| # taz.de -- Klimawandel in der Literatur: Apokalypse ciao | |
| > Die Klimakrise kommt längst in Kunst und Kultur vor. Ein Blick auf die | |
| > Klima-Fiktion zeigt: Der Trend geht weg vom Weltuntergang, hin zur | |
| > Ermutigung. | |
| Bild: Aktivist:innen im Mittelpunkt: Szene aus How to Blow Up a Pipeline nach d… | |
| Je länger wir uns mit dem [1][Klimawandel] beschäftigen, desto stärker | |
| erkennen wir: Es gibt keinen Quadratmeter auf dem gesamten Planeten, der | |
| davon unberührt bleibt. Das bedeutet auch, dass der Klimawandel kein | |
| abstrakter Begriff mehr ist. Er findet nicht mehr nur in der Sprache der | |
| Zahlen und in der akademischen Sphäre statt, verbannt auf die Seiten von | |
| Fachzeitschriften und in wissenschaftliche Konferenzen. Stattdessen hat er | |
| eine neue Sprache angenommen. Eine Sprache, die unsere Gefühle und Gedanken | |
| direkter ansprechen will, eine Sprache der Angst, der Dringlichkeit und der | |
| Verzweiflung. | |
| Kunst und Kultur bieten eine Möglichkeit, uns mit dieser Verschiebung auf | |
| einer subjektiven und existenziellen Ebene auseinanderzusetzen. | |
| [2][Fiktionale Verarbeitungen] können dabei helfen, die Auswirkungen der | |
| globalen Erwärmung nicht nur als eine Sammlung wissenschaftlicher Daten und | |
| Fakten zu verstehen, sondern als eine gelebte Erfahrung, die jeden Aspekt | |
| unseres Lebens berührt. | |
| Was wir früher mit Hilfe von Messungen, Klimamodellen oder | |
| wissenschaftlichem Konsens zu begreifen versuchten, verstehen wir jetzt | |
| durch die unmittelbare Wahrnehmung unserer Umgebung. Um uns herum erleben | |
| wir austrocknende Böden und knapper werdendes Wasser, wir fühlen die | |
| sengende Hitze in den Städten und schauen den Wäldern dabei zu, [3][wie sie | |
| brennen]. Das Wetter ist nicht mehr vorhersehbar, und die [4][Jahreszeiten | |
| ändern sich in einer Weise], die wir uns nie vorstellen konnten. | |
| ## Schneller als gedacht ist die Zukunft Gegenwart | |
| Diese Verschiebung der Wahrnehmung macht einen großen Unterschied. Sie | |
| sorgt für eine Überwindung der psychologischen Distanz, die einst dafür | |
| sorgte, dass wir uns sicher fühlen, weil die Bedrohung erst in einer fern | |
| scheinenden Zukunft lag. Diese Zukunft ist schneller gekommen als erwartet. | |
| Jetzt sind wir gezwungen, uns den Realitäten des Klimawandels zu stellen | |
| und uns mit dem emotionalen und psychologischen Tribut auseinanderzusetzen, | |
| den er für uns als Individuen und als Gesellschaft fordert. | |
| Climate Fiction verhandelt diesen Tribut. Dieses Literaturgenre, das kurz | |
| als Cli-Fi bezeichnet wird, schildert eine Welt, die durch die | |
| katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise geprägt ist. Sie bietet den | |
| Leser:innen einen Einblick in eine mögliche Zukunft, die auf die | |
| Entscheidungen folgt, die wir in der Gegenwart treffen. | |
| ## Die Wurzeln der Climate Fiction reichen weit zurück | |
| Obwohl Cli-Fi erst vor Kurzem als eigenständige literarische Form | |
| entstanden ist, lassen sich die Wurzeln dieses Genres bis zu frühen Werken | |
| der Science Fiction und Fantasy zurückverfolgen. Bereits 1962 | |
| veröffentlichte der englische Science-Fiction-Autor J.G. Ballard sein | |
| berühmt gewordenes Buch Die ertrunkene Welt. Dort schildert er eine | |
| unbewohnbare, von Wasser überflutete Erde, eine Folge globaler Erwärmung, | |
| verursacht durch erhöhte Sonneneinstrahlung. Frank Herberts Dune von 1965 | |
| ist ein weiteres Beispiel für einen [5][Science-Fiction-Klassiker], in dem | |
| Klima und Ökologie eine wichtige Rolle spielen. | |
| Das vielleicht visionärste und am meisten unterschätzte Werk der Climate | |
| Fiction ist Das neue Atlantis von [6][Ursula K. Le Guin]. Die 1975 | |
| veröffentlichte Kurzgeschichte beschreibt eine dystopische Zukunft, in der | |
| private Unternehmen die USA beherrschen und der Meeresspiegel aufgrund | |
| eines menschengemachten Klimawandels katastrophal ansteigt. Das Werk ist | |
| weitgehend in Vergessenheit geraten, aber es erzählt eine auffallend | |
| vorausschauende Geschichte, die viele der Ängste und Befürchtungen | |
| vorwegnimmt, die jetzt unsere Gegenwart bestimmen. | |
| Während des Kalten Kriegs beherrschte die Angst vor nuklearer Vernichtung | |
| das kollektive Bewusstsein und überschattete die allmähliche Bedrohung | |
| durch den Klimawandel. Das änderte sich mit dem Zusammenbruch der | |
| Sowjetunion in den frühen 1990er Jahren. Eines der wichtigsten Cli-Fi-Werke | |
| aus dieser Zeit ist [7][Octavia E. Butlers] Das Gleichnis vom Sämann aus | |
| dem Jahr 1993. Es schildert eine nahe Zukunft, die stark vom Klimawandel | |
| und sozialer Instabilität bestimmt wird. Butler wurde mit diesem Buch | |
| bekannt und ebnete den Weg für andere Schwarze Science-Fiction-Autorinnen. | |
| Eine davon ist N.K. Jemisin. Ihre mehrfach ausgezeichnete Romanserie Die | |
| große Stille handelt von einem Planeten, dessen Bewohner:innen mit | |
| wiederkehrenden und verheerenden Klimaveränderungen konfrontiert sind. Auch | |
| wenn das Klima nicht im Mittelpunkt ihrer Geschichten steht, spielt es in | |
| ihrem fiktiven Universum eine wichtige Rolle. Jemisins Romane | |
| verdeutlichen, wie eng Umwelt und Gesellschaft miteinander verflochten sind | |
| und wie sich der Klimawandel auf alle Aspekte des Lebens auswirkt. Ihr Werk | |
| zeigt, dass der Klimawandel auf eine nuancierte und komplexe Weise in die | |
| Literatur integriert werden kann. | |
| Auch in der Unterhaltungsindustrie spiegeln sich veränderte Verhältnisse | |
| wider. Ein Beispiel dafür ist die dystopische Mad-Max-Filmreihe, deren | |
| erste Folge 1979 in die Kinos kam. Während früher Ölknappheit und nukleare | |
| Zerstörung den Hintergrund für die Handlung bildete, ging es in dem | |
| letzten, 2015 erschienenen Film um eine Welt, die von einer nicht näher | |
| spezifizierten Umweltkatastrophe zerstört worden ist. | |
| ## Realistische Dystopien ohne schrille Töne | |
| Einen anderen Ansatz wählen einige zeitgenössische skandinavische | |
| Autor:innen, die als Vertreter:innen einer „realistischen Dystopie“ | |
| betrachten können. Diese schildert eine düstere Zukunft, die durch die | |
| Klimakatastrophe gekennzeichnet ist, jedoch ohne schrille apokalyptische | |
| Töne. | |
| Der 2015 erschienene Bestseller der [8][norwegischen Autorin Maja Lunde,] | |
| Die Geschichte der Bienen, ist dafür ein Beispiel. Der Roman spielt im | |
| England des 19. Jahrhunderts, in den heutigen Vereinigten Staaten und in | |
| China am Ende des 21. Jahrhunderts und verfolgt die Spur des allmählichen | |
| Aussterbens der Bienen und die weitreichenden Folgen für die menschliche | |
| Gesellschaft. | |
| Eine weitere Vertreterin des dystopischen Realismus ist die finnische | |
| Schriftstellerin Emmi Itäranta. Ihr 2014 erschienener Debütroman Das | |
| Gedächtnis des Wassers handelt von den Kämpfen um die immer knapper | |
| werdende Ressource Wasser und beschreibt das autoritäre Regime, das dadurch | |
| entsteht. | |
| Der Wert der Romane von Lunde und Itäranta liegt darin, dass sie | |
| gleichzeitig überraschend und plausibel sind. Ähnlich kann man Cormac | |
| McCarthys berühmten Roman Die Straße verstehen, der 2006 erschien und auch | |
| erfolgreich verfilmt wurde. Kein Werk der Klima-Literatur ist roher und | |
| brutaler. McCarthys realistische Dystopie einer postapokalyptischen Welt | |
| nach einer globalen Umweltkatastrophe ist voll von rücksichtsloser | |
| Grausamkeit und düsterem Nihilismus, in dem nur ganz kleine | |
| Hoffnungsschimmer aufleuchten. | |
| ## Es geht immer stärker um Aktivismus statt um die Apokalypse | |
| Mit der Verschärfung der globalen Klimakrise in den letzten zehn Jahren hat | |
| sich auch das Genre der Klimafilme weiterentwickelt. Die apokalyptischen | |
| Themen, die einst das Feld beherrschten, sind verschwunden; stattdessen | |
| sind realistischere und engagiertere Filme entstanden. Im Genre der | |
| Öko-Aktivismus-Thriller etwa stehen Gruppen und Einzelpersonen im | |
| Mittelpunkt, die einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen und so den | |
| Klimakollaps verhindern wollen. | |
| Ein Beispiel dafür ist der Film First Reformed aus dem Jahr 2017. | |
| Protagonist ist ein Pastor der niederländisch-reformierten Kirche, der in | |
| eine Glaubenskrise gerät, als es ihm nicht gelingt, einen radikalen | |
| Umweltschützer namens Michael am Selbstmord zu hindern. Je mehr er sich mit | |
| den Gründen für Michaels Handeln befasst, desto mehr radikalisiert sich der | |
| Pastor. Schließlich zieht er eine Sprengstoffweste an, um lokale Eliten mit | |
| Verbindungen zur fossilen Brennstoffindustrie in die Luft zu jagen. | |
| Um Radikalisierung geht es auch in dem Öko-Aktivismus-Thriller How to Blow | |
| Up a Pipeline. Er basiert auf dem gleichnamigen Sachbuch des schwedischen | |
| Intellektuellen Andreas Malm. [9][Malm argumentiert], dass der Ernst des | |
| Klimawandels und das Scheitern des gewaltfreien Aktivismus einen aktiveren | |
| Ansatz erfordert, nämlich, Infrastruktur für fossile Brennstoffe zu | |
| sabotieren. Der Film begleitet eine kleine Gruppe von Aktivist:innen | |
| bei ihrem Versuch, eine Pipeline mit einer selbst gebastelten Bombe zu | |
| sprengen. | |
| Der Roman Die Wurzeln des Lebens des amerikanischen Autors Richard Powers, | |
| der 2019 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, stellt ebenfalls | |
| Menschen in den Mittelpunkt, die zu Aktivist:innen werden. Dabei wählt | |
| er aber einen anderen Ansatz: Das Buch ist eine [10][Hymne auf die erhabene | |
| Schönheit der Natur] – und gleichzeitig ein Klagelied über das Versagen der | |
| Menschheit. | |
| ## Utopien, die vor Verzweiflung schützen können | |
| Betrachtet man die Geschichte der fiktionalen Verarbeitung des | |
| Klimawandels, so lässt sich eine klare Entwicklung von den | |
| postapokalyptischen Themen der 1960er Jahre hin zu einem realistischeren | |
| und engagierteren Ansatz in den letzten Jahren erkennen. Die Zukunft des | |
| Genres könnte darin liegen, realistische Utopien zu erzählen, wie die Werke | |
| des Autors Kim Stanley Robinson zeigen. | |
| Robinson ist seit vielen Jahren [11][einer der wichtigsten Namen] in der | |
| Klima-Literatur. Sein 2020 erschienener Roman Das Ministerium für die | |
| Zukunft zeichnet eine Welt, in der die Menschheit die Ziele des Pariser | |
| Abkommens zwar verfehlt, aber dennoch ihr Bestes tut, um den Klimakollaps | |
| durch verstärkte Zusammenarbeit und politisches Handeln zu bewältigen. | |
| Damit ist der Roman exemplarisch für diesen neuen Ansatz der realistischen | |
| Utopien. Statt in apokalyptischen Landschaften zu schwelgen, erforscht | |
| Robinson das menschliche Potenzial für politisches Handeln und sucht nach | |
| postkapitalistischen Alternativen, die es ermöglichen, Klima- und | |
| Umweltkrisen demokratisch und kooperativ zu lösen. | |
| Robinsons Werk ermutigt uns, uns eine bessere Zukunft vorzustellen und | |
| aktiv darauf hinzuarbeiten, anstatt uns der Verzweiflung über eine | |
| unvermeidliche Apokalypse hinzugeben. Auf diese Weise ebnet der Roman den | |
| Weg für zukünftige Werke, für die Geschichten, die wir erzählen und denen | |
| wir zuhören müssen. | |
| Martin Vrba ist Klimaredakteur bei der tschechischen Nachrichtenplattform | |
| Alarm und schreibt im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms IJP für die | |
| taz. Die Recherche zu diesem Text wurde durch ein Mentoringprogramm von | |
| Free Press Unlimited und E3J begleitet. | |
| 22 May 2023 | |
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