueller Welt. Der schottische Künstler Yuri Pattison | |
lässt auf einem metergroßen LED-Screen in der imposant gekachelten Halle | |
Gaming-Landschaften ablaufen. Immer fließt Wasser in den Szenerien düsterer | |
Kanalisationen oder idyllischer Auen. | |
Seine Farbe changiert mit dem Sauerstoffgehalt in der daneben fließenden | |
Ruhr, mal ist das Wasser klar, mal gelb und suppig. Von einem automatischen | |
Klavier erklingt eine minimale Melodie, auch sie ändert sich mit den | |
Messwerten. Das, was außen passiert, es dringt immer zu uns durch, auch im | |
Versuch, dem zu entfliehen. | |
Traumartig bewegen sich überlebensgroße Hände und Arme im Schaufenster der | |
leerstehenden Galeria Kaufhof in Witten. Zärtlich, in kleinstmotorischer | |
Bewegung streichelt ein Finger einen Baumstamm entlang. Die sympathisch | |
ruckelnden, mechanischen Figuren von Joanna Piotrowska aus reproduzierten | |
Fragmenten von Fotos ihres Familienarchivs erinnern an die surrealistische | |
Fotografie Anfang des 20. Jahrhunderts. | |
## Das desolate Objekt von Immobilieninvestoren | |
Doch es sind intime Momente aus der persönlichen Geschichte der Künstlerin, | |
die hier als Versatzstücke aus der Vitrine in die Öffentlichkeit gelangen. | |
Von einem Gebäude aus, das einst mit seinen charakteristischen | |
Hortenkacheln das Konsumzentrum der Innenstadt symbolisierte und heute ein | |
desolates [5][Objekt von Immobilieninvestoren] ist. | |
Ohnehin ziehen sich die leerstehenden Kaufhäuser wie ein Leitmotiv durch | |
die Ruhrgebietsstädte. Das Wertheim in Essen-Steele musste schon bald nach | |
der Eröffnung 1972 schließen. Kameelah Janan Rasheed hat für das „Ruhr | |
Ding“ auf der Fassade des Warenhauses eine scheinbar überdimensionale | |
Fotokopie appliziert. | |
Eine Menge sich überlagernder und überblendender Hände vereinnahmen mit | |
diesem DiY-artigen Poster die trostlose Architektur. Essen Steele ist von | |
den großen Phasen der Stadtplanung geprägt. Im späten 19. Jahrhundert | |
strebte man hier mit zwei neogotischen Kirchen das historistische Stadtbild | |
der Kaiserzeit an, dann legte sich die Tabula-rasa-Moderne der 1960er und | |
1970er Jahre dazwischen. | |
## Radikale Stadterneuerung, doch ohne Frauen | |
Den damals entstandenen Betongroßstrukturen mit Parkplatz, Ladenzeile und | |
abgetreppten Wohnebenen fielen ganze Straßenzüge aus der Gründerzeit zum | |
Opfer. Eine solch radikale Stadtsanierung wie in Essen-Steele hat es im | |
Ruhrgebiet seither nicht gegeben. | |
In einer dieser 70er-Jahre-Wohnungen hat Alicja Rogalska nun ein Interieur | |
eingerichtet. Man steht in dem schönen, durchlichteten Apartment, das ja | |
mit seiner Entstehungsgeschichte geradezu verdammt ist, und wird beim Blick | |
auf Rogalskas Zimmerpflanzen, Kaffeemaschine oder Bügelbrett auf eine | |
Leerstelle aufmerksam. Denn bei all den Planungen und Fehlplanungen für die | |
Stadt bleibt die weibliche Perspektive aus. Jede Entscheidung zum | |
Stadtumbau in Essen-Steele sei nur von Männern getroffen worden, erzählt | |
eine örtliche Architektin in Rogalskas Film „Sister Flats II“, der in der | |
Wohnung auf einem der Flatscreens abläuft. | |
Dabei gab es zum Zeitpunkt des Steelener Großprojekts einen ausgeprägten | |
feministischen Architekturdiskurs. Die seit der Pandemie so viel | |
diskutierte „Care-Arbeit“, wie sie sich auch räumlich organisieren lässt, | |
das wurde schon damals debattiert („Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt | |
aussehen?“, fragte etwa Dolores Hayden 1981 in ihrem viel zitierten | |
Aufsatz). Doch offenbar braucht es auch heute noch einen so plakativen | |
Verweis wie Alicja Rogalskas Gardine aus BHs und Korsetts, um darauf | |
aufmerksam zu machen. | |
Nora Toratu, Maximiliane Baumgartner – die Namen der teilnehmenden | |
Künstler:innen tauchen in den vergangenen Jahren immer mehr auf den | |
Listen musealer Einzelausstellungen auf. Das ist auch ein Unterschied zu | |
den Skulptur-Projekten in Münster. Britta Peters setzt für das „Ruhr Ding“ | |
nicht auf die etablierten, sondern die jüngeren Stimmen der Kunstszene. | |
Obwohl mit dem Oscar-prämierten Filmregisseur Michel Gondry ein veritabler | |
Star dabei ist. Die Anziehungskraft dieser Schau entsteht durch die Kunst | |
selbst, durch ihr irritierendes Moment [6][an manchmal ganz beiläufigen | |
Orten]. | |
Die Recherchen wurden unterstützt von Urbane Künste Ruhr | |
7 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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