| # taz.de -- Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft: Wolle, Rinde und Pilze | |
| > Die Ausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“ in Berlin stellt Projekte vor, | |
| > die nach Lösungen für die Zukunft suchen, etwa in der Bauindustrie. | |
| Bild: Ein bewegter Wald in Lima, 2011 | |
| Wenn der Mensch gestorben ist, enthält sein Körper noch immer toxische | |
| Stoffe. Wird die Leiche einbalsamiert, wie üblich in den USA, ist sein | |
| Körper sogar vor Zersetzung gesichert. | |
| „Sondermüll auf zwei Beinen“, so könnte man das nennen, meint [1][Adrienne | |
| Goehler], Kuratorin der Ausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“ in den | |
| Uferhallen im Wedding in Berlin. Sie weist auf einen Anzug hin, über den | |
| sich ein Geflecht hinzieht, das an Adern und Wurzeln erinnert. Er wurde von | |
| der koreanischen Künstlerin Jae Rhim Lee entworfen: In das Geflecht soll | |
| ein Pilz eingearbeitet werden, der hilft, den Körper zu zersetzen und ihm | |
| Gifte zu entziehen. Der Pilz muss noch entwickelt werden, daran arbeitet | |
| Jae Rhim Lee. Doch worauf sie zielt, wird mit dem Anzug anschaulich. | |
| Nicht weit entfernt hängt eine Reihe Schaufeln vor einer Wand. Sie weisen | |
| auf ein Projekt des mexikanischen Künstlers Pedro Reyes hin: „Palas por | |
| Pistolas.“ In einer ersten Aktion wurden in Culiacán, einer Stadt im Westen | |
| Mexikos, 1.527 Waffen eingeschmolzen um 1.527 Schaufeln herzustellen und | |
| mit ihnen 1.527 Bäume zu pflanzen. In der berüchtigten Grenzstadt Ciudad | |
| Juarez wurde die Aktion mit über 6.000 beschlagnahmten und von der | |
| Regierung zerstörten Waffen wiederholt. „Zur Nachahmung empohlen“, so | |
| erklärt sich der Ausstellungstitel gut. | |
| Vor 13 Jahren hatte die Ausstellung „Zur Nachahmung empfohlen“ [2][in den | |
| Uferhallen ihre erste Station,] seitdem ist die Schau über Projekte von | |
| Künstler:innen, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen, die | |
| überlegen, an welchen Stellen die Welt zu verbessern wäre, durch 29 Städte | |
| getourt, war in Addis Abeba und Peking, in Mumbai, Sao Paulo, Puebla und | |
| Jerusalem. Oft stießen neue Künstlerinnen hinzu. Der zweite Auftritt in | |
| Berlin ist nun die letzte Station und um neue Beiträge erweitert. | |
| ## Handel mit Blüten | |
| Pedro Reyes kam in Mexiko dazu, Ravi Agarwal in Mumbai. In Fotografien und | |
| Videos widmet letzterer sich orange leuchtenden Blumenfeldern und dem | |
| Handel mit den Blüten, die bei keinem Fest in Indien fehlen, in schönen | |
| Bildern. Es geht um Ringelblumen, ihre Anpflanzung ernährt viele | |
| Bauernfamilien nahe eines fruchtbaren Flußabschnitts. Doch die Ansichten | |
| des traditionellen Anbaus und des Verkaufs könnten bald eine Erinnerung | |
| sein, wenn, wie geplant das Gelände am Fluß Yamuna in Bauland verwandelt | |
| werden wird. | |
| Nicht immer sind die Geschichten, die sich mit den Arbeiten verbinden, so | |
| eindeutig zu lesen. Der Fotograf [3][Dionisio González] beschäftigt sich | |
| mit Wohnformen: etwa mit Hausbooten, die in Vietnam oft von sozial | |
| Schwachen genutzt werden. Er hat sie in der Halong-Bucht fotografiert, eine | |
| Landschaft aus Felsen und Wasser. | |
| In seinem Bild wirken die Boote wie ästhetische skulpturale Gebilde, wie | |
| geschaffen für diesen Ort. Die Spuren des Elends sind getilgt, die | |
| Konfrontation zwischen der illegalen Siedlungsform und dem Naturschutz | |
| nicht mehr sichtbar. Was real ist und was utopisches Spiel, lässt sich in | |
| seinem Bild nicht mehr unterscheiden. | |
| ## Mehr Förderung für künstlerische Forschung | |
| Viele der künstlerischen Positionen machen einen Vorschlag, spielen mit | |
| Materialien, die weiter zu erforschen und auf ihre Tauglichkeit etwa in der | |
| Bauindustrie zu prüfen, die Möglichkeiten von Künstler:innen allein | |
| übersteigt. Die Ausstellung ist deshalb auch eine Aufforderung, an den | |
| Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft mehr Fördermittel zu investieren. | |
| Adrienne Goehler arbeitet deshalb seit 13 Jahren an der Initierung eines | |
| [4][„Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit“.] | |
| Der könnte dann [5][Folke Köbberling] unterstützen, die einen gut | |
| riechenden Raum aus Schafswolle und Lehm gebaut hat. Wer weiß schon, dass | |
| Schafswolle in Deutschland, weil für sie kaum etwas gezahlt wird, oft als | |
| Sondermüll vergraben werden muss? Wieviel besser wäre es dann, sie wie | |
| Köbberling als Dämm- und Baustoff zu nutzen, Ziegel daraus zu pressen: Da | |
| steckt Potential drin. | |
| Der Struktur der Baumrinde, ein Abfallprodukt der Holzindustrie, und ihrer | |
| Verwendbarkeit im Design gehen Charlett Wenig und Johanna Hehemeyer-Cürten | |
| nach, in deren Kuppel aus Rinde man eintreten kann. Norbert Höpfner | |
| erkundet Hanf als Baumaterial und zeigt eine Produktionsstrecke, die zu | |
| Hanfziegeln und Tiny Houses führen kann. Die [6][Biologin und Künstlerin | |
| Vera Meyer] erforscht Pilze in ihren unterschiedlichen Eigenschaften, | |
| Texturen und Formen. Meyer hat auch eine Professur am Institut für | |
| Biotechnologie der Technischen Universität Berlin inne, zur Zeit betreibt | |
| sie am Ernst Reuter Platz einen Projektraum zum Thema Pilze als Bausstoffe. | |
| Die Ausstellung bietet also Material und Ideen, um Veränderung zu denken. | |
| Auch wenn man die Realisierbarkeit oft nicht einschätzen kann, so sind es | |
| doch anregende Impulse. Manches ist sehr symbolisch gehalten, einiges | |
| agitatorisch, manches witzig, einiges ästhetisch ansprechend, manches | |
| bleibt ohne Zusatzinformation auch etwas rätselhaft. | |
| 24 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buch-zum-bedingungslosen-Grundeinkommen/!5684473 | |
| [2] /Archiv-Suche/!384872&s=Adrienne+Goehler+Zur+Nachahmung&SuchRahmen=… | |
| [3] https://www.dionisiogonzalez.es/ | |
| [4] /Archiv-Suche/!5814459&s=Fonds+%C3%84sthetik+Nachhaltigkeit&SuchRah… | |
| [5] /Archiv-Suche/!5668153&s=K%C3%B6bberling&SuchRahmen=Print/ | |
| [6] https://biooekonomie.de/akteure/biopioniere/die-pilzprophetin-vera-meyer | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
| ## TAGS | |
| Ausstellung | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Architektur | |
| Forschung | |
| Ausstellung | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Biennale Venedig | |
| Ruhrgebiet | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Künstlerin über Klimakrise-Ausstellung: „Gefangene der eigenen Zerstörung�… | |
| Die Künstlerin Irina Ahrend-Liu will gemeinsam mit ihrem Mann Xiaomin Liu | |
| mit Kunst auf die Klimakrise und das Artensterben aufmerksam machen. | |
| Klimawandel in der Literatur: Apokalypse ciao | |
| Die Klimakrise kommt längst in Kunst und Kultur vor. Ein Blick auf die | |
| Klima-Fiktion zeigt: Der Trend geht weg vom Weltuntergang, hin zur | |
| Ermutigung. | |
| Architekturbiennale Venedig: Eine Reparatur am Gegebenen | |
| Zukunft ist in Venedig etwas Hoffnungsvolles. „The Laboratory of the | |
| Future“ hat Kuratorin Lesley Lokko die aktuelle Architekturbiennale | |
| benannt. | |
| Kunstschau in vier Ruhrgebietsstädten: Flanieren im Hier und Jetzt | |
| Die Kunstschau „Ruhr Ding“ an öffentlichen Orten im zersiedelten Ruhrgebiet | |
| bringt schön irritierende Momente in leerstehende Kaufhäuser oder Büdchen. |